Die Berliner S-Bahn liegt uns allen am Herzen. Die vergangenen Monate, in denen
der S-Bahn-Betrieb ins völlige Chaos rutschte, haben tiefe Spuren hinterlassen. Auch
wenn sich Stück für Stück die Lage entspannt, sind wir noch mehrere Monate, wenn
nicht gar Jahre von einem zuverlässigen Normalbetrieb entfernt. Wir dürfen jetzt
nicht zur Tagesordnung übergehen. Strukturelle Veränderungen müssen in Gang
gesetzt werden, damit die Fahrgäste, die Beschäftigten der S Bahn, die Wirtschaft, ja,
damit die Bewohner der Länder Berlin und Brandenburg solche Zustände nicht ein
weiteres Mal erleiden müssen. Diese Denkschrift soll die herausragende Bedeutung
der Berliner S-Bahn aufzeigen, in der Vergangenheit und der Gegenwart. Wie die Zukunft
aussieht, darüber muss jetzt entschieden werden. Für die Diskussion darüber
soll diese Denkschrift eine Grundlage bieten.
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Wohin steuert die S-Bahn? Foto: Marc Heller |
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1. Berliner S-Bahn am Scheideweg
„Die Berlinerinnen und Berliner lieben ihre
S-Bahn. Nicht ohne Grund: Sie sind mit ihr bereits
durch dick und dünn gefahren.“ (Quelle:
S-Bahn Berlin GmbH, Selbstdarstellung)
Im S-Bahn-Krisenjahr 2009 ist die Liebe
der Bewohner der Hauptstadtregion und
der vielen in- und ausländischen Gäste zur
S-Bahn deutlich abgekühlt. Die Fahrgäste
haben ihr Vertrauen in die Zuverlässigkeit
der S-Bahn durch die eklatanten Qualitätsmängel
verloren. Das hervorragende Image
des Öffentlichen Personennahverkehrs
in der Hauptstadt hat weltweit Schaden
genommen. Hier muss nachhaltig wieder
Vertrauen aufgebaut werden. Gleichzeitig
muss das hohe Qualitätsniveau wieder erreicht
werden, das die
S-Bahn noch vor wenigen
Jahren innehatte.
S-Bahn am Tiefpunkt
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Gedrängel an der S-Bahn Foto: VBB |
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Zurückbleiben, bitte! Erste Qualitätsmängel. Foto: VBB |
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Das Jahr 2009 ist geprägt
von einer nie
da gewesenen tiefen
Krise bei der S-Bahn
Berlin. Monatelang
jagte eine Schreckensnachricht
die nächste:
Defekte Bremsen, verschlissene
Bremszylinder,
Zugausfälle in
zuvor ungeahntem
Ausmaß, brennende
Wagen, Züge, die aus
dem Gleis springen. Im
Ergebnis mussten drei
Viertel der gesamten
Fahrzeugflotte wegen
massiver Sicherheitsmängel
wochenlang
aus dem Verkehr gezogen
werden. Die 1,3
Millionen Fahrgäste,
die normalerweise
täglich mit der S-Bahn
unterwegs sind, blieben vielerorts auf der
Strecke. Ungewisses Warten auf hoffnungslos
überfüllte Züge ließen Wut und Resignation
aufkommen. Ein unvergleichliches Desaster
für die Fahrgäste und ein unermesslicher
Imageschaden für den Öffentlichen Personennahverkehr
und für die Metropole Berlin.
Renditedruck zwingt S-Bahn zu rigidem
Sparkurs
Das Chaos bei der S-Bahn Berlin ist eine
zwangsläufige Folge einer verfehlten Unternehmenspolitik:
Jahrelang hat der Mutterkonzern
Deutsche Bahn AG bei der Fahrzeugwartung
der Berliner S-Bahn auf wichtige
Investitionen verzichtet sowie massiv
Personal, Fahrzeug- und Werkstattkapazitäten
abgebaut. Die in
derselben Zeit stetig
wachsenden Gewinne
der S-Bahn wurden
an die Deutsche
Bahn AG abgeführt.
Innerhalb weniger
Jahre verwandelte
sich die S-Bahn von
einem Vorzeigeunternehmen
des Berlin-
Brandenburger
Nahverkehrs zu einem
Sanierungsfall.
Monopol als Ursache für die S-Bahn-Krise
Die Ursache der
jetzigen S-Bahn-
Krise liegt in der
Monopolstellung
der S-Bahn Berlin
GmbH. Eine gemeinwirtschaftliche
Verantwortung wird
weder durch die
S-Bahn-Geschäftsführung
noch durch
den Eigentümer DB AG noch durch deren
Eigentümer, die Bundesrepublik Deutschland,
wahrgenommen. Um eine solche Krise
künftig zu vermeiden, muss ein anderes,
zuverlässigeres Modell für den Betrieb der
S-Bahn entwickelt werden.
Die S-Bahn ist das Rückgrat des Berliner
Nahverkehrs. Seit mehr als 80 Jahren ziehen
sich die Gleise der S-Bahn wie Lebensadern
durch Berlin. Die S-Bahn in der Hauptstadt
ist nicht nur ein Verkehrsmittel, sie ist ein
Stück lebendige Geschichte, an deren Entwicklung
sich historische Ereignisse aufzeigen
lassen.
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Inakzeptable Wartezeiten Foto: VBB |
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2. Anfänge der Berliner S Bahn
Bereits 1838 entstand die erste preußische
Eisenbahnstrecke, die Berlin über Zehlendorf
mit Potsdam verband. Im Laufe der
folgenden Jahre erhielten immer mehr
Stadtteile Anschluss an das Schienennetz,
so dass es bald neun sogenannte Kopfbahnhöfe
innerhalb Berlins gab. Das Problem,
wie Reisende von einem Bahnhof zum
nächsten gelangen konnten, wurde 1851
mit dem ersten echten Vorläufer der heutigen
S-Bahn elegant gelöst. Die sogenannte
Verbindungsbahn umfuhr das Stadtgebiet
in einem Dreiviertelkreis, verband auf diese
Art und Weise die einzelnen Stadtteile und
Bahnhöfe miteinander.
Weltweite Anerkennung für das Berliner
S-Bahn-System
1924 war das Geburtsjahr der Berliner S-Bahn.
Nach mehrjährigen Vorarbeiten ging am 8.
August die erste mit seitlicher, von unten
bestrichener Stromschiene und 750 Volt
Gleichspannung elektrifizierte Eisenbahnstrecke
vom Stettiner Bahnhof (heute Nordbahnhof)
nach Bernau in den Regelbetrieb.
Wenig später folgten die anderen beiden
Nordstrecken nach Oranienburg und Velten.
Das neue System wurde mehrfach erweitert,
umgebaut und elektrifiziert. Damit war die
Berliner S-Bahn ihrer Zeit weit voraus und
ein Vorbild für viele andere Städte. Die Fachpresse
war begeistert, weltweit machte die
S-Bahn von sich reden. Unzählige Vertreter
anderer Städte kamen, um das neue Verkehrssystem
zu besichtigten.
Berliner und Brandenburger begeistert
von ihrer S-Bahn
Besonders beliebt machte sich die neue Bahn
bei den Fahrgästen durch die kurzen Fahrzeiten.
Schnell sprachen die Berlinerinnen
und Berliner stolz von ihrer „Schnellbahn”.
Offiziell gab es anfangs die Bezeichnung
„elektrische Vorortzüge” und später „Stadt-
Schnell-Bahn”. Erst seit Dezember 1930 wird
der Begriff „S-Bahn” offiziell verwendet. Die
Berliner S-Bahn gilt heute als die älteste und
bedeutendste in Deutschland.
3. Ausbau bis zum Ende des Zweiten
Weltkriegs
Die Berliner S-Bahn wurde von der Deutschen
Reichsbahn betrieben. Nach 1933 hatten
die Nationalsozialisten
überdimensionierte
Ausbaupläne.
Bei einer erwarteten
Bevölkerung von
4 bis 5 Millionen Einwohnern
sollte ein
leistungsstarkes Verkehrsmittel
wie die
S-Bahn nicht fehlen.
Das Stadtgebiet sollte
durch Eingemeindungen
vergrößert
und durch Trabanten- und Satellitenstädte
ergänzt werden.
Geplant wurden unter anderem die Verlängerung
von mehreren S-Bahn-Strecken
ins Umland (unter anderem nach Strausberg,
Werneuchen, Fürstenwalde, Trebbin), der
Bau zweier Tunnel in Nord-Süd-Richtung
sowie ein Fern-S-Bahn-Netz als Ergänzung
zum bestehenden Netz.
Tatsächlich verwirklicht wurden der Nord-
Süd-Tunnel in der Berliner Innenstadt zwischen
dem Nordbahnhof und dem Anhalter
Bahnhof sowie der Ausbau des elektrischen
Betriebes auf der Anhalter und Dresdner
Bahn im Süden der Stadt.
1944 zerfiel das Netz immer mehr, aufgrund
der vermehrten Luftangriffe auf die
Stadt. In den letzten April-Wochen des Jahres
1945 kam der Betrieb vollkommen zum
Erliegen.
4. Nachkriegszeit bis zum Fall der Mauer
1989
Nach dem Kriegsende existierte die Deutsche
Reichsbahn (DR) auch weiterhin in
allen vier Besatzungszonen Deutschlands.
Allerdings erfolgte eine Umbenennung in
Deutsche Bundesbahn für die Westzonen,
in der sowjetischen Zone behielt man den
alten Namen. Eine Übereinkunft der Sowjetunion
mit den westlichen Alliierten übertrug
die Betriebsrechte der DR auch auf den
Westteil Berlins. Damit wurde die S-Bahn
zur Zielscheibe im einsetzenden Ost-West-
Konflikt.
Noch während die Wagen notdürftig instand
gesetzt, Gleise demontiert und wieder
aufgebaut wurden, wurde bereits im März
1947 die erste Neubaustrecke nach dem
Krieg eröffnet: Von Mahlsdorf ging es eine
Station weiter ins brandenburgische Hoppegarten.
Etwa anderthalb Jahre später kam
auch Strausberg ans Netz.
Nach dem Mauerbau: Auf- und Abstieg
im Ost- und Westteil der Stadt
1961 fuhr die S-Bahn im westlichen Teil Berlins
weiter, auch wenn die Strecken in den
Ostteil und ins Umland nun unterbrochen
waren. Aufgrund der Teilung entstanden auf
einigen Linien Geisterbahnhöfe, wenn diese
Linien Ost-Berliner Gebiet durchquerten.
Der Mauerbau führte in West-Berlin zum
Aufruf von Politikern und Gewerkschaften
zum S Bahn-Boykott mit Parolen wie „Der S
Bahn-Fahrer zahlt den Stacheldraht!“ oder
„Keinen Pfennig mehr für Ulbricht!“. Die
Fahrgastzahlen sanken
dramatisch, die
S Bahn verlor fast die
Hälfte ihrer Fahrgäste
in ganz Berlin, und
das, obwohl in der
östlichen Stadthälfte
im Laufe der Jahre ein
Zuwachs verzeichnet
werden konnte.
Der S Bahn-Betrieb
in West-Berlin wurde
für die S-Bahn zunehmend
zum Verlustgeschäft. Notwendige
Reparatur- und Sanierungsmaßnahmen
wurden aufgeschoben, das Rollmaterial auf
Verschleiß gefahren. Leere Züge, zerstörte
Bahnanlagen und Fahrzeuge prägten in den
nächsten Jahren das Bild der West-Berliner
S-Bahn.
In Ost-Berlin dagegen blieb die S-Bahn
das wichtigste Verkehrsmittel. Im Ostteil
der Stadt wurde das Streckennetz weiter
ausgebaut.
BVG übernimmt S-Bahn
1984 übernahmen die Berliner Verkehrsbetriebe
(BVG) im Auftrag des Berliner Senats
das inzwischen stark heruntergekommene
Streckennetz West-Berlins mit nur noch 114
Viertelzügen. Der Senat sanierte mit hohen
Beträgen das Streckennetz im Westteil der
Stadt. Prompt schnellten die Fahrgastzahlen
in die Höhe. Auch neue S-Bahn-Züge
wurden konstruiert, die unter der heutigen
Baureihen-Bezeichnung 480 noch auf dem
Berliner S Bahn-Netz unterwegs sind. Der
Vertrag über die Betriebsrechte wurde für
zehn Jahre unterzeichnet. Man war sich auf
beiden Vertragsseiten sicher, dass dieser
Vertrag 1994 verlängert
wird. Aber
es sollte ganz anders
kommen.
5. Mauerfall und
Wiederaufbau,
1989 bis 2007
1989 machten die
politischen Ereignisse
auch nicht vor
der S-Bahn halt. Mit
dem Fall der Mauer
am 9. November
sah sie sich mit
einem Fahrgastansturm
unbekannter
Größe konfrontiert.
Erstmals fuhren auf
der westlichen Stadtbahn seit langem wieder
Vollzüge. Nach der Wiedervereinigung
wurde im Einigungsvertrag vereinbart das
Schienennetz im Zustand von 1961 wiederherzustellen.
In den folgenden Jahren wurden
Lücken im Netz geschlossen, Bahnhöfe
reaktiviert und Strecken aufwendig saniert.
Insgesamt wurden bis 2005 rund 150 Kilometer
S-Bahn-Strecke wieder neu aufgebaut.
Deutsche Bahn AG übernimmt S-Bahn
1994 übernahm die Deutsche Bahn AG die
Betriebsführung der Berliner S-Bahn. Ein
Jahr später, zum 1. Januar 1995 wurde ein
Tochterunternehmen der Deutschen Bahn
AG, die S-Bahn Berlin GmbH gegründet.
Das Unternehmen besitzt die Fahrzeuge
und das Personal. Bahnhofsbauten, Gleisanlagen
und Stellwerkstechnik gehören
der DB Station und Service AG bzw. der DB
Netz AG.
Wachsende Beliebtheit bringt mehr Fahrgäste
in die S-Bahn
Die S-Bahn wird zum beliebten Verkehrsmittel
in der Hauptstadt. Moderne Fahrzeuge
verbinden schnell und sicher die Berliner
City in alle Richtungen mit den Außenbezirken
und dem Umland. Seit 1995 steigt
die Zahl der im Jahr beförderten Fahrgäste
von 245 Millionen auf 388 Millionen im Jahr
2008. Das sind jeden Tag rund 1,3 Millionen
Fahrgäste.
Der Anteil der S-Bahn am Öffentlichen
Personennahverkehr in Berlin beträgt inzwischen
40 Prozent. Hunderttausende
Fahrgäste sind täglich auf den Linien auf der
Stadtbahn, der Nord-Süd-Strecke und dem
Ring unterwegs. Und auch für Pendler ist die
S-Bahn ein unverzichtbares Bindeglied zwischen
den Ländern Berlin und Brandenburg.
Die Züge fahren überwiegend pünktlich
und zuverlässig, das Personal ist sichtbar
und hilfreich. Die Fahrgäste sind zufrieden.
Nach und nach zeigen sich allerdings erste
Qualitätsmängel, die vorerst noch kompensiert
werden können. Doch die Fahrzeuge
werden auf Verschleiß gefahren, Personalund
Werkstattkapazitäten abgebaut. Die
S-Bahn GmbH fährt trotz Warnungen unaufhaltsam
in die Krise.
6. Qualitätseinbruch seit 2008
Der vorbildliche (Wieder-)Aufbau der
S-Bahn in Berlin und Brandenburg zum positiven
Imageträger des gesamten Nahverkehrs
der Hauptstadtregion wurde binnen
weniger Monate zerstört. Das Modell eines
hervorragenden ÖPNV-Systems in Deutschland
hat über die Grenzen der Region hinaus
durch die S-Bahn-Krise Schaden genommen.
Die Ursachen dafür liegen in strategischen
Grundsatzentscheidungen, die schon etwas
länger zurückreichen.
Waren es in den Jahren 2005 bis 2007 nur
einzelne Vorboten, wurde im ersten Halbjahr
2008 offenkundig, dass die Qualität der
S-Bahn massiv abgesunken ist. Eine deutlich
verschlechterte Pünktlichkeit, Defizite in der
Fahrgastinformation und ein unzureichendes
Platzangebot in den Zügen, da es zu
wenig Fahrzeuge gab, waren nur einige der
Qualitätsmängel im Laufe des Jahres.
Die Entwicklung eskalierte schließlich im
Jahr 2009: Im Januar fuhren tagelang Züge
gar nicht oder verspätet, da die S-Bahn nicht
auf einen Wintereinbruch mit strengem
Frost eingestellt war. Fahrsperren froren ein,
da seit einiger Zeit ein billigeres Schmiermittel
verwendet worden war. Seit Juni 2009
schließlich konnte an keinem einzigen Tag
das bestellte und notwendige Angebot gefahren
werden!
Entwicklung der Pünktlichkeit
Noch vor wenigen Jahren wies die Berliner
S-Bahn regelmäßig Pünktlichkeitswerte
von über 97 Prozent auf. Unpünktliche Züge
waren die absolute Ausnahme. Dieses einst
beispielhafte Niveau hat sich seit 2005 langsam
und seit 2008 im Sturzflug nach unten
bewegt. Im Jahr 2008 waren nur noch 92
Prozent der Züge pünktlich. Im Jahr 2009
sank dieser Wert nochmals, im September
waren gerade mal noch 78,5 Prozent der S
Bahnen pünktlich.
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Fahrgastentwicklung (Anz. d. Unternehmensbeförderungsfälle). Quelle: 2003-2006 Homepage der S-Bahn Berlin GmbH, 2007-2008 Angabe der S-Bahn Berlin GmbH. In der Angabe 2006 sind Einmaleffekte der Fußball-WM enthalten (ca. 8 Mio Fahrgäste) Grafik: VBB |
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Pünktlichkeit im S-Bahn-Verkehr im Januar 2009. Geplant: ca. 3000 Zugfahrten pro Tag. Grafik: VBB |
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Anzahl der Viertelzüge 2009/2010 Grafik: VBB |
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Fahrgastinformation
Die Information der Fahrgäste über Verspätungen
oder andere Betriebsstörungen
ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit.
Während die Berliner Verkehrsbetriebe
(BVG) ihre U-Bahnhöfe flächendeckend
mit Anzeigen, die die Wartezeit auf den
nächsten Zug angeben, ausgerüstet hat,
während sich jedes Standard-Mobiltelefon
zu einer Informationszentrale entwickelt
hat, während der VBB eine flächendeckende
Echtzeitinformation für ganz Berlin und
Brandenburg aufbaut, während kaum ein
neues Auto mehr ohne satellitengestütztes
Navigationssystem verkauft wird, geht es
mit der S-Bahn zurück in die Steinzeit der
Informationstechnologie: Wo einst Anzeiger
den nächsten Zug samt Verspätungsinformationen
angezeigt haben, feierte das alte
Blechschild eine Wiederauferstehung.
In Zahlen: Während bis vor kurzem fast jeder
S-Bahnhof entweder mit Anzeigern oder
mit Personal vor Ort ausgestattet war, waren
im Jahr 2008 rund ein Viertel der S Bahnhöfe
ohne Wartezeit-Anzeigen (sogenannte dynamischen
Zugzielanzeiger). Bahnhöfe, auf
denen die Fahrgäste ablesen können, wann
der nächste Zug eintrifft, sind leider eher
die Ausnahmen. Oftmals werden weder das
Fahrtziel des Zuges noch Verspätungen an
die Reisenden weitergegeben. Kundenorientierung
sieht anders aus.
Fahrzeugverfügbarkeit und Zuglängen
Die S-Bahn hat die Anzahl ihrer Fahrzeuge
drastisch reduziert: Waren im Jahr 2005
noch 671 Viertelzüge im Gesamtbestand,
ist dieser Wert im Jahr 2008 auf 630 geschrumpft
– und das bei gleichem Fahrplanangebot
und höheren Fahrgastzahlen.
Was sind die Folgen? Einerseits standen
nicht mehr genügend Fahrzeuge zur Verfügung,
um angemessene Zuglängen zu
fahren. So wurden auf dem Ring und bei bestimmten
Zügen der Linie S 3 beispielsweise
keine S-Bahnen mit maximaler Zuglänge
(Vollzüge) mehr eingesetzt, sondern nur
noch Halb- oder Dreiviertelzüge.
Doch damit nicht genug: Die Anzahl der
Fahrzeuge ist nun so knapp bemessen, dass
nicht einmal die reguläre Instandhaltung
erledigt werden kann. Kommt etwas Ungeplantes
dazwischen, knirscht es erst recht.
Bei einem so großen System wie der S Bahn
kommt es jedoch regelmäßig zu ungeplanten
Ereignissen, auf die man reagieren muss.
Vorfälle dieser Art gab es reichlich: Aus
den verschiedensten Gründen gab es zusätzlichen
Untersuchungs- und Instandhaltungsbedarf.
So müssen u. a. bei einem
Fahrzeugtyp Risse in den Bodenwannen saniert
werden. Nach dem ICE-Unfall von Köln
wurden zusätzliche Prüfungen von Achsen
erforderlich, da die S-Bahn mit ähnlichen
Bauteilen ausgerüstet ist.
Weiter wurde bei allen S-Bahn-Fahrzeugen
die Höchstgeschwindigkeit von 100
km/h bzw. 90 km/h (Baureihe 485) auf 80
km/h wegen notwendiger Prüfungen herabgesetzt.
Bei den Fahrzeugen der Baureihe 481 wurde
nach einem Unfall am Bahnhof Südkreuz
im November 2006 Anpassungsbedarf an
der Bremsanlage deutlich. Bei dem Unfall
war ein S Bahn-Zug mit einem Arbeitszug
kollidiert, 33 Fahrgäste wurden verletzt. Bis
heute liegt für die notwendigen Software-
Anpassungen der Steuerung der Bremse
noch immer kein abgenommenes technisches
Konzept vor.
Bereits seit 2008 müssen sich die Fahrgäste
damit arrangieren, dass die Zuglängen
nicht mehr angemessen sind, Züge
unpünktlich kommen und sehr häufig Züge
ausfallen (zum Beispiel auf der Linie S 85).
7. S-Bahn Chaos-Monate 2009
Die Qualitätseinbrüche im Jahr 2008 waren
gravierend, die Beeinträchtigungen für die
Fahrgäste merklich. Aber immerhin: Das System
funktionierte wenigstens noch ausreichend,
wenn auch mangelhaft. Im Jahr 2009
kam es schließlich zum Kollaps.
Januar
Es begann gleich in der ersten Woche des
Jahres: Es gab einige kalte, aber für Mitteleuropa
nicht unübliche Tage. Doch für
die S-Bahn war dies zu viel. In nur einer
Woche gab es 3.000
Zugausfälle und 5.000
verspätete Züge. An
zwei Tagen sank die
Pünktlichkeit auf weit
unter 50 Prozent. Was
war geschehen? Bei
der Wintervorbereitung
war kurzerhand
gespart worden: Ein
sicherheitsrelevantes
Bauteil wurde
schlichtweg nicht mit
dem richtigen Material
eingefettet und fror
fest. Aus Sicherheitsgründen
durften die
Züge dann nur noch
mit 40 km/h fahren.
Die Technik ist übrigens
seit rund 80 Jahren unverändert – ernsthafte
Probleme damit gab es vorher nie!
Juni
In den Schatten gestellt wurde dies durch
die Ereignisse seit dem Sommer 2009: Ende
Juni stellte das Eisenbahnbundesamt (EBA)
fest, dass die S-Bahn Kontrollfristen nicht
ordnungsgemäß eingehalten hatte. Zu
diesen wöchentlichen
Kontrollen
hatte die S-Bahn
sich verpflichtet,
nachdem am
1. Mai 2009 ein
S-Bahn-Zug der
modernsten Baureihe
481 nach einem
Radbruch in
Berlin-Kaulsdorf
entgleist war.
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Zoo, Friedrichstraße, Alex ohne S-Bahn Foto: VBB |
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Geisterbahnhöfe der S-Bahn Foto: VBB |
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Des Weiteren
wurden Radsätze
nicht innerhalb
der notwendigen
Fristen getauscht.
Das EBA verfügte
die sofortige
Außerbetriebnahme
aller nicht
ordnungsgemäß kontrollierten S-Bahn-
Fahrzeuge, da der betriebssichere Zustand
der Fahrzeuge nicht mehr gewährleistet
war. Zwangsweise wurde quasi über Nacht
ein Großteil der Fahrzeugflotte aus dem
Verkehr gezogen. Seitdem ermittelt die
Staatsanwaltschaft wegen Gefährdung des
Eisenbahnverkehres gegen die – inzwischen
ehemalige – Geschäftsführung um Dr. Tobias
Heinemann.
Seit dem 29. Juni stand damit nur noch
rund die Hälfte der Fahrzeugflotte zur
Verfügung. Die S-Bahn konnte nur noch
rund 600 000 statt der sonst üblichen 1,3
Millionen Fahrgäste pro Tag befördern. Ein
Notbetrieb mit ausgedünnten Takten und
verkürzten Zuglängen wurde eingerichtet.
Brandenburger und Berliner kamen nicht
mehr pünktlich zur Arbeit. Touristen wussten
nicht, wie sie durch die Stadt kommen
sollten. Auch die Wirtschaft, beispielsweise
Einzelhandel und Beherbergungsgewerbe,
musste erhebliche Einbußen erleiden.
Der DB-Konzern reagierte und entband
die gesamte Geschäftsführung der S-Bahn
von ihren Aufgaben und setzte andere Mitarbeiter
aus dem DB-Konzern in die Funktion
ein. Infolge der nun durchgeführten Untersuchungen
mussten ab dem 20. Juli abermals
weitere Fahrzeuge abgestellt werden.
Für ca. drei Wochen standen nur 30 Prozent
der Fahrzeuge zur Verfügung.
Mehrere Strecken, darunter die Stadtbahn
zwischen Bahnhof Zoologischer Garten
und Ostbahnhof, konnten nicht mehr mit
S-Bahnen befahren werden. BVG und Regionalbahnverkehr
sowie weitere Verkehrsunternehmen
fuhren Ersatz, wo es möglich
war. Busse und U-Bahnen waren dennoch
hoffnungslos überfüllt. Touristen aus aller
Welt standen an den Stationen und warteten
vergeblich, auch weil dringend notwendige
Informationen zum Ersatzverkehr
ausblieben oder nicht auf Englisch gegeben
wurden. Rund 400 000 Fahrgäste kehrten
dem Öffentlichen Personennahverkehr den
Rücken zu und wichen aus auf Auto und
Fahrrad oder gingen zu Fuß.
Nach entsprechenden Prüfungen und
dem Austausch von Teilen konnte die
S-Bahn ihr Angebot sukzessive wieder erhöhen.
Anfang September waren wieder rund
60 Prozent der Fahrzeuge in Betrieb.
September
Der vorläufige Höhepunkt kam dann am 8.
September 2009. Die S-Bahn hatte selbst
festgestellt, dass Bremszylinder in der Vergangenheit
nicht ordnungsgemäß gewartet
und getauscht worden sind. Wieder musste
ein Großteil der Züge in die Werkstatt, wieder
standen nur 30 Prozent der Fahrzeuge
zur Verfügung.
Doch anders als im Juli waren keine Ferien
mehr – das Verkehrsaufkommen konnte
durch den Notfahrplan nicht annähernd bewältigt
werden. Schwankte die Stimmung
in der Öffentlichkeit in den Monaten zuvor
zwischen Galgenhumor, Gelassenheit und
Ärger, schlug die Stimmung nun in Wut
und gleichzeitig Resignation um. Ein zweiter
Fast-Totalzusammenbruch der S-Bahn
erschütterte nun vollends das Vertrauen in
ein ehemals zuverlässiges Verkehrsunternehmen.
Die Geduld der Berlinerinnen und
Berliner und ihrer Gäste war aufgebraucht.
Ursache: Geplanter Börsengang der
Deutschen Bahn AG
Auch wenn die Vorfälle noch nicht im Detail
aufgeklärt sind, ist eines klar: Der DBKonzern
hat einen enormen Kosten- und
Renditedruck auf die S-Bahn aufgebaut. Mit
verheerenden Folgen.
Die S-Bahn Berlin GmbH hat ihren Gewinn
von 2005 auf 2008 mehr als versechsfacht.
Gewinne, die an den Mutterkonzern Deutsche
Bahn AG abgeführt wurden, damit dieser
den geplanten Börsengang verfolgen
konnte.
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Gewinnentwicklung S-Bahn Berlin GmbH (2009 und 2010 Prognose aus Mittelfristplanung) Grafik: VBB |
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Für die Jahre 2009 und 2010 hatte die
Deutsche Bahn sogar eine weitere Verdopplung
der Gewinne bei der S-Bahn auf dann
125 Millionen Euro geplant. Hierbei handelt
es sich zu einem großen Teil um Steuergeld
der Länder Berlin und Brandenburg, die
den Verkehr bei der S-Bahn bestellen und
bezahlen.
Diese Gewinnplanung führte zu einem
enormen Kostendruck, der die S-Bahn Berlin
GmbH zwang, an der Instandhaltung, an
Personal und Fahrzeugen zu sparen.
Binnen drei Jahren wurde mit fast 1.000
Beschäftigten rund ein Viertel der Belegschaft
abgebaut; mehrere Werkstattstandorte
wurden geschlossen. Die verbliebenen
Mitarbeiter mussten mit ansehen, wie „ihre“
S Bahn herabgewirtschaftet wurde.
Während der ganzen Zeit wurden alle
warnenden Hinweise des Berliner Senats,
der Brandenburger Landesregierung und
des Verkehrsverbundes Berlin-Brandenburg
abgewiegelt, ignoriert oder zurückgewiesen.
Die Schuld für die Qualitätsmängel
wurde der Fahrzeugindustrie, dem Wetter
oder sogar einzelnen Mitarbeitern zugewiesen.
Reagiert wurde erst, als der öffentliche
Druck enorm zugenommen hatte.
Krönung der Ignoranz ist die vom DBKonzern
angeführte Begründung, der Gewinn
der S-Bahn Berlin werde zum Abbau
der Schulden für die Fahrzeuginvestitionen
benötigt. Dies ist bewusste Irreführung, ein
Ammenmärchen. Der Schuldendienst wird
natürlich vor der Ermittlung des Gewinns
bereits abgezogen. Insgesamt 100 Viertelzüge
der Baureihe 481 wurden zudem durch
die Bundesrepublik Deutschland finanziert.
Die Gründe für das Desaster bei der
S-Bahn liegen übrigens nicht in der Privatisierung
an sich. Kein privates Unternehmen
kann es sich auf Dauer leisten, auf Verschleiß
zu fahren. Schuld an der S-Bahn-Krise ist die
unkontrollierte und bedingungslose Ausrichtung
an dem einen Ziel „Börsengang“ –
ohne Rücksicht darauf, ob man den Bogen
überspannt.
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Alexanderplatz ohne S-Bahn Foto: VBB |
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8. Wege in die Zukunft der S-Bahn
Welche Schlussfolgerungen sind aus der
aktuellen S-Bahn-Krise zu ziehen? Eines ist
sicher: Es muss alles getan werden, damit
sich derartige Vorgänge nicht wiederholen
können. Hierzu reicht es nicht aus, lediglich
die Verantwortlichen bei der S-Bahn Berlin
GmbH auszutauschen oder die unternehmensinternen
Organisationsabläufe zu
prüfen und neu zu justieren. Vielmehr sind
strukturelle Veränderungen nötig, um die
Entstehung solcher Missstände unmöglich
zu machen.
Ähnliche Vorfälle müssen in Zukunft vermieden
werden
Der Nahverkehr in der Hauptstadtregion ist
eine Aufgabe der Daseinsvorsorge und darf
nicht zum Spielball ökonomischer Interessen
eines Monopolisten werden. Die Aufgaben
zwischen staatlicher und unternehmerischer
Verantwortung müssen daher neu
verteilt werden. Die öffentliche Hand muss
jederzeit Zugriff auf die für die Funktionstüchtigkeit
des Systems essenziellen Bereiche
haben.
Strukturfalle bei der S-Bahn Berlin
Die Berliner S-Bahn ist ein technisches
Unikat. Hier fahrende Fahrzeuge können
weltweit an keiner anderen Stelle eingesetzt
werden. Selbst die technisch ähnliche
S Bahn Hamburg weist im Detail so viele
Unterschiede auf, dass ein wechselseitiger
Fahrzeugeinsatz unmöglich ist.
Ein einmal in Berlin und Brandenburg
auf die Schiene gesetztes S-Bahn-Fahrzeug
wird über den gesamten Nutzungszeitraum
von mindestens 25 Jahren hier eingesetzt
sein. Kein anderes Fahrzeug kann ohne weiteres
auf den Schienen der Berliner S-Bahn
Fahrgäste befördern.
Dies macht den Staat anfällig, ja sogar erpressbar.
Er kann einen unzuverlässig
gewordenen Betreiber nicht
einfach kurzfristig auswechseln.
Das gilt insbesondere, wenn nur
ein Unternehmen den gesamten
S-Bahn-Betrieb durchführt.
Wäre ein ähnliches Desaster bei
den Regionallinien passiert, hätte
verhältnismäßig einfach Ersatz
geschaffen werden können. An
vielen Stellen im In- und Ausland
sind technisch kompatible Fahrzeuge
im Einsatz, die man für ein
Ersatzkonzept oder gar für einen
Betreiberwechsel hätte organisieren
können. Dies funktioniert jedoch
nicht bei der Berliner S-Bahn.
Nur die S-Bahn Berlin GmbH verfügt
über Fahrzeuge, die in den nächsten
Jahren einsatzbereit sind.
Kündigung des S-Bahn-Vertrags bringt
Risiken
Die Länder Berlin und Brandenburg könnten
den Verkehrsvertrag nach den Vorfällen der
letzten Monate aus wichtigem Grund kündigen.
Eine solche Kündigung hätte mit hoher
Wahrscheinlichkeit vor Gericht Bestand, es
fehlt aber die tatsächliche Alternative für
die Zeit danach. Bis ein potenzieller neuer
Betreiber Fahrzeuge zur Verfügung hätte, ist
der heutige Vertrag ohnehin abgelaufen.
Eine vorzeitige Kündigung des jetzt bestehenden
S-Bahn-Vertrags birgt hohe
finanzielle Risiken. Denn auch nach einer
Kündigung müsste gewährleistet sein, dass
der S-Bahn-Verkehr aufrechterhalten bleibt.
Dazu müssten die Länder als Aufgabenträger
der S-Bahn Berlin GmbH wegen fehlender
Alternativen den Betrieb auferlegen.
Eine Auferlegung
bedeutet
unter anderem
aber, dass das
Verkehrsunternehmen
seine
realen Kosten zuzüglich
eines Gewinnzuschlages
gegenüber den
Aufgabenträgern
geltend machen
könnte. In der
Konsequenz hieße
das, dass das
rechtliche Risiko
besteht, dass alle
Folgekosten, wie
zum Beispiel die
Reaktivierung abgestellter Fahrzeuge oder
die Durchführung der dichteren Wartungsintervalle
aufgrund der vorhandenen Mängel,
von den Ländern übernommen werden
müssten.
Daseinsvorsorge im Eigenbetrieb oder
als „bestellte“ Leistung im Wettbewerb
Die öffentliche Hand hat zwei Möglichkeiten,
die Daseinsvorsorge zu gewährleisten:
Entweder erbringt sie die Leistungen selbst
mit einem Eigenbetrieb, auf den sie direkten
Zugriff hat, oder sie „bestellt“ die Leistungen
bei einem Verkehrsunternehmen, das über
einen Vertrag eng und zielgerichtet ständig
kontrolliert wird. Beide Varianten sind
erprobt und funktionieren. Voraussetzung
ist, dass die Rahmenbedingungen stimmen.
Ohne eine Alternative durch den Wettbewerb
entsteht ein Monopol, das sich, wie
im Falle der Berliner S-Bahn, der Steuerung
durch die öffentliche Hand entzieht. Das im
Wettbewerb übliche Korrektiv des drohenden
Auftragsverlustes bei schlechter Leistung
besteht bei der S-Bahn bislang nicht.
Variante 1: Nachhaltiger Zugriff auf
die Fahrzeuge durch Fahrzeugpool der
Länder
Die Strukturfalle ist langfristig nur zu beheben,
wenn die Länder nachhaltig strukturelle
Änderungen durchsetzen.
So könnten die Länder einen eigenen
Fahrzeugpool gründen, die Fahrzeuge in
ihr Eigentum übernehmen und auch die Instandhaltung
organisieren.
Der Fahrzeugpool ist über die gesamte
Lebensdauer der Fahrzeuge wirtschaftlich,
da die Länder günstigere Finanzierungskonditionen
erhalten und das eingesetzte
Kapital nicht den Renditezielen des Kapitalmarktes
unterworfen ist. Nachteil sind
jedoch die hohen Anfangsinvestitionen. So
müssten langfristig ca. 600 Fahrzeuge zu
einem Stückpreis von rund zwei Millionen
Euro finanziert werden.
Ein Rückfluss der eingesetzten Gelder
würde dagegen erst in den folgenden 25
bis 30 Jahren in Form von geringerem Bestellerentgelt
der Verkehrsleistung erfolgen.
Gleichzeitig müsste
in diesem Fall
ein kontinuierliches
Controlling
der Fahrzeuge organisiert
werden.
Der wesentliche
Vorteil ist, dass die
Länder direkten
Zugriff auf die
Fahrzeuge als
entscheidendes
Produktionsmittel
haben. Diese Lösung
käme jedoch
vermutlich nur für
neue Fahrzeuge
und nicht für die
Bestandsfahrzeuge
in Betracht. Da die Beschaffung von
neuen Fahrzeugen frühestens 2015 abgeschlossen
sein kann und auch ein neuer Betreiber
erst gesucht werden muss, steht diese
Lösung erst nach Ablauf des laufenden
Vertrages 2017, jedoch nicht bereits heute
zur Verfügung.
Würden die Länder im Besitz eines Fahrzeugpools
sein, wären für den Betrieb der
Strecken mehrere Handlungsoptionen
denkbar:
S-Bahn als Eigenbetrieb der Länder
Die Länder könnten die S-Bahn als Eigenbetrieb
übernehmen, eigenständig weiterführen
oder sie an einen bestehenden Landesbetrieb
angliedern. Mit dieser Lösung
bestünden hinreichende Steuerungsmöglichkeiten,
um ähnliche Missstände für die
Zukunft zu vermeiden. Das Ziel der Versorgungssicherheit
würde erreicht.
Allerdings ist diese Variante wirtschaftlich
kaum tragfähig, da die Länder neben der
Finanzierung des laufenden Betriebs auch
den Kaufpreis für die S-Bahn Berlin GmbH
aufbringen müssten.
Zwingende Voraussetzung für diese Lösung
wäre, dass überhaupt eine Verkaufsbereitschaft
des heutigen Eigentümers,
der Bundesrepublik Deutschland, besteht.
Diese ist derzeit nicht absehbar, so dass
diese Variante wegen dieser Unsicherheit
ausfällt.
Wettbewerbsverfahren
Die Länder könnten die Verkehrsleistung
ausschreiben und die Fahrzeuge dem Wettbewerbsgewinner
für die Laufzeit des Vertrages
bereitstellen. Das bedeutet, dass das
jeweils beauftragte Verkehrsunternehmen
den Verkehr organisiert, aber nicht im Besitz
der Fahrzeuge ist.
Variante 2: klassischer Wettbewerb
Ausschreibung S-Bahn-Netz (Fahrzeuge
im Besitz des Betreibers
Schließlich ist ein „klassisches“ Wettbewerbsverfahren
denkbar, bei dem der Betreiber
die Fahrzeuge beschafft und stellt, so
dass Produktionsmittel und Produktion in
einer Hand liegen. Durch die Bildung mehrerer
Lose (zum Beispiel in drei Teilnetzen), die
gleichzeitig ausgeschrieben und zu unterschiedlichen
Zeitpunkten in Betrieb gehen,
wird das Risiko des Ausfalls eines Betreibers
gestreut. Außerdem würde der Verkehrsvertrag
strenge Vorgaben zur Instandhaltung
und zu deren Kontrolle beinhalten.
Ein erstes Teilnetz mit etwa einem Drittel
der Leistung könnte frühestens 2017 an
den Start gehen, die weiteren beiden Netze
könnten in zwei Schritten mit einem Abstand
von zwei Jahren erfolgen.
Auch wenn der Renditedruck des DBKonzerns
zu dem heutigen S-Bahn-Desaster
geführt hat: Im Wettbewerb droht eine ähnliche
Situation kaum, da sich die Unternehmen
immer wieder neu bewähren müssen
und daher auch nachhaltig wirtschaften
müssen. Und selbst wenn es ein schwarzes
Schaf geben sollte – da es Alternativen gibt,
kann es dann relativ schnell ersetzt werden.
Mehr Qualität und Kundenzufriedenheit
durch Wettbewerb – unter Berücksichtigung
der sozialen Belange der Arbeitnehmer
Die Erfahrungen im Regionalverkehr zeigen
deutlich, dass die Qualität des Angebots und
die Kundenzufriedenheit steigen, wenn der
Betrieb zeitlich befristet ausgeschrieben
wird und sich mehrere Wettbewerber darum
bemühen.
Qualitätsstandards werden zwingend vorgeschrieben
und mit einem Bonus-Malus-
System gesteuert.
Bei der jüngst durchgeführten „Netz-
Stadtbahn“-Ausschreibung im Regionalverkehr
gab es kritische Proteste der Arbeitnehmervertreter,
die schlechtere Arbeitsbedingungen
befürchten. Diese Sorge wird durch
die neue EU-Verordnung 1370/07 entkräftet,
denn im Ausschreibungsverfahren können
nun auch die sozialen Belange der Arbeitnehmer
gewahrt werden.
Die Auftraggeber haben die Möglichkeit,
einen Betriebsübergang vorzugeben. Die
Länder können also vorschreiben, dass der
Sieger des Wettbewerbsverfahrens das Personal
des alten Betreibers zu den gleichen
Konditionen übernimmt. Eine typische Situation,
die Vorteile für beide Seiten bringt:
Der neue Betreiber kann sich darauf verlassen,
qualifiziertes Personal zu erhalten – die
Arbeitnehmer behalten ihren Arbeitsplatz
und müssen keine Abstriche beim Lohn
machen. Den befürchteten Wettbewerb auf
dem Rücken der Arbeitnehmer kann es so
nicht mehr geben.
Weichenstellung jetzt
dringend notwendig
Eine Betrachtung der realistischen Handlungsoptionen
„Fahrzeugpool“ und „klassischer
Wettbewerb“ zeigt, dass beide Instrumente
erst zum Ende der jetzigen Vertragslaufzeit
Wirkung entfalten. Selbst wenn ein
Wettbewerbsverfahren zügig durchgeführt
wird – weit vor 2017 wird man es nicht abschließen
können.
Dringlichste Aufgabe ist es daher jetzt,
für 2017 und die Folgejahre die Weichen zu
stellen. Gleichzeitig ist es notwendig, dass
der bestehende Vertrag mit der S-Bahn Berlin
GmbH angesichts der eklatanten Qualitätsmängel
nachgebessert wird. Droht der
Wettbewerb, muss sich die S-Bahn Berlin
GmbH enorm anstrengen, um nicht wegen
mangelnder Zuverlässigkeit vom Wettbewerbsverfahren
ausgeschlossen zu werden.
Der heilsame Druck möglicher Konkurrenten
würde bei der DB AG mehr Anstrengungen
zum Nutzen der Fahrgäste auslösen als
die massive Kritik in der Öffentlichkeit.
Alle Kräfte müssen nun auf die Strukturen
nach 2017 fokussiert werden. Die Entscheidung
für diese Weichenstellung muss aber
heute bereits gefällt werden.
9. Empfehlung
Die Verkehrsunternehmen des DB-Konzerns
sollen nach dem Willen der Bundesregierung
und der sie tragenden Parteien privatisiert
werden, das heißt, das öffentliche Eigentum
soll aufgegeben werden. Es ist also
nicht mehr zu erwarten, dass die DB AG als
klassische Staatsbahn erhalten bleibt. Angestrebt
wird hier eine 100-prozentige Privatisierung
der Verkehrsunternehmen, mithin
auch der S-Bahn Berlin GmbH. Dies wäre aus
ordnungs- und bahnpolitischer Sicht konsequent.
Was dann noch fehlt, ist ein Bundesgesetz
für den Personenfernverkehr auf der
Schiene, das Art und Umfang der politisch
definierten Leistung sicherstellt.
Den Gewährleistungsauftrag erfüllen im
Nah- und Regionalverkehr die Aufgabenträger
– die Leistung sollte von den Verkehrsunternehmen
durchgeführt werden,
gesteuert durch strikte Verträge.
Diese Zielrichtung heißt ganz klar, dass für
die Berliner S-Bahn die Direktvergabe an eine
staatlich gesteuerte und im Staatsbesitz befindliche
DB AG nicht mehr möglich ist.
Will man für die Bürger mit den aus dem
Bundeshaushalt den Ländern für Schienennah-
und Regionalverkehr zur Verfügung
gestellten Finanzmitteln möglichst viel Verkehrsleistung
mit hoher Qualität erreichen,
scheidet die Direktvergabe aus.
Wettbewerb im S-Bahn-Netz
Wenn die Länder Berlin und Brandenburg
heute langfristig auf eine Direktvergabe
an die S-Bahn Berlin GmbH setzen würden,
würde man sich mittelfristig einem privaten
Monopol unterwerfen, von dem man heute
weder die Unternehmensziele noch die
Eigentümer kennt. Will mit der DB AG eine
„Heuschrecke“ das schnelle Geld machen
oder kommt sie in den Besitz nachhaltig
wirtschaftender, ehrbarer Kaufleute?
Zurzeit besteht im Bund als Eigentümer
des DB-Konzerns kein klares Bekenntnis zu
einer staatlich geführten und kontrollierten
DB AG. Im Gegenteil: In den letzten Jahren
hat die Bundesregierung stets eine Einflussnahme
auf die DB AG abgelehnt. Solange
seitens der Bundesregierung aber nicht
beabsichtigt ist, die Geschäftspolitik der
Deutschen Bahn entscheidend zu lenken,
müssen die Länder auf den Wettbewerb im
Nahverkehr setzen.
Bei den Ländern Berlin und Brandenburg
und beim VBB ist wegen der vielfältigen Erfahrungen
mit Ausschreibungen im Regionalverkehr
die Kompetenz vorhanden, um
ein solches Verfahren auch bei der S-Bahn
erfolgreich durchzuführen.
Zeitplan Ausschreibungsverfahren
Ein Wettbewerbsverfahren dauert aufgrund
der langen Fahrzeugbeschaffung von der
Veröffentlichung bis zur ersten Fahrt rund
sieben Jahre.
Insgesamt wäre folgender Wettbewerbsfahrplan
realisierbar:
- 2017: Inbetriebnahme erstes Teilnetz (ca.
ein Drittel der Fahrzeuge)
- 2019: Inbetriebnahme zweites Teilnetz
- 2022: Inbetriebnahme drittes Teilnetz
und vollständige Umsetzung des Wettbewerbs
Das erste Wettbewerbsverfahren eines Teilnetzes
müsste im Jahr 2010 eröffnet werden,
damit im Jahr 2017 nach Auslaufen des jetzt
bestehenden Vertrages die ersten Züge mit
neuem Vertrag rollen.
Damit würde etwa ein Drittel des Netzes
bedient werden. Die weiteren Ausschreibungsnetze
könnten dann mit einer Abfolge
von etwa drei Jahren folgen, da allein
die Produktion der benötigten Fahrzeuge
diese Zeit braucht. Voraussetzung für die
Durchführung des Ausschreibungsverfahrens
und die Einhaltung des Zeitplans ist
die politische Entscheidung zugunsten des
Wettbewerbs im Schienennetz der Berliner
S-Bahn.
Hans-Werner Franz ist Geschäftsführer des
Verkehrsverbundes Berlin-Brandenburg (VBB).
Diese Denkschrift vom 2. Dezember 2009
gibt die persönliche Meinung des Verfassers
wieder. Hans-Werner Franz
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