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Berliner Verkehrspolitik: Nachruf und Ausblick

Bei den Neuwahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus am 29. Januar 1989 verlor der bisher von CDU und F.D.P. gestellte Senat seine Mehrheit. Die F.D.P. ist im neuen Abgeordnetenhaus überhaupt nicht mehr vertreten. Die großen Stimmenverluste für die bisherigen Regierungsparteien sind auch eine Folge der vorwiegend am Autoverkehr orientierten Verkehrspolitik des bisherigen Senates und insbesondere seines Verkehrssenators Edmund Wronski. Deshalb wollen sich die neuen Regierungsparteien SPD und Alternative Liste (AL) nicht auf Verbesserungen für den öffentlichen Verkehr sowie für Fußgänger und Fahrradfahrer beschränken, sondern gleichzeitig den von immer mehr Menschen als Belastung empfundenen Autoverkehr bremsen.

Während beim bisherigen Senat für Autobahnen, Straßenausbauten, Tiefgaragen und Parkhäuser stets genug Geld da war, wurden Ausbau und Betrieb des umweltfreundlichen öffentlichen Nahverkehrs allzu oft wegen angeblicher Finanzierirungsprobleme und zahlreicher anderer "Sachzwänge" gebremst. Insbesondere beim Ausbau des 1984 von der Deutschen Reichsbahn übernommenen S-Bahn-Neztes ist der Senat vollständig gescheitert. Senator Wronski ließ sich von der Baulobby und den "High-Technikern" regelrecht über den Tisch ziehen. Der U-Bahn-Bau wurde zu Lasten der S-Bahn weniger eingeschränkt als versprochen; und die Investitionsmittel für die S-Bahn wurden nicht nur für die Instandsetzung, sondern für die Vergoldung, vor allem für nicht notwendige High-Tech-Prestigeobjekte eingesetzt wie z.B. die neue Zugsicherungstechnik EZS 800. Neben notwendigen Modernisierungen verschlangen solche Objekte so viel von den 1985 bis ’88 in die S-Bahn gesteckten rund 360 Mio DM an GVFG-Mitteln, daß in den letzten vier Jahren mit Ausnahme des zweiten Gleises nach Frohnau und dem danach Ende 1986 eingeführten 10-Minuten-Takt keine einzige Verbesserung für die Fahrgäste erreicht wurde.

Nun soll alles besser werden. Das zumindest haben sich SPD und AL vorgenommen. Als wesentliches Element einer ökologisch orientierten Stadtpolitik soll es bei der Verkehrspolitik eine Wende weg von der Bevorzugung des Autoverkehrs hin zur Bevorzugung von Bahnen, Bussen, Fahrradfahrern und Fußgängern geben. Nachstehend dokumentieren wir die Kurzfassung der Ergebnisse der Koalitionsverhandlungen von SPD und AL zur Verkehrspolitik vom 6. März 1989 im Wortlaut. Eine Bewertung folgt in SIGNAL 4/89 .

Grundsatz

Die bisherige Politik der sogenannten "Gleichrangigkeit der Verkehrsarten" hat zu einer nicht länger hinnehmbaren Zunahme des Autoverkehrs geführt, dessen heutiges Ausmaß weder umwelt- noch stadtverträglich ist. Jede weitere Zunahme würde der Lebensqualität in der Stadt Schaden zufügen. Der Senat wird dem ÖPNV, dem Fahrradverkehr und den Fußgängern Vorrang gewähren und die negativen Folgen des motorisierten Individualverkehrs abbauen.

S- und U-Bahn-Bau

Der Senat will langfristig das gesamte in Berlin (West) vorhandene S-Bahn-Netz wieder in Betrieb nehmen. Die Mittel für den Ausbau des öffentlichen Schienennahverkehrs sollen von 170 Mio. DM auf 380 Mio. DM jährlich erhöht werden.

Vordringliches Ziel ist es, den S-Bahn-Ring vom Bf. Gesundbrunnen bis S-Bf. Sonnenallee wieder in Betrieb zu nehmen. Dabei wird die Inbetriebnahme des Südringes verknüpft mit der Inbetriebnahme der Radialstrecke nach Lichterfelde Süd (S6), die Inbetriebnahme des Nordringes mit der Inbetriebnahme der Radialstrecke nach Rathaus Spandau (S5). Es wird angestrebt, vordringlich alle Maßnahmen zu realisieren, die für den Fahrbetrieb erforderlich sind. Dabei wird angestrebt, den Fahrbetrieb auf dem S-Bahn-Südring Ende 1992 aufzunehmen, auf der Linie S6 Mitte 1993. Der Fahrbetrieb auf dem S·Bahn-Nordring sowie auf der S5 soll 1993/94 aufgenommen werden.

Der Senat ist der Auffassung, daß die Fortführung des U-Bahn-Baus aus verkehrs-, wirtschafts- und arbeitsmarktpolitischen Gründen sinnvoll ist; die vorhandenen U-Bahn-Baukapazitäten sollen kontinuierlich in Anspruch genommen werden. Im Anschluß an das Ende des U-Bahn-Rohbaus in Reinickendorf werden die U-Bahn-Bauarbeiten mit der Verlängerung der U9 mit einem jährlichen Finanzvolumen von 60 Mio. DM fortgesetzt, um durch eine Verknüpfung von U9 und S6 eine Schnellbahnverbindung vom S-Bf. Lankwitz nach U-Bf. Rathaus Steglitz (niveaugleicher Anschluß an S6) zu erreichen. Nach Inbetriebnahme des S-Bahn-Rings sowie der beiden Radialstrecken soll das Mittelvolumen für den Bau der U9 so erhöht werden, daß diese 1996 in Betrieb gehen kann.

BVG-Tarife

Die beiden Verhandlungspartner stimmen darin überein, kurzfristig eine übertragbare "Umweltkarte" (Netzkarte; je Monat 65,- DM bzw. 50,- DM im Jahres-Abonnement) einzuführen. Die Schülernetzkarte für 32,- DM je Monat und das Ausbildungsticket für 38,- DM je Monat bleiben erhalten; im Jahresabonnement beträgt der Preis jeweils 30,- DM monatlich.

BVG-Verkehrsangebot

Die Attraktivität des ÖPNV soll durch eine Ausweitung des Busspur-Netzes, eine Grüne Welle für Busse, die Einrichtung von Haltestellen-Kaps, die Verkürzun der Taktzeiten und durch die Ausdehnung bedarfsorientierter Systeme erhöht werden. Die Nutzbarkeit der öffentlichen Verkehrsmittel für Behinderte soll durch entsprechende Fahrzeuge und Ausstattung der Bahnhöfe verbessert werden.

Straßenverkehr

Der Senat wird ein flächensparendes Stellplatzkonzept zur Förderung der Attraktivität des ÖPNV entwickeln.

Das gefährlich hohe Geschwindigkeitsniveau im Straßenverkehr soll durch geeignete Maßnahmen gesenkt werden. Tempo 50 soll nur noch in solchen Straßen gelten, die eine eindeutig überwiegende Verkehrsfunktion haben und keine Unfallschwerpunkte aufweisen.

Der Senat wird den Fahrradverkehr durch Velorouten und Fahrradstreifen statt enger Gehweg-Radwege und durch fahrradfreundliche Ampelregelungen fördern. Er wird den Fußgängerverkehr durch bessere Ampelschaltungen, Bestandsschutz für Gehwegflächen und neue Bahnhofszugänge sichern und Benachteiligungen aufheben.

Fernverkehr

Im Fernverkehr muß die umwelteundliche Eisenbahn wieder stärkere Bedeutung bekommen. Über den Bau der Hochgeschwindigkeitsstrecke nach Hannover hinaus so der Eisenbahnverkehr durch Verbesserungen auf den anderen Strecken sowie den Abbau von Wettbewerbsnachteilen der Eisenbahn gegenüber den umweltschädlicheren Verkehrsträgern wieder attraktiver werden.

Der Ausbau des Flughafens Tegel soll ebensowenig weiterverfolgt werden wie der Ausbau des Flughafens Tempelhof. Es wird angestrebt, die Zahl der Flugbewegungen im Inlandsverkehr mindesten auf den Stand des Sommerflugplanes 1987 zurückzuführen.

Dringend erforderlich sind Verbesserungen im Eisenbahn-Güterverkehr, um die Belastung der Stadt durch den zunehmenden LKW-Verkehr zu reduzieren. Die Planungen für den Aufbau eines dezentralen Schienengüterverkehrssystems, insbesondere den gleichzeitigen Bau mehrerer Güterverkehrszentren, werden unverzüglich aufgenommen.

Die Verhandlungspartner stimmen darin überein, daß die Spandauer Schleuse nicht ausgebaut wird.

Der geplante Grenzübergang am Schichauweg ist unter ökologischen Gesichtspunkten nicht akzeptabel. In Verhandlungen soll erreicht werden, daß stattdessen die umweltverträglichste Alternative verwirklicht wird.

IGEB

aus SIGNAL 3/1989 (März 1989), Seite 4-5

 

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