Eigentlich war es recht eng im Zug. Fast eine
halbe Stunde lang so dicht an dicht zu stehen,
ist nicht gerade mein Fall. Aber da wurde der
Sitzplatz vor mir frei. Ich konnte mich schnell
setzen, ohne auf ältere Damen oder andere
Leute Rücksicht zu nehmen, denen nach
Konvention und Höflichkeit das Vorrecht
zugestanden hätte. Um ein schlechtes Gewissen gar nicht erst aufkommen zu
lassen, vermied ich den Blick nach oben, vertiefte mich
stattdessen in meine Zeitung, die ich so zum
drittenmal von hinten nach vorne durchlas.
Langsam gewöhnte ich mich an das "Fscht-Tsch, Fscht-Tsch, Fscht-Tsch"
vom Walkman
schräg gegenüber, und sogar ein rhytmisches
"Ft-fff, Ft-fff" links neben mir verlor seine
enervierende Penetranz. Ich wandte mich der
im Dunkel vorbeifliegenden Tunnelwand zu
und überließ mich dem wohligen Gefühl des
Gefahrenwerdens.
"... und Seestraße kann der Zugverkehr nur
mit Verzögerung abgewickelt werden. Längere Wartezeiten werden sich
nicht ergeben.
Wir bitten um ihr Verständnis? - Fahrgastinformation im fahrenden Zug?
Das war neu.
Gar kein schlechter Gedanke, vor allem,
wenn der Zug plötzlich stehen bleibt. Die
BVG macht sich!
Leopoldplatz. Übergang zu den Linien U6
und U16. Stirmnt, man kann jetzt wieder direkt nach Neukölln durchfahren. Immer
abwechselnd: ein Zug nach Mariendorf, ein
Zug nach Britz. Eilige steigen Mehringdamm
um, sie haben sofort Anschluß. Altere Leute,
Familien mit Quängelgeistern, Kinderwagen
oder Fahrrad fahren besser mit dem nächsten
Zug ohne Umsteigen durch. Sehr bequem,
und genügend Gepäckraum ist jetzt auch
vorhanden.
Schön, daß die Stirnwände der Wagen wieder
Fenster haben. Freier Durchblick nach vorne
und nach hinten. Es gibt kaum noch Anpöbeleien.
Wenn der Ordnungsdienst in den nächsten Wagen steigt, genügt ein Zeichen.
Außerdem: der Knopf für den Notruf, ab 19 Uhr
in Betrieb. Bei Betätigung optische und akustische
Anzeige, und im nächsten Bahnhof
steht Aufsicht oder Ordnungsdienst bereit.
Selbst Tante Grete fährt wieder Bahn und
fühlt sich sicher, da die Idee mit den "personalfreien" Bahnhöfen endgültig zu den
Akten gelegt wurde.
"Hier ist die zentrale Leitstelle der BVG mit
einer Durchsage für die Fahrgäste der Linie
U9. Der Autobusverkehr auf dem Kurfürstendamm wird wegen einer Veranstaltung
umgeleitet. Sie erreichen die Linien 9, 19, 29,
69 und 73 zur Zeit am U-Bahnhof Spichernstraße. Ich wiederhole ... "
Was ist jetzt? Sonnenschein, frische Luft,
Menschen, Häuser, Jejend ... S-Bahn. Von
Heiligensee nach Lichterfelde, von Zoo nach
Neukölln ohne Umsteigen. Mit 100 Sachen
durch den Grunewald. Nebenan die Autos
dürften eigentlich nur 80 fahren, aber selbst
die Brummis ziehen immer wieder vorbei.
Zischend öffnet sich die Tür. Zwei Frauen mit
Kindern steigen ein. Hinter ihnen schließt die
Tür sich automatisch wieder, wie die Mitteltür
beim Bus. Das gibt zwar ein paar Schließvorgänge mehr,
aber dafür bleibt der Wagen
auch im Winter warm, und der ewige Streit
unter den Fahrgästen ("Tür zu!!") gehört der
Vergangenheit an.
Lichterfelde West. Eine freundliche Durchsage:
"Sie haben Anschluß: Bus 11 Richtung
Dahlem in drei Minuten, Richtung Marienfelde in vier Minuten, Bus 68 Richtung ..."
Fahrtreppe runter, Fahrtreppe rauf. Der
bequemere Weg ohne Stufen geht um das
Empfangsgebäude herum. Die Busse stehen
unmittelbar am Ausgang, alle auf dieser Straßenseite.
Nicht drängeln, es sind noch gut
zwei Minuten bis zur Abfahrt. Selbst die alte
Dame mit dem Stock schafft es.
Ich erwische den Platz neben dem Fahrer. Ein
Summton zeigt die fahrplanmäßige Abfahrtszeit an. Der Kapitän läßt noch zwei junge
Leute einsteigen, dann fordert er per Knopfdruck an den nächsten beiden
Verkehrsampeln grün an. Als die Bestätigung kommt,
schließt er die Tür, und los geht’s. Links
abbiegen, rechts abbiegen. Auf freier Busspur
zügig bis zur nächsten Haltestelle.
Anttilaplatz. Umsteigen zu den Linien 25, 84
und 96. Aus- und insteigen unmittelbar an
der Straßenkreuzung, kein Trimm-Dich-Lauf
mehr in Wind und Regen über 100, 150 Meter
zur Ecke und dann noch zur anderen Haltestelle weit hinten. Die Anschlüsse klappen
auch. Länger als vier Minuten braucht man
wohl nirgends fürs Umsteigen.
"Hier ist die Verkehrsleitstelle mit einer Zeitdurchsage. Es ist jetzt 16 Uhr 15." Es gibt
keine " Verfrühungen" mehr...
Plötzlich ist die Busspur nicht mehr so frei,wie
sie sein sollte. Ein Autofahrer hat sie als Parkplatz benutzt. Damals, als die
durchgehenden
Busspuren eingerichtet wurden, mußte die
Verkehrspolizei alle 200 Meter einen Posten
aufstellen. Die gewitzten Autofahrer erlagen
immer wieder den Verlockungen einer freien
Fahrspur. Aber schon nach den ersten vier
Wochen hatten die pausenlosen Kontrollen
Erfolg. Heute wagte sich kaum noch jemand
auf eine Busspur. Aber vor uns parkt eben
doch einer. Der Busfahrer hält an, ruft die
Leitstelle, gibt Wagenart, Farbe und Kennzeichen durch, während Ort und Uhrzeit
automatisch registriert werden. Dann geht es
vorsichtig am Hindernis vorbei. Inzwischen
unterrichtet die Leistelle Polizei und Abschleppdienst. Der nächste Bus wird schon
wieder freie Fahrt haben.
Die Kontrollampe zeigt an, daß der Bus jetzt
mehr als eine Minute Verspätung hat. Der
Fahrer fordert eine Vorrangschaltung an. Die
nächsten Verkehrsampeln können nun direkt
durch den Bus gesteuert werden ...
S-Bahnhof Mariendorf. Nicht nur, daß die
Autofahrer voller Neid auf die vorbeifahrenden Busse sehen, sie können auch die
S-Bahnhöfe beim besten Willen nicht mehr
übersehen. In riesigen Lettern, quer über die
Straße, prangen das Symbol der Schnellbahn
und der Bahnhofsname. So ist es auch
vielen anderen Bahnbrücken im Stadtgebiet.
Die Verkehrsverwaltung ist nicht der Versuchung erlegen, diese Flächen der Werbung
zur Verfügung zu stellen, sondem sie hat sie
geschickt dazu benutzt, den öffentlichen
Nahverkehr populär zu machen.
Weiter geht’s. Au! Jetzt habe ich mir den Kopf
gestoßen! Wo sind wir denn hier?? Ich bin ja
schon viel zu weit gefahren! Bloß raus! -
"EINSTEIGNNNN!" - Schmerzhaft dröhnt
der Lautsprecher über mir. "ZRÜCK-BLEIBNNNN!!".
Ach ja. Aus der Traum. Schade Ob wir
jemals in Berlin erreichen werden, was in
anderen Städten schon selbstverständlich
geworden ist?
Jörg Reeck, Berlin-Mariendorf
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