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Vielstimmiger Protest am Bauzaun gegen Stuttgart 21. Mit dem Beginn der Abrissarbeiten am Nordflügel des Hauptbahnhofs und vor allem unmittelbar vor den Baumfällungen wurden die Auseinandersetzungen härter. Trauriger Tiefpunkt war ein unverantwortlicher Polizeieinsatz mit Wasserwerfern und Pfefferspray am 30. September, bei dem viele Demonstranten verletzt wurden. Foto: Christian Schultz |
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Herausgeber: Bahnprojekt Stuttgart—Ulm, Kommunikationsbüro |
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Zwei von vielen Postkarten, mit denen die Befürworter von Stuttgart 21 werben. Hierbei wird versucht, die Argumente der Gegner aufzugreifen und ihnen nicht zu widersprechen, sondern die „guten Argumente“ gegenüber zu stellen, die angeblich überwiegen. Herausgeber: Bahnprojekt Stuttgart—Ulm, Kommunikationsbüro |
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Das Projekt Stuttgart 21 umfasst die Verlagerung des oberirdischen Hauptbahnhofs in den Tunnel und die unterirdischen Zuführungsstrecken. Trotz Fortfall des Kopfbahnhofs käme es aber zu keinen nennenswerten Fahrzeitverkürzungen auf der transeuropäischen Strecke Paris—Bratislava. Diese gäbe es nur durch die Neubaustrecke Wendlingen—Ulm, dem zweiten Großprojekt mit ebenfalls vielen Bau- und Kostenrisiken, das aber auch ohne Stuttgart 21 realisiert werden könnte. Karte: K. Jähne |
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Immobiliendeal. Auf der Fläche des Hauptbahnhofs soll nach dessen Verlegung in den Untergrund ein neues Baugebiet entwickelt werden. Die Verwertung versprach ein gutes Geschäft, denn die Stuttgarter Innenstadt liegt in einem Talkessel und kann deshalb nicht erweitert werden. Inzwischen aber sind die zu erwartenden Kosten der Veränderungen wesentlich höher als die zu erwartenden Erlöse aus dem Verkauf der Baugrundstücke. Foto: Christian Schultz |
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Empfangsgebäude des unter Denkmalschutz stehenden Stuttgarter Hauptbahnhofs, der vor fast 100 Jahren nach Entwürfen des Architekturbüros Bonatz & Scholer gebaut wurde. In der taz vom 27.10.2010 schrieb Rolf Lautenschläger über den Bahnhof: „Zudem verlangte der beschleunigte Austausch von Menschen, Waren und Gütern zwischen Stadt und Region nach einer städtebaulich veränderten Anbindung des Bahnhofs an die Stadtmitte. Bonatz Idee eines Kopfbahnhofs an der innerstädtischen Hauptachse Stuttgarts, der Königstraße, zielte auf diese Bedürfnisse. Ein hoch funktionaler Nabel Schwabens entstand. (…) Um die innere Nutzung zu entflechten, baute Bonatz eine zentrale Querbahnsteighalle, daneben zwei große Torbauten mit hohen, gewölbeartigen Schalterhallen als Zugänge zu den 16 Fern- beziehungsweise Nahverkehrsgleisen. Tunnel unter den Bahnsteigen erleichterten das Umsteigen. Neu in der Bahnhofstypologie war auch die Multifunktionalität. Der Bahnhof diente zugleich als Postamt, hatte Büros, Expressschalter, ein Restaurant, Läden – und einen Warteraum für den Kaiser. Den asymmetrisch platzierten Turm verstand Bonatz als Landmarke, als dominantes Zeichen des Bahnhofs und seiner Rolle als Stadtkrone.“ Foto: Christian Schultz |
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Der Auslöser für Stuttgart 21 war kein
verkehrspolitisches Konzept, sondern
ein Immobiliendeal, mit dem die Kosten
für die Tieferlegung des Bahnhofs durch
Grundstücksverkäufe aufgebracht werden
sollten.
EU gibt kein Geld für Bahnhofsneubau
Auch wenn Bundeskanzlerin Angela Merkel,
Baden-Württembergs Ministerpräsident
Stefan Mappus und Stuttgarts Oberbürgermeister
Wolfgang Schuster immer wieder
das Gegenteil behaupten: Das Europäische
Parlament hat sich nie für das Bahnhofsprojekt
Stuttgart 21 ausgesprochen, es genießt
deshalb auch keine Rückendeckung durch
die EU. Das gilt auch für die EU-Kommission.
Als Reaktion auf Falschmeldungen in
Deutschland stellte Verkehrskommissar
Siim Kallas im Oktober 2010 klar: „Für die
Kommission ist die Verbindung zwischen
Paris und Bratislava sehr wichtig. Dieser Korridor,
der Teil der Transeuropäischen Netze
ist, stellt für die Kommission ein vorrangiges
Projekt dar. Nichtsdestotrotz sind Entscheidungen
über die Größe oder die Art der
entlang der Strecke zu bauenden Bahnhöfe
eine Angelegenheit der Mitgliedstaaten, in
diesem Fall Deutschlands.“
Kallas bekräftigte damit die bereits seit
Jahren von der Europäischen Kommission
verfolgte Linie, die der für das transeuropäische
Projekt Nr. 17 zuständige EU-Koordinator,
der Ungar Péter Balázs, bereits am
2. Dezember 2008 vor dem Europäischen
Parlament unmissverständlich klargestellt
hatte: „Die Schiene gehört zu den TENProjekten,
die Bahnhöfe sind eine nationale
Angelegenheit.“ Das ergibt sich auch aus
den im EU-Haushalt vorgesehenen Kofinanzierungsmitteln
für den Zeitraum 2007 bis
2013, wo für die Neubaustrecke Stuttgart—
Wendlingen eine Kofinanzierung in Höhe
von 114,47 Millionen Euro und für die Neubaustrecke
Wendlingen—Ulm von 101,45
Millionen Euro vorgesehen ist. Das ergibt
für die Strecke Stuttgart—Ulm zusammen
215,92 Millionen Euro EU-Gelder.
Ausdrücklich gibt es keine EU-Kofinanzierung
für den Umbau des Bahnhofs. Dies
stellte die Kommission erst kürzlich in der
Antwort auf eine Anfrage der Europaabgeordneten
Sabine Wils klar. Darin steht
unmissverständlich: „Nach dem Subsidiaritätsprinzip
wird die Entscheidung, welches
die am besten geeignete Strategie für den
Bau des Abschnitts Stuttgart—Ulm des PP-
17 ist, dem Mitgliedsstaat überlassen. Die
Kofinanzierung der EU wurde auf die Verbindung
Stuttgart—Ulm als Teil des PP-17
beschränkt. Somit wurde der neue unterirdische
Hauptbahnhof von einer TEN-V-Finanzierung
ausgeschlossen.“
Bereits vor drei Jahren hatte EU-Koordinator
Péter Balázs in seinem Tätigkeitsbericht
für den Zeitraum 2006/2007 ebenfalls
eindeutig Position bezogen: „Es ist
darauf hinzuweisen, dass die Bezeichnung
‚Stuttgart 21‘ zu Verwirrung führen kann.
Diese Bezeichnung wird üblicherweise für
das Projekt des neuen Stuttgarter Hauptbahnhofs
verwendet, allerdings wird auch
der Abschnitt vom neuen unterirdischen
Durchgangsbahnhof zum Flughafen und
nach Wendlingen so genannt. ‚Stuttgart
21‘ und ‚Wendlingen—Ulm‘ bilden gemeinsam
eine neue Hochgeschwindigkeitsstrecke
[…]. Eine eventuelle Kofinanzierung
durch die Gemeinschaft kann
sich nicht auf die Errichtung des Bahnhofs
selbst erstrecken. Allenfalls können die
mit der Errichtung der Linie unmittelbar
in Zusammenhang stehenden Kosten kofinanziert
werden, also der sogenannte
Schienenanteil. […] In Anbetracht der begrenzten
Finanzmittel für die Entwicklung
des transeuropäischen Verkehrsnetzes
sind die Bahnhöfe und alle dazugehörigen
Infrastrukturen von den kommunalen,
regionalen und nationalen Behörden
selbst zu finanzieren.“ Die begrenzten EUFinanzmittel
sind auch der Grund, dass die
knapp 216 Millionen Euro EU-Gelder für
die Strecke Stuttgart—Ulm ein Fixbetrag
sind, der nicht erhöht werden kann. Das
hat EU-Koordinator Péter Balázs mehrmals
klargestellt.
Zum Vergleich: Die offiziellen Kostenschätzungen
für Stuttgart 21 liegen derzeit
bei gut 4 Milliarden Euro und für die
Neubaustecke Wendlingen—Ulm bei
3 Milliarden Euro. Unabhängige Fachleute
gehen jedoch von deutlich höheren Kosten
aus.
Bürgerproteste keinesfalls chancenlos
Es ist erfreulich, dass sich in Stuttgart so viele
für eine intelligente Lösung für das Stuttgarter
Schienennetz einsetzen und einen Stopp
für das Projekt Stuttgart 21 fordern, weil dabei
die Interessen der Fahrgäste, der Anwohner
und der Steuerzahler auf der Strecke bleiben.
Bürgerproteste konnten schon andere
unsinnige Projekte ausbremsen:
- Der Transrapid Berlin—Hamburg war
schon planfestgestellt, Brücken schon
erweitert. Er wurde gestoppt, nachdem
die wahren Kosten ans Licht kamen. Auch
Hartmut Mehdorn wollte ihn nicht mehr.
Denn am Anfang seiner Zeit als Bahnchef
konnte er noch rechnen.
- Der Transrapid im Ruhrgebiet schien beschlossene
Sache. Trotzdem wurde er verhindert.
- Der Transrapid in München, der die Landeshauptstadt
nach Edmund Stoibers
Vorstellungen in die Mitte der Welt katapultieren
sollte, schwebte ins Museum –
und da gehört er hin!
Im Museum soll auch Stuttgart 21 bewundert
werden können. Angesichts der Bürgerproteste
werden Erinnerungen wach an
den Widerstand, den die Bürgerinnen und
Bürger im Ländle vor 35 Jahren leisteten. Damals
war die Protestbewegung gegen das
Kernkraftwerk Wyhl bei Freiburg im Breisgau
ein Vorbild für die gesamte westdeutsche
Antiatomkraftbewegung.
Der Erfolg des damaligen Protestes –
Wyhl wurde nie gebaut – hat gezeigt, dass
unverantwortliche Entscheidungen der Politik,
auch wenn sie in den Parlamenten mit
Mehrheit beschlossen wurden, gegen den
Widerstand der Bevölkerung nicht durchzusetzen
sind.
Die Befürworter von Stuttgart 21 versuchen,
die Bürgerproteste als undemokratisch,
als bloße Ablehnung des unvermeidbaren
Fortschritts darzustellen. Das ist heute so
falsch wie damals bei Wyhl. Was die Gegner
von Stuttgart 21 fordern, ist echter Fortschritt
und keine als Verkehrsprojekt deklarierte Immobilienspekulation,
von der nur die Immobilien-
und Baulobby profitiert, nicht aber die
umweltbewussten Fahrgäste der Eisenbahn.
Auch die DB AG kennt die betrieblichen Risiken
und Nachteile in den unterdimensionierten
Tunnelanlagen zwischen Hauptbahnhof
und Wendlingen und unterstützt Stuttgart 21
nur deshalb, weil der einstige Bahnchef Hartmut
Mehdorn für den Börsengang der Bahn
die Zustimmung von Baden-Württemberg
brauchte. Der Börsengang ist geplatzt, jetzt
muss auch die „Stuttgart 21-Blase“ platzen.
Die Erfahrung von Wyhl sollte Mut machen,
dass auch das Milliardengrab Stuttgart 21
noch verhindert werden kann.
Wir brauchen im 21. Jahrhundert eine
Verkehrspolitik, die Mobilität sichert und
das Klima schützt. Und die Erfolge müssen
schnell sichtbar sein, weil die Natur auf zögerliche
Menschen keine Rücksicht nimmt.
Stuttgart 21 darf nicht isoliert als einzelnes
Projekt gesehen werden. Stuttgart 21 steht
stellvertretend für eine Verkehrspolitik, die
derartigen in Beton gegossenen Politiker-
Denkmälern die oberste Priorität gewährt.
Die drei Großprojekte
- Stuttgart 21 (neuer unterirdischer Hauptbahnhof
und Neubaustrecke Stuttgart—
Wendlingen),
- Neubaustrecke Wendlingen—Ulm und
- „VDE 8.1/8.2“ (Neu- und Ausbaustrecke
Nürnberg—Leipzig/Halle durch den Thüringer
Wald als Teil des Verkehrsprojektes
Deutsche Einheit Nr. 8)
verschlingen einen Großteil der Gelder, die
in anderen Bereichen um ein Vielfaches
wirkungsvoller eingesetzt werden könnten.
Allein 70 Prozent der Neu- und Ausbaumittel
für die Schiene in den nächsten 10 Jahren
sind für diese drei Großprojekte verplant –
und dann sind sie mit Sicherheit noch nicht
einmal fertig.
Im Interesse eines Höchstgeschwindigkeitswahns
wurden seit der Bahnreform
1994 mehr als 20 Milliarden Euro in das Fernverkehrsnetz
investiert. Trotzdem stagniert
der Anteil der Eisenbahn im Fernverkehr bei
lediglich 7 Prozent.
Der Fahrgastzuwachs liegt im Nahverkehr,
obwohl in dessen Netz zu wenig investiert
wurde. Auch bei Stuttgart 21 wird er geschwächt
und nicht gestärkt! Milliarden
werden vergraben, um einen Engpass zu
schaffen, wobei der Güterverkehr noch ignoriert
wird. Dabei könnte man mit einem
Bruchteil dieses Geldes die bestehende Trasse
Stuttgart—Ulm ausbauen und die Fahrzeit
verkürzen.
Übrigens war die Fahrt von Stuttgart über
Ulm nach München 1995 noch 15 Minuten
kürzer als heute. Und damals gab es noch
nicht die Pendolino-Technik. Das heißt:
Ganz ohne Milliardeninvestitionen, lediglich
mit der notwendigen Instandhaltung,
kann die Fahrzeit auf dieser Strecke kürzer
werden. Nicht erst übermorgen, sondern
schon jetzt!
Stuttgart-21-Gelder für Tunnel
in Offenburg nutzen
Und wo könnten die für Stuttgart 21 vom
Land Baden-Württemberg zur Verfügung
gestellten 2 Milliarden Euro einen viel höheren
Nutzen haben? Dazu gibt es viele Beispiele,
aber ich will nur ein einziges nennen.
Für den wichtigsten europäischen Eisenbahnkorridor
Rotterdam—Emmerich—
Oberhausen—Mannheim—Karlsruhe—
Basel—Genua (TEN-Projekt 24) fehlt dem
Bund das Geld, obwohl sich die Bundesrepublik
Deutschland vertraglich zum Ausbau
verpflichtet hat. Hier verletzt Deutschland
also die unterzeichneten Verträge. Während
in der Schweiz der Lötschberg-Tunnel fertig
ist und der Durchbruch beim Gotthard-
Tunnel gerade gefeiert wurde, gibt es in
Deutschland für die Rheinschiene noch immer
keinen Planfeststellungsbeschluss.
Es geht nicht voran, u. a. weil in Baden-
Württemberg mitten durch die Stadt Offenburg
rücksichtslos der Güterverkehr geführt
werden soll. Dagegen wehren sich die Menschen.
Sie sind nicht gegen das Projekt an
sich. Sie wehren sich gegen 6 Meter hohe
Lärmschutzwände in ihrer Stadt, und sie
können nicht verstehen, dass die Mehrkosten
für eine menschengerechte Alternative,
einen Tunnel, angeblich nicht finanzierbar
sind, aber in Stuttgart Milliardensummen
keine Rolle spielen.
Nicht nur im Interesse der Einwohner der
badischen Stadt Offenburg, auch im Interesse
des wichtigsten Eisenbahnkorridors in
Europa und nicht zuletzt im Interesse der
Vertragstreue von Deutschland sollte Stuttgart
21 aufgegeben und in Offenburg keine
„Berliner Mauer“ gebaut, sondern „Baden 21“
realisiert werden. Michael Cramer, MdEP
Verkehrspolitischer Sprecher der Fraktion Die Grünen/EFA
im Europäischen Parlament
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