Nahverkehr

Safety first? Oder: Sicherheit über alles?

Die Eisenbahn investiert in neue Technik, genauer: in eine neue Sicherungstechnik, die - so viel ist sicher - in ganz erheblichem Maße Personalkosten spart. Letztlich, so deutet sich an, wird es damit möglich sein, sämtliche Zugfahrten von DB und in Berlin von nur noch einem einzigen Stellwerk aus zu leiten! Dabei wird dann das Stellwerk Wannsee zur unbesetzten Schnittstelle. Die aktuellen Schwierigkeiten beim S-Bahn-Betrieb lassen aber die Frage aufkommen, ob die moderne Stellwerkstechnik auch die Anforderungen des Krisenmanagements bezüglich Störungsbegrenzung erfüllt.

Bislang stand das Regelwerk der Eisenbahn für die weitreichende Vorsorge bei Ausfällen technischer Systeme zur Verfügung. So konnte beispielsweise bei einer Störung im reich der anwesende Fahrdienstleiter sowohl die Gleisbelegung als auch die Weichenstellung persönlich einsehen. Dadurch konnte der Betrieb auch dann weitergeührt werden, wenn Teilsyste­me gestört waren. Fand die Störung auf der freien Strecke statt, so konnten sich die Fahrdienstleiter an den beiden Enden des gestörten Abschnitts jede Fahrt abstimmen. So stellte selbst ein Totalausfall der Streekensignale keine Streckenblockierung dar. Wie aber steht es um das Verkehrsangebot bei Störungen der elektronischen Zentralstellwerke? Betrachten wir dazu mehrere Störfallstufen:

Stufe 1: Die Signale eines Bahnhofes lassen sich nicht mehr auf Fahrt stellen. Bei neuer Sicherungstechnik bleiben dann sämtliche Streckensignale auf Halt, weil sie in der Computerlogik an das Ausfahrsignal des Bahnhofes gekoppelt sind. Dies bedeutet für die S-Bahn-Führer, über längere Strecken auf Sicht zu fahren, und zieht immense Verspätungen nach sich.

Bei alter Technik dagegen wird auch im Störungsfall nicht auf Sicht gefahren, da der anwesende Fahrdienstleiter in jedem Fall die Gleisbelegung kennt. Der Zug fährt weiter in die nicht gestörten Streckenabschnitte ein und dort ohne weitere Verzögerungen, da die Blocksignale in Relaistechnik selbsttätig arbeiten und von Defekten in angrenzenden Abschnitten unberührt bleiben. Die anfallende Verspätung ist in diesem Fall sehr viel geringer.

Stufe 2: Es soll schon vorkommen, daß Rechner "abstürzen". Bei einem Stellwerksrechnerabsturz bleiben dem letzten verbliebenen Fahrdienstleiter allerdings wenig Kontroll- und Eingriffsmöglichkeiten. Weder die tatsächliche Gleisbelegung noch die Stellung der Weichen sind ihm sicher bekannt! Was bleibt, ist nicht mehr als der Glaube an die Versprechen des Herstellers dieser Technik: Festgelegte Fahrstraßen sollen sich nämlich nicht selbständig verändern. Um die Fahrgäste sicher an die Bähnsteige zu bringen, trägt der Fahrdienstleiter auf elektronischen Stellwerken nicht nur für eine viel größere Anzahl von Zügen die Verantwortung, sondern auch für eventuelle technische Fehler. Ob diese Regelung rechtlich haltbar ist, Wo doch in den Fahrdienst-vorschriften die Sicht des Fahrdienstleiters auf die Problemsituation vorgeschrieben ist?

Stufe 3: Was aber passiert, wenn einmal die zentrale Technik versagt oder durch Fremdeinwirkung zerstört wird? Sehr wahrscheinlich ist dann der gesamte S-Bahn- und Fernbahnverkehr in Berlin lahmgelegt! Die Verflechtung von Interessen des Unternehmens Bahn (Personaleinsparung) und des Zulieferers (Absatz neuer Technik) könnte also fatale Folgen haben. Hoffen wir, daß den Reisenden und der Bahn ein solcher Fall als leider nicht ganz abwegige Folge einer zentralisierten elektronischen Sicherungstechnik dennoch erspart bleibt.

IGEB

aus SIGNAL 6/1995 (September 1995), Seite 23-24

 

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