Die immer stärker aufkommende Diskussion
um Verbesserungen im Eisenbahnfernverkehr
zeigt verschiedene Bedarfsvarianten
auf. Einerseits werden Forderungen nach
einem “Deutschland-Takt” und anderseits
für ein “Fernverkehrsgesetz”
erhoben. Das sind alles richtige Ansätze, und der
Deutsche Bahnkunden-Verband e. V. (DBV) kann sich diesen Forderungen
durchaus anschließen. Allerdings greifen
alle Konzepte, die derzeit in der Diskussion sind, aus
ökonomischen Gründen und wegen begrenzter
Ressourcen erst mittel- bis langfristig. Es bedarf
jedoch kurz- bis mittelfristiger Maßnahmen, damit
die Fahrgäste auf der Bahn gehalten
bzw. auf die Bahn geholt werden. Letzteres
wird deutlich schwieriger, wenn sich die
Menschen erst anders eingerichtet haben,
zum Beispiel durch Wohnortverlegung oder
Autokauf.
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Dessau (oben), Zittau (unten) und viele andere vom DB-Fernbahnverkehr abgekoppelte Städte sollen gemäß DBV-Fernbahnkonzept künftig wieder mit Fernzügen angefahren werden. Fotos: Christian Schultz |
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Seit nunmehr einem Jahr hat der DBV
über seine Organisationen bundesweit die
Bedürfnisse für eine Grundversorgung im
Bahn-Fernreiseverkehr ermittelt. Daraus
erwuchsen mehr als 200 Vorschläge von
Fern-Direktverbindungen als Ausgleich für
weggefallene frühere Zugleistungen und
Produkte von DB, DR und DB AG sowie bedarfsorientierte
Einzelangebote zur Ergänzung
des vorhandenen Fernverkehrs als
Grundlagen für ein erweitertes Fernbahnnetz,
das aufgrund der Bedarfsfülle sicher
nur schrittweise umgesetzt werden kann.
Aus dem Ergebnis der Erhebungen des
DBV ergaben sich die nachstehenden 20
Grundlagen für das Konzept “Erweitertes
Fernbahnnetz“:
1.
Trotz angestrebtem Wettbewerb sollten
keine parallelen Angebote zu vorhandenen
Leistungen der DB bzw. nichtbundeseigenen
Eisenbahnen (NE), sondern eher
Ergänzungen hierzu entwickelt werden. Bestehende
Angebote (z. B. Tagesrandhalte)
könnten angepasst werden.
2.
Umsteigefreie Fernverbindungen zur Flächenerschließung
(insbesondere auch der
Rand- und Urlaubsgebiete) zur Förderung
des Bahntourismus innerhalb Deutschlands
durch ein- bis zweimal täglich verkehrende
Regelreisezüge und wöchentliche Urlaubsund
Ausflugszüge sind wieder gefragt. Besondere
Aufmerksamkeit sollte den Zugverbindungen
gelten, die das Zusammenwachsen
zwischen den alten und neuen Bundesländern
fördern, z. B. Direktverbindungen
Ostsee—Starnberger See, Berlin—Bayerischer
Wald, Ostfriesland—Vorpommern
oder Lausitz—Schwarzwald. Es werden
auch besondere touristische Relationen
vorgeschlagen wie Zugverbindungen entlang
von Flüssen, z. B.“Elb-Ursprung-Expreß”
von der Elbquelle bei Hohenelbe (CZ) bis zur
Mündung in Cuxhaven oder ein „Alpenquer-
Expreß“ zwischen Basel und Salzburg sowie
Angebote zwischen aktiven Partnerstädten,
z. B. Dresden—St. Petersburg, Mainz—Erfurt.
3.
Durchgehende umsteigefreie Fernzugverbindungen,
ggf. mit verlängerten Fahrtzeiten,
zur Berücksichtigung der besonderen
Belange mobilitätseingeschränkter Reisender
und bedarfsgerechter Reaktion auf die
Auswirkungen des demografischen Wandels
(“Alterspyramide”) wären zeitgemäß.
4.
Viele Reisende vermissen bewährte frühere
Fern-Direktverbindungen von Deutscher
Bundesbahn und Deutscher Reichsbahn,
z. B. FD, IR, IEx, Städte-Ex, die durchaus ihre
Berechtigung hätten, z. B. Berlin—Chemnitz,
Berlin—Regensburg—München.
5.
Umsteigefreie Verbindungen zwischen der
Bundeshauptstadt und den Landeshauptstädten
sowie den Haupt- und Funktionsstädten
Europas. Bei technischen Implikationen,
z. B. Spurwechsel oder Fahrzeugbeschaffenheit,
die eine Durchfahrt nicht möglich
machen, sollte das Ziel mit einmaligem
Umsteigen erreicht werden.
6.
Fernverbindungszüge sollten auch über
Neben(fern-), Güter- oder sporadisch betriebene
Strecken sowie z.T. über Reaktivierungsstrecken
(DB- und NE-Infrastrukturen)
zur Erreichung von Städten und bspw. Touristikgebieten
geführt werden, die nicht am
Fernverkehrs- bzw. regulären Personenverkehrsnetz
angeschlossen sind.
7.
Der Nebenstreckenstandard für die Befahrung
mit Fernzügen sollte bei 80 km/h liegen.
8.
Schließen von landes- bzw. verbundgrenzenbedingten
Lücken zugunsten von Direktverbindungen,
ggf. Verquickung mit
bzw. Verlängerung oder Ersatz vorhandener
Regionalleistungen mit Fernverkehrsangeboten
mittlerer Reiseweiten prüfen.
9.
Fernzüge sollten halten, in
• allen deutschen Großstädten (schwankungsbedingt ab 90 000 Einwohner)
• großen Mittelstädten ab 50 000 Einwohnern für Auslandsreisezüge, ausgenommen vertakteter Ballungsraum- und Stichstreckenverkehr sowie Bahnhöfe mit ausschließlichem S-Bahn-Verkehr
• kleinen Mittelstädten ab 20 000 Einwohnern für Inlandsfernverkehrszüge, in Ostdeutschland ab 15 000 Einwohnern; in
NRW ab 50 000
• Kleinstädten ab 10 000 Einwohnern für vereinzelte Inlandsfernverkehrszüge.
10.
Unabhängig von der Einwohnerzahl müssen auch mit dem Fernverkehr erreichbar sein:
• zielgruppenspezifische, touristisch oder kulturell bedeutende Orte, z. B. Bade-, Wintersport- und Wallfahrtsorte sowie Orten mit besonderen Sehenswürdigkeiten oder Events,
• Städte mit besonderen Funktionen, z. B. Ober- und Mittelzentren, Bezirks- und Kreisstädte, ggf. wesentliche Unterzentren sowie Militärstandorte und Universitätsstädte,
• Umsteigebahnhöfe insbesondere mit einsetzendem Anschlussverkehr.
11.
Zughalte sollten in der Regel einmal im Abstand
von mindestens 25 km angeboten
werden, jedoch nicht zwingend in den Ballungsräumen
mit vertaktetem Verkehrsangebot.
12.
Eine Feinverteilung durch häufigere Halte in
der Quell- und Zielregion sowie in den Tagesrandlagen,
ggf. auch in Ballungsräumen,
ist zu gewährleisten.
13.
Zur optimalen Auslastung einzelner Streckenabschnitte
sollten sich die Beteiligten,
z. B. Aufgabenträger, Bahnen etc., auf mögliche
Verquickungen mit bzw. Aneinanderreihungen
vorhandener Regionalleistungen zu
faktischen Fernbahnangeboten sowie auch
zur Konzipierung von Bogenzugläufen einigen.
14.
In Berlin muss im Fernverkehr der polyzentrischen
Struktur entsprochen werden. Hierbei
sollte verstärkt auf die Durchquerung
der Stadt, insbesondere über die Stadtbahn,
mit grundsätzlichem Halt auf allen Fernund
Regionalbahnhöfen gesetzt werden.
Die Wiederanbindung der City West an den
Fernverkehr mit Systemhalt am Bahnhof
Berlin Zoologischer Garten ist ein wesentlicher
Kundenwunsch in Berlin.
15.
Fahrscheine sollten für eine durchgehende
Reisekette (eventuell TBNE- bzw. Verbundtarife)
ausgegeben werden. Umsteigefreie
Direktverbindungen sind geboten, um Tarifunterschiede
bei Umsteigeverbindungen
so gering als möglich zu halten.
16.
Eine wesentliche Forderung richtet sich an
die Ermöglichung der Fahrradmitnahme,
auch im Fernverkehr. Außerdem erforderlich:
Bordservice (Speisen und Getränke), 1.
und 2. Wagenklasse sowie höheres Platzangebot
insbesondere zur Beförderung mobilitätseingeschränkter
Reisender.
17.
Aktive Vermarktung des Zugangebots, z. B.
Herausgabe eines gemeinsamen Fahrplans
durch Zusammenarbeit mit Verkehrsverbänden
und -unternehmen, sind dringend
geboten.
18.
Die Bahnen sollten sich auf die Öffnung des
freien grenzüberschreitenden Bahnverkehrs
ab 2010 in der Europäischen Union
einstellen.
19.
Zu zahlreichen Relationen der aufgeführten
Vorschläge gibt es keine Erhebungen oder Erfahrungswerte
oder gar Ergebnisse standardisierter
Bewertungsverfahren. Hier muss ggf.
der Probebetrieb über ein Jahr Aufschluss
über die Akzeptanz als Grundlage zur Entscheidung
für ein dauerndes Angebot geben.
20.
Die Einführung des Fernbus-Linienverkehrs
wird aus Wettbewerbs- und Sicherheitsgründen
weitgehend abgelehnt. Noch geltende
teilungsbedingte Ausnahmeregelungen
(z. B. Linienverkehr zwischen dem ehem.
Berlin (West) und den Alt-Bundesländern)
dürfen nicht mehr erneuert werden.
Erfreulich ist, dass einige der Vorschläge nach
einem Gespräch am 1. September 2009 zwischen
DB-Personenverkehrs-Vorstand Ulrich
Homburg und den DBV-Bundesvorstandsmitgliedern
Gerhard J. Curth und Christian
Schultz bereits aufgegriffen wurden und in
den Jahresfahrplan 2009/10 eingeflossen
sind. DB-Chef Grube und DBV-Präsident
Curth verständigten sich bei ihrem Gespräch
am 29. Januar 2010 auf eine gemeinsame Arbeitsgruppe
zur Auswertung des Konzepts
„Erweitertes Fernbahnnetz“. Neben der DB
haben sich bereits das Land Sachsen-Anhalt,
das Sächsisch-Bayerische Städtenetz, in dem
die Städte Chemnitz, Zwickau, Plauen, Hof
und Bayreuth zusammengeschlossen sind,
und die Städtekooperation Sachsen-Anhalt,
mit den Städten Dessau-Roßlau, Halle, Köthen,
Magdeburg und Naumburg mit dem
Konzept beschäftigt und ergänzende Vorschläge
erarbeitet. Im März 2010 wird der
DBV das Konzept abschließen und in seinen
Gremien verabschieden. Danach erfolgen die
Erörterungen mit anderen Spitzenverbänden,
Ländern, Kommunen und Bahnen. Deutscher Bahnkunden-Verband
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