Unter besagtem Motto versucht bekanntlich die reformierte Bahn ihre
Nahverkehrszüge zu füllen. Das Ergebnis ist bekannt: findige Köpfe haben
BiIligstfahrmöglichkeiten durch halb Deutschland entdeckt und sorgen
dort, wo die Züge ohnehin gut besucht sind, für Völkerwanderungen
biblischen Ausmaßes. Was solI’s, wer "In" sein will, fährt Bahn. Recht so.
Doch wie sieht es bei den eigentlichen Auslösern dieses Superangebotes
aus, den Nebenbahnen über Land? Machen wir einen Test.
|
Die Regionalbahn aus Belzig, noch mit einer V180 bespannt, ist in Brandenburg Hbr. angekommen. Foto: I. Köhler |
|
Die Fahrt kann man mit einem verkehrshistorischen Exkurs verbinden. So ist eine
Bereisung der einstigen Brandenburgischen
Städtebahn, soweit noch verfügbar, eine hübsche Idee. Mittels des 15,- DM-Pauschalscheines
ging es eines recht schönen Sonntagmorgens zunächst mit der Regionalbahn von
Wannsee nach Belzig. Zu jenem Zeitpunkt
nannte sich die Unternehmung noch R6. Jetzt
heißt das ganze RB11 und klingt nach mehr.
Wonach die chaotische Vergabe von Linienummern für den brandenburgischen
Regionalverkehr erfolgte, wird eines der großen
Rätsel unserer Zeit bleiben.
Die Kulisse Belzigs, einem Städtchen im
Fläming, wird beherrscht durch die bereits
vom Zug aus sichtbare Burg Eisenhardt. Die
Stadt an sich ist durch die Burg schon ein
beachtenswertes Reiseziel. Aber wir wollen
ja Eisenbahn fahren, so weit es geht. Also
über die Fußgängerbrücke aufden gegenüberliegenden Bahnsteig aus Privatbahnzeiten.
Ebenfalls auf der Brücke in Richtung Zug
bewegt sich eine Schulklasse, wohl aus der
Gegend. Weiter ist da niemand, der den Zug
ansteuert. Der Platz reicht also für alle. Zwecks
der Abfahrt 7.11 Uhr wartet ein exotisches
Gespann: eine der schon zur Rarität gewordenen DDR-Großdieselloks, jetzt als Baureihe
228 der Inbegriff eines Auslaufmodells, früher als V180 Normalität. in den sechziger
Jahren als V180 der ganze Stolz ihrer Erbauer
und Bediener. Dieses Kraftpaket ist angemessen mit einem (einem!) Reichsbahn-D-Zug
wagen behangen. Auch Auslaufmodell. Aber
blitzsauber! Die Dampfheizung der 228 sorgt
für erfreuliche Wärme. Anfang Mai ist es
morgens doch noch ziemlich kühl.
Unser Bähnle setzt sich zur geplanten Zeit
in Bewegung. Daß die Lok eigentlich für
etwas größere Züge gedacht war, bemerkt
man bei der Anfahrt. Die geht derart flott
vonstatten, daß die Abteiltür mit Schwung
auffliegt. Auflassen ist blöd, weil es im Gang
doch recht laut ist. Also: aufstehen und Tür
zumachen. Das wiederholt sich aus genanntem Grund an jedem Bahnhof oder auch
Bahnübergang. Irrsinn des Nebenbahnbetriebes:
jeder unbeschrankte Bahnübergang wird im
Schrittempo passiert, um potentielle Selbstmörder, die trotz offensichtlicher Blindheit
und mangelndem Orientierungsvermögen einen Führerschein erlangt haben, vor Schaden
zu bewahren.
Aber genießen wir den Blick aus dem Fenster. Aus dem Bahnhof Belzig fährt der Zug
einen langen Bogen aufwärts. um dann in
einem Linksschwenk die Wetzlarer Bahn, auf
der wir angereist sind, zu überqueren. Beim
Blick rechts aus dem Fenster wird ein Kraftwagen mit Oranienburger Kennzeichen
sichtbar, der, mit nur Beifahrerin insitzend, irgendwie in der Gegend steht. - Ich ahne was.
Beim Halt am Bahnhof Fredersdorf steht
der Wagen wieder da. Die Ahnung wird Gewißheit. Neben der Karosse steht ein
typischer „Fan" und fotografiert hastig, Auch in
Dippmannsdorf-Ragösen steht er wieder zuverlässig da. Dazu gesellt hat sich ein roter
Wagen aus Berlin. Der Herr mit den zusammengeschraubten zwei Kameras beeilt sich
ebenfalls, den zu Ende gehenden Einsatz der
228 zu dokumentieren. Zum Fahrplanwechsel
soll ja damit Schluß sein. Die Beisitzerin in
dem Oranienburger Selbstfahrer schlägt inzwischen entnervt die Hände vor’s Gesicht.
Der Zug setzt sich in Bewegung und auch die
„Eisenbahnfreunde" starten auf der staubigen
Piste, als gehe es um den Großen Preis von
Monte was weiß ich wo.
Wir haben Brandenburg erreicht und der
rote Wagen ist noch in der Wertung - soll
heißen, der Kollege vollzieht mittels aller zur
Verfügung stehenden Fototechnik kultische
Handlungen am Bahnsteig der Städtebahn.
Bis der nächste Zug in Richtung Rathenow
abfährt, ist etwas Zeit, so daß man der Stadt,
die einem ganzen Bundesland ihren Namen
leiht, einige Blicke widmen kann. Die historisch wertvolle Bausubstanz in der Altstadt
und auf der Dominsel hat leider sehr gelitten.
Trotzdem kann sich der Besucher dem romantischen Hauch der alten Gassen schwer
entziehen.
Die Zeit reicht, um die Geschichte der
durch uns genutzten Bahn Revue passieren zu
lassen. Die Vollendung der Städtebahn ist
noch in den Tagen des Kaiserreichs anzusiedeln, die Vorgeschichte reicht natürlich weit
zurück. Bis zu Plänen für eine weiträumige
Umfahrung Berlins im Jahre 1880. Ernst wurde es, als am Ende des vorigen Jahrhunderts
ein „Bahnbaukomitee" der interessierten Landkreise aktiv wurde und die erforderlichen
Schritte zur Planung und Genehmigung einleitete. Das Engagement in dieser Hinsicht
bedarf für die heutige Zeit vielleicht einer
Erklärung: Landwirtschaft und Handwerk
waren darauf angewiesen, ihre Produkte mit
Pferdewagen oder vielfach zu Fuß in die Städte zu bringen, wo der Absatz der Produkte
gesichert war. Die Anlage von Eisenbahnen
war in jedem Fall ein die Wirtschaft belebender Faktor. Die Konkurrenz des Kraftwagens
auf verbesserten Straßen hat erst in jüngerer
Zeit Bedeutung bekommen. Zum Nachteil für
die einst die Wirtschaft fördemden Bahnen.
Was nicht unbedingt so bleiben muß. Nachdem 1898 ein Staatszuschuß gesichert war.
konnte 1901 mit dem Bau begonnen werden.
lm März 1904 wurde der Betrieb zwischen
Treuenbrietzen und Neustadt/Dosse aufgenommen.
Die Bedeutung der Bahn stieg im Ersten
Weltkrieg durch die Anlage von Sprengstoffwerken in Premnitz und Döberitz. In den
dreißiger Jahren wurde über eine Elektrifizierung nachgedacht, ohne das konkrete
Maßnahmen zu verzeichnen waren. In den sechziger Jahren wurde der Oberbau verstärkt,
um die Städtebahn als Umleitung bei Baumaßnahmen oder auch für militärische Zwecke
nutzen zu können. Ein hohes Güterverkehrsaufkommen war durch das Brandenburger
Stahlwerk und die chemische Industrie in
Premnitz zu verzeichnen. Die Gleise zwischen Treuenbrietzen und Belzig werden
gegenwärtig nicht befahren.
|
Blick aus dem Abteilfenster (der Städtebahn) auf das Bahnhofsgelände Rathenow. Foto: I. Köhler |
|
Kehren wir zurück in die Gegenwart. Der
nun aus drei Wagen bestehende Zug, der in
Brandenburg an dem abseits gelegenen Bahnsteig bereit gestellt wurde, ist schon etwas
besser besucht als die "Spielzeigeisenbahn“
in Belzig. Vielleicht fünfzehn Leute entern
die Wagen. Der Zug durchfährt zunächst die
größtenteils brachliegenden Industrieflächen
von Brandenburg. Nach diesem deprimierenden Ausblick auf niedergegangene Wirtschaft
entschädigt der Blick über Wiesen und Auen
in Richtung Havel. zu der die Bahnstrecke
parallel verläuft.
In Premnitz steigen einige jüngere Leute
zu, die ihrem Äußeren nach zu dem zählen,
was man gemeinhin nichtssagend als „Szene"
einstuft. Sie lassen sich im Nebenabteil nieder, um sich vernehmlich um mögliche
Gelegenheiten zum Schlagabtausch mit anders
orientierten Gruppierungen auszutauschen.
Bei der Einfahrt des Zuges in Rathenow fällt
die Präsenz einer größeren Zahl von Polizisten und Grenzschützem auf. Es scheint also
irgendwas im Gange zu sein. Auf dem Bahnhof bleibt es jedenfalls ruhig. Rathenow selbst
lohnt ob seiner mittelalterlichen Bauten zwar
einen Abstecher. Da es aber schon nach etwa
einer Stunde weitergehen soll, lohnt es sich
hier, das Bahnhofsgebäude zu besichtigen.
Die Fahrt über die ausgedehnten Wiesen
und Felder führt uns über Rhinow. Hier ist es
angebracht, sich an die Ursprünge einer anderen Fortbewegungsart zu erinnern. Rhinow ist
einer der Orte, an denen Otto Lilienthal seine
Flugversuche unternahm. Die östlich oder
rechts von der Bahn gelegene Hügelkette bot
sich als Startpunkt für Gleitflüge an. Doch
fand im August 1896 Lilienthal am Göllenberg bei Stölln auch sein tragisches Ende. Ein
Gedenkstein erinnert daran. Stölln liegt etwas
westlich vom Bahnhof und ist mit kurzem
Fußweg zu erreichen.
Wir nähern uns dem Endpunkt der ehemaligen Städtebahn. Neustadt an der Dosse. Das
klingt großartig. Wenig Stadt allerdings.
Macht nichts. Erfreuen wir uns an der Landschaft. Oder etwas nördlich des Bahnhofs
gelegen an dem partout nicht verwesen wollenden Ritter. Der heißt Kahlbutz und liegt
noch immer begrabenen Leibes im Ortsteil
Kampehl. Was wohl das Geheimnis dieses,
gewiß makaberen, Erfolgs sein mag? Die Wissenschaft streitet sich noch. Forschen wir also
selber. Eine Spur führt in die Bahnhofsgaststätte von Neustadt (an der Dosse,
natürlich). So kennen und lieben wir Bahnhofsgaststätten. Blick nach links: die städtische
Kampftrinkergilde hat sich versammelt und
tut ihr Werk wider den Teufel Alkohol. Er
wird gnadenlos vernichtet. Blick nach rechts:
Zwei Spielautomaten. Davor zwei Hocker.
Neben den Hockem liegt ein Mann mittleren
Alters und schnarcht vemehmlich. Kellnerin:
„Der ist vom Stuhl gerutscht. War wohl zuviel." Ist dies das Geheimnis von Kahlbutz?
In Alkohol eingelegt vorm Spielautomaten
zusammengesunken! Jedoch: Fragen über
Fragen. Gab es zu Zeiten des Ritters schon
Spielautomaten? Gab es schon die Bahnhofsgaststätte! Der Ritter nahm dieses Wissen mit
in sein Grab und liegt nun rum.
Die Preise für das Essen rechtfertigen ein
Verweilen in dieser Stätte der Gastlichkeit.
Wenige Minuten nach Bestellung verrät der
Glockenton aus der Küche: nicht Schmalhans, sondern Kollege Mikrowelle ist
Küchenmeister. Schmeckt trotzdem.
In den Schläfer vorm Spielautomaten ist
Leben eingekehrt: „Haajdie!". Kellnerin (ge-
langweilt): „Ja ?!“. Schläfer: „Mmmbrmpfssss ...". Trotz des tosenden Lebens in diesem
kulinarischen Tempel drängt es mit Macht ins Freie.
Eine Regionalbahn bringt uns zurück in
Richtung Berlin erst einmal nach Nauen. Der
vor kurzer Zeit noch die Atmosphäre vergangener Zeiten ausstrahlende Bahnhof wurde
inzwischen komplett umgebaut und bietet nun
den austauschbaren Einheitslook aller Neu- und Ausbaustrecken der Deutschen Bahn. Mit
dem nächstem Regionalzug geht es über satte
Wiesen in Richtung Spandau und weiter bis
zum Endpunkt Westkreuz.
Kurz zurück zum Anfang: viel hat das "Schöne Wochenende" dieser Art von Nebenbahnen
nicht gebracht. Auf den Hauptstrecken ist
mit Überfüllung zu rechnen, die Nebenstrecken leiden weiter unter ihren Mängeln:
schlechte Umsteigebeziehungen. umständliche Betriebsführung, lange Wege in die
Ortskerne. Daran ändern auch Dumpingpreise
nichts. Die bewirken nur eines: es wird vergessen, das auch Reisen Teil des allgemeinen
Konsums ist. der letzt endlich seinen Preis hat.
Strukturelle Verbesserungen auch auf den
Nebenbahnen sind nötig und möglich. Genug
sinniert, widmen wir uns wieder der Wirklichkeit.
Der Gang von der Regionalbahn zum S-Bahnsteig wird begleitet von hochfrequenten
Geräuschen. War heute nicht was? Ja, gewiß,
auf der nahen AVUS werden Runden gedreht
und Hunderte gucken zu. Die Großstadt hat
uns wieder. Schönes Wochenende. Na ja. Jeder auf seine Weise. Ivo Köhler
|