Karlsruhe, den 8. Februar 2011. Der Bundesgerichtshof
hat in einem vergaberechtlichen
Nachprüfungsverfahren nach dem Gesetz
gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB)
den Nachprüfungsantrag eines Wettbewerbers
der DB Regio NRW GmbH (DB Regio) für
begründet erklärt.
2004 hatten der Verkehrsverbund Rhein-
Ruhr (VRR) und DB Regio einen Verkehrsvertrag
geschlossen. Dieser Vertrag verpflichtete
DB Regio zu
Verkehrsleistungen im Schienenpersonennahverkehr
(SPNV) über anfänglich
44 Millionen Zugkilometer. Im Fahrplanjahr
2003/2004 entfielen davon ca. 26 Millionen
Zugkilometer auf Regional-Express bzw. Regionalbahn-
Leistungen und ca. 18 Millionen
Zugkilometer auf S-Bahn-Leistungen. Anders
als die S-Bahn-Leistungen sollten die RE- und
RB-Leistungen während der Vertragslaufzeit
teilweise abgebaut und insoweit jeweils neu
im Wettbewerb vergeben werden. Bis Anfang
2009 waren dementsprechend rund 7 Millionen
Zugkilometer aus dem Vertrag herausgelöst
worden. DB Regio hatte sich im Verkehrsvertrag
zur Erneuerung ihres Fahrzeugparks,
insbesondere zur Beschaffung von 84 neuen
S-Bahn-Zügen verpflichtet, wovon die letzten
bis Ende 2010 eingesetzt werden sollten.
Nach dem Verkehrsvertrag erhält DB Regio
die Fahrscheinerlöse. DB Regio bezieht
außerdem über den VRR einen Zuschuss pro
gefahrenen Zugkilometer. Die dafür erforderlichen
Geldmittel erhält der VRR vom Land
Nordrhein-Westfalen auf der Grundlage des
nordrheinwestfälischen Gesetzes über den
öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNVG
NRW). Aufgrund des Regionalisierungsgesetzes
erhält das Land Nordrhein-Westfalen
in diesem Zusammenhang überwiegend für
die Finanzierung des öffentlichen Personennahverkehrs
vorgesehene Bundeszuwendungen.
Für den Fall, dass sich diese Mittel
reduzieren, enthält der Verkehrsvertrag eine
Revisionsklausel, nach der der VRR bei entsprechenden
Mittelkürzungen eine Anpassung
des SPNV-Angebots verlangen kann.
Nachdem die Mittel für Zuwendungen
an die Länder auf der Grundlage des Regionalisierungsgesetzes
2006 gekürzt worden
waren, entstand zwischen dem VRR und DB
Regio Streit über die gegenseitigen Pflichten,
die zur Kündigung des Vertrags durch
den VRR und zu verwaltungsgerichtlichen
Streitigkeiten, aber auch zu Vergleichsverhandlungen
zwischen den Vertragspartnern
führten. Am 24. November 2009 schlossen
der VRR und DB Regio zur Beilegung ihrer
Streitigkeiten einen Änderungsvertrag zum
Verkehrsvertrag. Zu den Regelungen dieses
Änderungsvertrags gehört, dass DB Regio
weitere neue S-Bahn-Fahrzeuge beschafft
und die S-Bahn-Linien S 1 bis S 11 über das
Ende des ursprünglichen Verkehrsvertrags
hinaus bis Dezember 2023 bedient.
Abellio Rail NRW GmbH (Abellio), ein
Tochterunternehmen der niederländischen
Staatsbahnen, das an der Übernahme des
Betriebs vornehmlich der S-Bahn-Linie 5 ab
Dezember 2018 interessiert ist, meint, die
Übertragung des S-Bahn-Betriebs über den
Zeitraum nach Dezember 2018 hinaus auf DB
Regio sei unwirksam, da der Dienstleistungsauftrag
hätte ausgeschrieben werden müssen.
Sie hat deshalb bei der Vergabekammer
bei der Bezirksregierung Münster ein Nachprüfungsverfahren
eingeleitet. Die Vergabekammer
Münster hat den Änderungsvertrag
für unwirksam erklärt.
Der X. Zivilsenat (Vergabesenat) des Bundesgerichtshofs
hat mit der heute verkündeten
Entscheidung die Entscheidung der
Vergabekammer bestätigt.
Im Vordergrund des Streits stand die Frage,
ob die Unwirksamkeit des Änderungsvertrages
in einem vergaberechtlichen Nachprüfungsverfahren
nach dem Gesetz gegen
Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) überprüft
werden kann oder ob § 15 Abs. 2 des Allgemeinen
Eisenbahngesetzes (AEG) als spezielleres
Gesetz die Einleitung eines solchen
Nachprüfungsverfahrens im Streitfall ausschließt.
Der Bundesgerichtshof hat entschieden,
dass § 15 Abs. 2 AEG nicht unter dem Gesichtspunkt
der Spezialität Vorrang vor den
vergaberechtlichen Bestimmungen des GWB
genießt, sondern vom GWB als dem jüngeren
Gesetz verdrängt wird. Er hat dabei an seine
bisherige Rechtsprechung angeknüpft, wonach
der Anwendungsbereich der vergaberechtlichen
Bestimmungen im Gesetz nach
Vertragsarten und -gegenständen prinzipiell
umfassend bestimmt und der Ausnahmekatalog
in § 100 Abs. 2 GWB – unter den der
S-Bahn-Betrieb nicht fällt – als abschließend
anzusehen ist. Ein gesetzgeberischer Wille
dahin, die Vergabe solcher Leistungen gleichwohl
dem Anwendungsbereich des GWB zu
entziehen, ist der Entstehungsgeschichte der
gesetzlichen Regelung nicht zu entnehmen.
Der Bundesgerichtshof hat weiter entschieden,
dass der Änderungsvertrag keine
Dienstleistungskonzession betrifft, die ebenfalls
dem vergaberechtlichen Nachprüfungsverfahren
entzogen wäre, sondern einen
Dienstleistungsauftrag. Er hat sich dabei an
die Rechtsprechung des Gerichtshofs der
Europäischen Union angelehnt, wonach für
Dienstleistungskonzessionen charakteristisch
ist, dass der Konzessionär bei der Verwertung
der ihm übertragenen Leistung den
Risiken des Marktes ausgesetzt ist und das
Betriebsrisiko ganz oder zumindest zu einem
wesentlichen Teil übernimmt. Nach diesen
Kriterien liegt eine Dienstleistungskonzession
im Wesentlichen deshalb nicht vor, weil
ein rentabler S-Bahn-Betrieb weitgehend
durch die Zuzahlungen der öffentlichen Hand
gesichert wird, die nach den Angaben von DB
Regio rund 64 % der Gesamtkosten decken
und die Einnahmen aus dem Fahrkartenerlös
somit ganz deutlich übersteigen.
Den somit zulässigen Nachprüfungsantrag
hat der Bundesgerichtshof als auch in der Sache
begründet angesehen, weil Abellio den
Vertragsschluss rechtzeitig vor der Vergabekammer
beanstandet hatte und die Voraussetzungen
des § 4 Abs. 3 Nr. 2 der Vergabeverordnung
(VgV) nicht vorliegen. Nach dieser
Vorschrift dürfen Personennahverkehrsleistungen
ausnahmsweise freihändig vergeben
werden, wenn ein wesentlicher Teil der durch
den Vertrag bestellten Leistungen während
der Vertragslaufzeit ausläuft und anschließend
im Wettbewerb vergeben wird. Die
Laufzeit des Vertrages soll zwölf Jahre nicht
überschreiten. Da die Möglichkeiten dieser
Vorschrift schon mit Abschluss des ursprünglichen
Verkehrsvertrags zwischen dem VRR
und DB Regio ausgeschöpft worden waren,
durften sie jedoch grundsätzlich nicht erneut
genutzt werden. Inwieweit der Umstand, dass
der VRR und DB Regio ihre Streitigkeiten im
Vergleichswege regeln wollten, es dennoch
erlaubt hätte, in einem Änderungsvertrag
die ursprüngliche Vertragsdauer in gewissem
Umfang zu modifizieren, hat der Bundesgerichtshof
offengelassen. Dies wäre nämlich allenfalls
dann zulässig gewesen, wenn gleichzeitig
auch künftiger Wettbewerb durch eine
Ausweitung der während der Vertragslaufzeit
aus dem Vertrag herausfallenden Verkehrsleistungen
gefördert worden wäre.
[Beschluss X ZB 4/10]
Bundesgerichtshof, Pressestelle
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