Am 10. Mai hat das Europäische Parlament
grünes Licht für den viele Jahre diskutierten
europäischen Rechts- und Wettbewerbsrahmen
für den öffentlichen Nahverkehr
gegeben. Fazit: Der von den einen erhoffte,
von den anderen befürchtete Umbruch
bei Bahnen und Bussen wird ausbleiben.
Durchgesetzt haben sich die Besitzstandsinteressen
der fest im Sattel sitzenden
Verkehrsunternehmen. Das ursprüngliche
Ziel, durch mehr Wettbewerb und Finanzierungstransparenz
überkommene verkrustete
Strukturen im öffentlichen Verkehr
aufzubrechen und damit Bussen und Bahnen
in der EU mehr Schwung zu verleihen,
ist weitgehend auf der Strecke geblieben.
Seit über einem Jahrzehnt ist die Modernisierung
des europäischen Rechtsrahmens
für öffentliche Verkehrsdienstleistungen
mit Bahnen und Bussen diskutiert worden.
Lange Zeit verfolgte die europäische Kommission
das Ziel der regulierten Liberalisierung
des Marktes. Öffentlicher Nahverkehr
ist in der Regel nicht kostendeckend zu betreiben,
Geld verdienen kann man damit
nicht – nur mit Hilfe öffentlicher Subventionen,
die in großem Umfang fließen.
Regulierter Wettbewerb als Ziel
Ziel war daher auch nie eine völlige Liberalisierung
des Nahverkehrsmarktes mit einem
freien Wettbewerb um die Fahrgäste nach
britischem Vorbild. Verfolgt wurde das Ziel
des regulierten Wettbewerbs, wie er seit
einem guten Jahrzehnt in Skandinavien
praktiziert wird: Die öffentliche Hand bestimmt,
welches Nahverkehrsangebot sie
haben und welche Mittel sie dafür aufwenden
möchte. Diese Subventionen werden
aber nicht mehr nach Großvaterrechten
an bestimmte Unternehmen ausgereicht,
sondern sind allen interessierten Unternehmen
in der Form der Ausschreibung von
öffentlichen ÖPNV-Aufträgen zugänglich.
Zum Zuge kommt der Anbieter mit dem
besten Preis-Leistungsverhältnis.
Auch die Grünen haben sich stets für
eine solche Reform eingesetzt, um frischen
Wind in verkrustete Strukturen der ÖPNVBranche
zu bringen. Mehr Wettbewerb und
Effizienz in der Leistungserstellung kann
im Rahmen eines solchen kontrollierten
Wettbewerbs deutliche Verbesserungen
für das ÖPNV-Angebot und die Fahrgäste
bringen. Denn Wettbewerb belebt das Geschäft.
Dies belegen die Erfahrungen aus
Skandinavien.
Doch die Lobbyisten der Verkehrsunternehmen,
die den Markt unter sich aufgeteilt
haben – von den Staatsbahnen über
die gewichtigen kommunalen Verkehrsbetriebe
bis zu den privaten Busunternehmen
mit Jahrzehnte alten Exklusivrechten – ist
mächtig. Und so bedurfte es mehrerer Anläufe
der Kommission, bis im Jahr 2005 ein
vermeintlicher Konsensentwurf vorgelegt
wurde.
Dieser Konsensentwurf kam vor allem
der Forderung des europäischen Parlaments
nach, insbesondere den kleinen
Kommunen das Wahlrecht einzuräumen,
Verkehrsleistungen auch außerhalb des
Wettbewerbs an ihre eigenen städtischen
Verkehrsunternehmen vergeben zu können.
Im Gegenzug sollte der Grundsatz gelten:
Solche direkt beauftragten kommunalen
Unternehmen dürfen nicht an anderer
Stelle aus ihrem geschützten Heimatmarkt
heraus an wettbewerblichen Vergaben teilnehmen.
Auch für die Grünen war dieser gespaltene
Markt ein tragbarer Kompromiss zwischen
grundsätzlicher Wettbewerbspflicht und der
Option der Kommunen zur Eigenproduktion
von Nahverkehrsdienstleistungen.
Mageres Ergebnis nach vielen Jahren
Im Weiteren verfolgten die nationalen Regierungen
jedoch erfolgreich als einziges
Ziel, der Verordnung so viele Zähne zu ziehen,
dass alles bleiben kann, wie es ist. In
besonderer Weise hat sich dabei der deutsche
Verkehrsminister zum Sprachrohr der
Interessen der etablierten Verkehrsunternehmen
gemacht, die frischen Wind und
Konkurrenz fürchten.
Im Kompromissvorschlag von Verkehrsministerrat
und europäischer Kommission
aus dem Jahr 2006 sind die Grundsätze der
Öffnung des Marktzugangs, der Finanzierungstransparenz
und des Wettbewerbs
um öffentliche Aufträge bis an die Grenze
der Unkenntlichkeit durchlöchert:
- Die Pflicht zur Vergabe öffentlicher Aufträge
im Wettbewerb wurde nicht nur bei
Leistungserbringung durch kommunale
Verkehrsunternehmen aufgehoben, sondern
auch für den gesamten Eisenbahnnahverkehr
sowie für sämtliche Aufträge
bis zu einem Volumen von 1 Mio. Euro/
Jahr, im Fall der sogenannten Kleinen und
Mittleren Unternehmen (KMU) sogar bis
zu 2 Mio. Euro/Jahr. Damit können 90 Prozent
des gesamten Nahverkehrsmarktes
dem Wettbewerb entzogen werden. Es
wird also eine europäische Regelung zur
Wettbewerbsvergabe eingeführt, die nur
für wenige Fälle verbindlich ist.
- Im Fall der Direktvergabe ohne Konkurrenz
und Wettbewerbspreise besteht
keine Verpflichtung, dass das beauftragte
Unternehmen nur mit den Durchschnittspreisen
der Branche vergütet
werden darf. Damit fällt die Verordnung
hinter die bisherige Rechtsprechung
des Europäischen Gerichtshofs (Vergütungsbasis
dürfen nur die „Kosten eines
durchschnittlichen, gut geführten Unternehmens“
sein) zurück. Überteuerte
Preise und Ineffizienz im ÖPNV zulasten
der Fahrgäste dürfen also weiterhin mit
Steuergeldern subventioniert werden.
- Die Grenzwerte für die Direktvergabe
von Verkehrsleistungen an private KMU
liegen bei einer Vertragslaufzeit von
8 Jahren bei insgesamt 16 Mio Euro und
damit bei dem Sechzigfachen des gewöhnlichen
Schwellenwerts für die EUweite
Ausschreibungspflicht öffentlicher
Aufträge. Die vorhandenen Betreiber
– egal ob öffentlich oder privat – werden
einen erheblichen Druck aufbauen, um
die öffentlichen Auftraggeber zur exklusiven
Auftragsvergabe zu bewegen.
Indem die Verordnung ein „Buhlen“ um
Direktvergabe zulässt, eröffnet sich eine
Grauzone der „Umfeldbedingungen und
Koppelgeschäfte“, die letztlich Bestechung
und Korruption Tür und Tor öffnet.
- Zwar tritt die Verordnung nach zwei Jahren
in Kraft, daran schließt sich jedoch
eine Übergangszeit von 10 Jahren an, bis
alle Aufträge nach den Anforderungen
der neuen Verordnung vergeben sein
müssen.
Die lange ersehnte Rechtssicherheit für
das Handeln der öffentlichen Verwaltungen
zugunsten des ÖPNV stellt die Verordnung
nicht her, da auch künftig verschiedene
Vergaberegelen (allgemeines
Vergaberecht und spezielles ÖPNV-Vergaberecht)
nebeneinander stehen und
somit weiterhin keine klaren Spielregeln
gelten.
Positiv bewerten kann man lediglich die
ab 2009 in Kraft tretenden einheitlichen
Transparenz- und Berichtspflichten über
die Vergaben und die Finanzierung des öffentlichen
Verkehrs.
Die deutsche Rolle in Brüssel
Die nun verabschiedete Verordnung wird
dem öffentlichen Nahverkehr mit Bahnen
und Bussen von europäischer Ebene aus
keinen neuen Rückenwind verleihen. Die
Kommission ist mit ihrem Reformwillen
gescheitert. Die Verordnung stellt den
kleinsten gemeinsamen Nenner der Nationalstaaten
dar. Und ihnen war offensichtlich
daran gelegen, sich nicht in die Suppe
spucken zu lassen. Die Interessen der
etablierten Verkehrsunternehmen, ob nun
privat, kommunal oder staatlich, mit ihren
vielen großen oder kleinen Monopolen
wiegen offensichtlich schwerer als das Ziel
eines effizienten und verbesserten
Nahverkehrs mit Bahnen und Bussen. „Verkrustete
Strukturen“ (Münchens Oberbürgermeister
Christian Ude) werden damit nicht aufgebrochen.
Wie bei der Privatisierung der Deutschen
Bahn hat der deutsche Verkehrsminister
Wolfgang Tiefensee auch bei der Gestaltung
des europäischen Rechtsrahmens für
den öffentlichen Nahverkehr eine unrühmliche
Rolle gespielt. So brüstete er sich nach
dem Ministerratskompromiss im Sommer
2006, dafür gesorgt zu haben, „das bewährte
deutsche ÖPNV-System“ bis ins Jahr 2022
gerettet zu haben. Statt eigenen Gestaltungswillen
zu zeigen, macht er sich zum
Kofferträger der Unternehmenslobbyisten.
Was wird aus dem Nahverkehr in Berlin?
Die großzügigen Möglichkeiten zur Direktvergabe
an das eigene Verkehrsunternehmen
eröffnet auch in Berlin die Möglichkeit,
alles beim Alten zu belassen. Dass der
Senat „ohne Zwang aus Brüssel“ von sich
aus die Kraft hat zu mehr Wettbewerb im
ÖPNV, darf bezweifelt werden. Somit wird
auch der Druck auf die BVG nachlassen, ein
konkurrenzfähiges Verkehrsunternehmen
mit einem verbesserten Preis-Leistungs-
Verhältnis für die Fahrgäste zu werden. Im
Gegenzug wird es der BVG allerdings nicht
mehr möglich sein, aus dem geschützten
Heimatmarkt heraus außerhalb Berlins im
Wettbewerb gegen andere Unternehmen
anzutreten.
Zu welchen Entwicklungen fehlender
Wettbewerb führen kann, zeigt das Beispiel
der Berliner S-Bahn. Hohe Millionengewinne
aus Steuergeldern und Fahrgeldeinnahmen
ermöglichen der Deutschen Bahn
„Quersubventionierungen“ ihrer SPNV-Angebote
in anderen Bundesländern, Einkaufstouren
auf dem Weltmarkt und eine
Aufbesserung der Bilanzen für den von ihr
angestrebten Börsengang.
Auch künftig müssen Berlin und Brandenburg
die S-Bahn nicht ausschreiben
– aber sie können. Denn das ist weder durch
deutsches noch durch europäisches Recht
verboten! Michael Cramer, MdEP
Verkehrspolitischer Sprecher der Fraktion Grüne/EFA im Europäischen Parlament
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