Planung

Bahnhofsplanung in Berlin Weichenstellungen für das nächste Jahrhundert

Ende Oktober vorigen Jahres legte die Deutsche Eisenbahn Consult (DE-Consult) auf einem öffentlichen Symposium eine “Eisenbahnkonzeption für Berlin" vor. Die Untersuchung war im Auftrag der damaligen Senatsverwaltung für Arbeit, Verkehr und Betriebe entstanden und stellte ein Zwischenergebnis dar. Inzwischen soll das Gutachten fertiggestellt sein und dem Auftraggeber, der Senatsverwaltung für Verkehr und Betriebe, vorliegen. Soweit in der Öffentlichkeit bekannt, hat sich an den im Oktober 1990 vorgestellten Planungen nichts Grundlegendes geändert. Da das Gutachten noch nicht zugänglich gemacht wurde, kann auch nicht beurteilt werden, inwiefern alternative Planungen (z.B. der BI Westtangente) solide untersucht und geprüft worden sind.

Es ist aber zu befürchten, daß dies nicht der Fall ist und daß die “Achsenkreuz-Lösung" nach wie vor im Mittelpunkt der Eisenbahnkonzeption steht. Nach Presse-Berichten (vgl. Tagespresse vom 23.4.91) ist diese Lösung von der Senatsverwaltung für Verkehr und Betriebe bereits für den Bundesverkehrswegeplan angemeldet worden. Damit werden auf administrativer Ebene einer Fachverwaltung Entscheidungen für die gesamte Berliner Stadtentwicklung getroffen, deren unabsehbare Folgen weit über die Zuständigkeit und den fachlichen Horizont dieser Verwaltung hinausgehen. Angesichts des aufwendig inszenierten Diskussionsprozesses zum Thema Stadtidee ist es geradezu grotesk, wenn entwicklungsplanerische Weichenstellungen von säkularer Tragweite hinter verschlossenen Türen getroffen werden. Lage und Zahl der Fernbahnhöfe, speziell der Haltepunkte im EuroCity (EC)-, Inter-City (IC)- und InterRegio (IR)-Verkehr, die Vernetzung des Eisenbahnfernverkehrs mit dem Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV), die städtebauliche Funktion und Gestaltung der Bahnhöfe und ihrer Umfelder sowie - nicht zuletzt - die Realisationszeiträume und Ausbaustufen der komplexen Personen- und Güterverkehrsplanungen entscheiden wesentlich darüber, wie und wo sich die städtebauliche Entwicklung Berlins in den nächsten Jahrzehnten vollzieht.

Diese These mag angesichts der stagnierenden bis rückläufigen verkehrspolitischen Bedeutung der Bahn überzogen klingen. Andererseits zeichnet sich in allen hochentwickelten Metropolen die wachsende Bedeutung integrieter Verkehrskonzeptionen ab, in denen der Vernetzung der schienengebundenen Systeme des Fern-, Regional- und Stadtverkehrs eine entscheidende Rolle für die Erschließung der Zentren zufällt. Das Zeitalter des Autos geht in den Metropolen unweigerlich zu Ende. Die Lobby für Stadtautobahnen und “Schnellstraßen-Ringe" wird diesen Prozeß nicht aufhalten, allenfalls auf Kosten der Umwelt und der Menschen verzögern können.

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Angenommene Streckenbelastung im Stadtgebiet durch den Personenfern- und Regionalverkehr. Abbildung: DE-Consult

Um so erstaunlicher ist es, daß - allem Anschein nach - die Stadtentwicklungspolitik das zukunftsweisende Feld der Netzgestaltung und Bahnhofsplanung den Verkehrsplanern überläßt und bereit ist, die Ergebnisse als Vorgaben der städtebaulichen Entwicklung zu akzeptieren. Mangels alternativer Konzepte und integrierter Szenarien kann das von der Senatsverkehrsverwaltung getragene Einsenbahnkonzept offensichtlich einen hohen Grad politischer und öffentlicher Zustimmung für sich verbuchen. Dies geht soweit, daß sich die Koalition aus SPD und CDU schon auf den Nord-Süd-Tunnel und einen Fernbahnhof Lehrter Straße festgelegt zu haben scheint, obwohl das DE-Consult-Gutachten in ausgearbeiteter Form noch gar nicht vorliegt.

Bahnhofsplanung ist Stadtplanung

Nach den Planungen der DE-Consult soll im Jahre 2010 das Fahrgastaufkommen von 1937 (wieder) erreicht werden. Im Gegensatz zu 1937 würden sich die Fahrgäste im Fernreiseverkehr jedoch nicht auf zehn Fernbahnhöfe verteilen (fünf Kopfbahnhöfe und fünf Fernbahnhöfe auf der Stadtbahn), sondern auf vier Bahnhöfe konzentrieren: Zoologischer Garten, Lehrter Bahnhof, Yorkstraße und Hauptbahnhof. (Betrachtet man nur den Hochgeschwindigkeitsverkehr, dann ist sogar nur mit einem Haltepunkt zu rechnen!)

Welchem Bahnhof in diesem hierarchischen Modell die zentrale Rolle zufällt, zeigt das rechts abgebildete Streckenbelastungsdiagramm. Mit rd. 200 Zugpaaren (nur Fern- und Regionalverkehr) pro Tag würde im Lehrter Bf. praktisch dieselbe Anzahl von Zügen abgegertigt wie 1937 in sämtlichen fünf Kopfbahnhöfen Berlins zusammen.

Durch die Konzentration sowohl des Fern- wie des Regionalverkehrs am Lehrter Bahnhof würde sich an dieser Stelle eine in der Innenstadt einzigartige verkehrliche Zentralität herstellen, die sich sehr schnell in einer gigantischen ökonomischen Aufwertung und damit in einer grundlegenden Umstrukturierung des Gebiets um den jetzigen Lehrter Stadtbahnhof widerspiegeln könnte. Nicht nur der Bahnhof selbst, sondern auch sein Umfeld aus Hotels, hochwertigen Einkaufs- und Dienstleistungszentren, Vergnügungs-, Tagungs- und Veranstaltungseinrichtungen würde eine neue stadträumliche Zentralität schaffen, die weit nach Moabit, in den Bezirk Mitte, aber auch nach Süden in den Tiergarten ausstrahlen würde.

Zu dieser Entwicklung tragen auch die modernen Unternehmensstrategien der Staatsbahnen in Westeuropa bei, die ein immer gößeres Gewicht auf die wirtschaftliche Verwertung zentralörtlicher Aufwertungseffekte ihrer Planungen und Investitionen legen. Damit wird der eigentliche Auftrag der Bahn, einen wichtigen umweltfreundlichen Verkehrsträger im Sinne der Ziele der Raumordnung vorzuhalten und zu entwickeln, gewissermaßen "überlagert" von eigenwirtschaftlichen Absichten, vor allem der Liegenschaftsverwertung. Die auch in dieser Hinsicht wohl führende Schweizerische Bundesbahn (SBB) erwirtschaftete 1990 immerhin einen Ertrag von 175 Millionen Franken aus ihren Liegenschaften, das entspricht 13% ihrer Einnahmen aus dem Personenverkehr.

Bahnhöfe sind nicht mehr nur Verkehrseinrichtungen zur Erschließung der Innenstadt, sondern selbst City. Eine spezifische Bahnhofsarchitektur gibt es folgerichtig nicht mehr. Moderne Bahnhöfe sind unsichtbar, sie liegen versteckt unter viel Beton oder in der Erde. Da, wo historische Bahnhofsgebäude vorhanden sind, dienen sie - völlig unabhängig von der funktionellen Organisation des eigentlichen Bahnhofes - als romantische Shopping-Kulisse.

Bahnhofsplanung ist also Stadtplanung. Dieser Zusammenhang spielt in der Berliner Debatte um den Standort eines zukünftigen Hauptbahnhofes bislang nur eine untergeordnete Rolle. Zu sehr wird die Bahnhofsfrage als verkehrsplanerische Detail-Aufgabe gesehen, deren Unterhaltungswert nicht mit dem publikumswirksamer Hochglanz- und Computer-Entwürfe internationaler Designer-Architekten konkurrieren kann.

Wann endlich endeckt die Stadtplanung die Bahnhofsplanung?

Umsteige- oder Zentralbahnhof - eine Scheinfrage

Das begriffliche Verwirrspiel um die Frage, ob es sich bei dem geplanten Kreuzungsbahnhof mit der Stadtbahn um einen Zentral-, Haupt- oder lediglich Umsteigebahnhof handelt, ist die Kehrseite der fehlenden stadtentwicklungsplanerischen Analyse und Bewertung des Bahnhofsprojektes. So redet die Deutsche Reichbahn von einem Zentralbahnhof für den EC-, IC- und IR-Verkehr (man möchte Haltepunkte einsparen). Die DE-Consult und die Verkehrsverwaltung bevorzugen den unverfänglichen Begriff des Umsteigebahnhofes. Und in der Senatwerwaltung für Stadtentwicklung denkt man gar an einen "Regionalbahnhof”, als handle es sich um eine Investitionsmaßnahme im Maßstab eines S-Bahnhofes.

Wie sehr sich konzeptionelle Unsicherheit in Widersprüchlichkeiten verstrickt, kommt in solchen Sätzen zum Ausdruck: “Der Umsteigebahnhof am Lehner Stadtbahnhof hegt günstig zur Erschließung des Zentralen Bereiches". Was, so fragt man sich, haben die umsteigenden Fahrgäste davon, daß sie 500 m vom Reichstag entfernt vom IC Frankfurt - Berlin in den IC Berlin - Rostock wechseln? Und das in Tunnel-Lage.

Damit stellt sich eine weitere spannende Frage: Wieviele Fahrgäste steigen in Berlin eigentlich um? Wieviele fahren im Fernverkehr über Berlin zu einem anderen Ort? In Münster/Westfalen steigen 60% der Fahrgäste ein bzw. aus. 40% fahren über Münster zu einem anderen Ziel. In Berlin soll der Anteil der Durchreisenden nach Auskunft der DE-Consult 50% betragen. Wenn diese Zahl zutrifft, sollte man besser auf den Haupstadt-Titel verzichten und jeden zweiten Zug über den Außenring an Berlin vorbeifahren lassen!

Aber an den Zahlen der DE-Consult darf wohl gründlich gezweifelt werden: “Eine direkte Nord-Süd-Verbindung für den Personenfernverkehr durch das innere Stadtgebiet", so hieß es in den Ausschreibungsunterlagen zum Hauptstadtwettbewerb von 1957, “ist nicht beabsichtigt. Da von allen Reisenden, die Berlin berührten, nie [!] mehr als 3 bis 3,5% Durchgangsreisende waren [und wieviel davon wohl “Umsteiger"?], wären weder die für ein solches Vorhaben erforderlichen finanziellen Aufwendungen noch die städtebaulichen Folgen zu rechtfertigen." Eine bemerkenswerte Äußerung, wenn man bedenkt, daß die Hauptstadtplaner von 1957 sich nicht gerade durch einen besonders zimperlichen Umgang mit der vorhandenen Stadt auszeichneten.

Vom “schönsten” zum “größten” Bahnhof?

Zweifellos war der 1869 bis 1871 nach Plänen von Lent, Scholz und Lapierre errichtete Lehrter Bahnhof der "schönste" Bahnhof Berlins. Er galt als “das Schloß" unter den Kopfbahnhöfen der Hauptstadt (obwohl sich schon früh Kritiker über das bombastische verglaste Portal mokierten, in dem man vergeblich nach einem Eingang suchte. Den die Eingänge lagen unscheinbar an den Seiten).

Hinsichtlich der verkehrlichen Bedeutung stand der Bahnhof vor dem Zweiten Weltkrieg mit 28 Zugpaaren/Tag an vorletzter Stelle in der Rangliste der Berliner Fernbahnhöfe. Von den fünf Kopfbahnhöfen spielten der Anhalter Bahnhof mit 66 Zugpaaren für die Süd-Relationen und der Stettiner Bahnhof mit 68 Zugpaaren für die Verbindungen nach Rostock und Stettin die zentrale Rolle. Der Lehrter Bahnhof bediente die Strecken nach Nord-West-Deutschland, die jedoch auch - wie heute noch - über die Stadtbahn angeschlossen waren.

Die begrenzte verkehrliche Bedeutung des Lehrter Bahnhofes spiegelte sich auch im gesamten städtischen Umfeld und in der sehr dürftigen Vernetzung mit den öffentlichen Verkehrsmitteln wider. Das Umfeld war durch Einrichtungen von lokaler bis regionaler Bedeutung geprägt: Charité, Urania und der Landesausstellungspark. Dem gegenüber erschlossen der Stettiner Bahnhof (später Nordbahnhof) im Norden und der Anhalter Bahnhof im Süden die wichtigste hauptstädtische Entwicklungsachse der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: die Friedrichstraße. In den 30er Jahren wurden die beiden Kopfbahnhöfe durch die Nord-Süd - S-Bahn miteinander verbunden. Die Verknüpfung mit den Ost-West-Relationen der Fernbahn sowie den S- und U-Bahnen erfolgte auf dieser Linie am verkehrsmäßig exzellent erschlossenen Bahnhof Friedrichstraße. In dieser Hinsicht folgerichtig wurde der Lehrter Bahnhof in den Eisenbahnkonzeptionen der Hauptstadtplaner Mitte der 50er Jahre zugunsten des Stettiner Bahnhofes (so wie der Potsdamer Bahnhof zugunsten des Anhalter Bahnhofes) aufgegeben.

Wenn der Lehrter Bahnhof nun seit der Maueröffnung - praktisch alternativlos - unter ausdrücklichem Bezug auf ausgewählte historische Vorläufer-Planungen (Hauptstadtmodelle des Wettbewerbs von 1910, Mächler-Achse 1918) präferiert wird, so müssen dafür entweder (keineswegs ausreichende) sektoral-fachplanerische Aspekte und/oder Gründe der Liegenschaftsverwertung sprechen, die bislang noch nicht offen in die Debatte eingeflossen sind. Aus dem tatsächlichen Verlauf der Berliner Stadtentwicklung und Verkehrsgeschichte lassen sich jedenfalls nicht die Argumente für einen Zentralbahnhof an dieser Stelle der Innenstadt gewinnen - es sei denn, man will eine neue hauptstädtische Entwicklungsdominante durch den Tiergarten legen, wie es in Anlehnung an die Lennésche Siegesallee Mächler und schließlich Speer geplant hatten.

Ins Herz der Stadt! - Aber dann?

Der wesentliche Systemvorteil der Eisenbahn ist der behinderungsfreie Transport von großen Verkehrsmengen in das Zentrum der Stadt. Er kommt nur zum tragen, wenn der Personenfernverkehr mit einer leistungsfähigen Infrastruktur des ÖPNV verbunden ist. “Die gute Erreichbarkeit des Zentrums und eine Verknüpfung mit den Verteilsystemen, vor allem mit dem öffentlichen Personennahverkehr, sind also Vorraussetzung für das Angebot der Bahn." (DE-Consult: Eisenbahnkonzeption für Berlin, Oktober 1990).

Dieses, die Attraktivität der Bahn und des ÖPNV wesentlich bestimmende Standort-Kriterium für einen Fernbahnhof steht in der vorgelegten Eisenbahnkonzeption jedoch grundsätzlich infrage. Lediglich eine S-Bahn-Linie erschließt gegenwärtig das Gebiet des Lehrter Stadtbahnhofes. Um eine befirieditgende Verküpfung eines Zentralbahnhofs mit dem ÖPNV-System zu gewährleisten, müßten nach den Planungen der Senatsverwaltung für Arbeit, Verkehr und Betriebe aus dem Jahr 1990 mindestens je zwei U- und zwei S-Bahn-Linien neu geschaffen und an den Bahnhof angebunden werden. Und selbst diese Verbindungen wären nur “Umsteigelinien” zu den weiträumigen Nord-Süd-Strecken von S- und U-Bahn an den Knotenpunkten Friedrichstraße, Alexanderplatz und Zoologischer Garten. (So gesehen hätte der Lehrter Bahnhof dann den Namen “Umsteigebahnhof" verdient!)

Die Herstellung der erforderlichen ÖPNV-Anbindung im Bereich Lehrter Straße/Invalidenstraße erfordert erhebliche Investitionen des Landes Berlin, die angesichts der bereits bestehenden Bedarfe im Bereich der öffentlichen Infrastruktur (z.B. Verknüpfung der ÖPNV-Schienennetze zwischen den beiden Stadthälften und Ausbau in das Umland, Sanierung des S-Bahn-Ringes, Sanierung und Fortführung der Straßenbahnen, notwendige Streckenergänzungen im U-Bahn-Netz) utopisch anmuten. Eine verzögerte oder mangelhafte Verknüpfung des Zentralbahnhofes mit dem ÖPNV würde zwangsläufig die Forderung nach einem verbesserten Straßenanschluß und mehr Flächen für den parkenden Verkehr auslösen. Dieser “Sachzwang" würde die realen verkehrspolitischen Notwendigkeiten auf den Kopf stellen und die allgemein gewünschte Neudefinition des modal split zwischen ÖPNV und motorisiertem Individualverkehr zugungunsten der öffentlichen Systeme wesentlich erschweren.

Das Korsett um Moabit wird enger

Kein anderes Stadtquartier Berlins ist von einem so dichten Netz verkehrlicher Infrastruktur eingeschnürt wie Moabit. Beusselstraße, Stromstraße, Perleberger/Rathenower und Paulstraße sowie die Heidestraße sind hochbelastete Nord-Süd-Verbindungen und West-Umfahrungen der historischen Innenstadt. Nach der Maueröffnung haben die Ost-West-Verkehre - Invalidenstraße/Alt Moabit - um 74% zugenommen, und zu allem Überfluß wurde in einem Verkehrsgutachten zum Zentralen Bereich Mitte vorigen Jahres noch der Bau einer weiteren Ost-West-Straßenverbindung zwischen der Reinhardtstraße und Alt Moabit über den Humboldthafen vorgeschlagen - und ungeprüft in die Planungen der zuständigen Senatsverwaltungen übernommen.

Es ist bis heute nicht untersucht worden, wie sich die Massierung des Durchgangsverkehrs auf die gründerzeitlichen Quartiere auswirkt. Speziell Moabit ist als Insel mit wenigen, schon heute teilweise völlig überlasteten Brücken nicht geeignet, weitere Pkw-Mengen aufzunehmen und abzuführen. Es gibt keine Untersuchung über die Folgen einer weiteren Belastung dieses Stadtteils durch den motorisierten Individualverkehr auf die Lebensqualität der Wohnviertel, die Entwicklungsperspektiven des Geschäftszentrums Turmstraße und die Aufenthaltsqualität der wenigen Grünflächen wie dem einen Tiergarten, der sich immer mehr in eine Verkehrsinsel verwandelt.

Ebensowenig gibt es eine Verzahnung der unterschiedlichen verkehrsplanerischen Konzepte im Bereich der Straßenplanung und der Eisenbahnplanung. Legt man einmal die verschiedenen Planungskonzepte, die gegenwärtig ernsthaft diskutiert werden, folienartig übereinander, so kann man sich des Eindruckes der Absurditat der vorliegenden Fachplanungen nicht erwehren (s.nebenstehende Skizze).

Karte
Da ist zunächst die Fernbahnplanung mit dem Bahnhofskreuz in Nord-Süd-, bzw. in Ost-West-Richtung. Dazu kommen der vorhandene S-Bahnhof Lehrter Stadtbahnhof sowie zwei weitere U-Bahnhöfe im Bereich Invalidenstraße, so daß sich insgesamt fünf Bahnhöfe im Bereich dieses Knotenpunktes über- und unterlagern. Höhepunkt der Ingenieurleistung: da, wo das Bahnhofs- und Trassenwirrwarr am dichtesten ist, soll auch noch die Nord-Süd-Straße gemäß Flächennutzungsplan von 1984 aus ihrer Tieflage (unter dem Nord-Süd-Bahnhof und den anschließenden U-Bahnhöfen) auftauchen und an die Invalidenstraße angeschlossen werden. Diese Planung dürfte praktisch nicht durchzuführen sein. Würde man sich wundern, wenn demnächst - zur Entflechtung des Verkehrsknotenpunktes Lehrter Bahnhof - wieder die alten Tangentenplanungen des Flächennutzungsplans von 1965 aus den Schubladen gezogen würden und die Lehrter Straße wieder zur Schnellstraße würde?

Ideale Planungen - utopische Kosten

Schließlich stellt sich die Frage nach den Kosten, dem zeitlichen Horizont der Realisierung und - nicht zuletzt - nach dem ökologischen Preis dieser Bahnhofsplanung. Weder stehen der Bahn die erforderlichen Flächen (z.B. im Bereich des Geländes von Mercedes am Potsdamer Platz), noch die entsprechenden Planungsrechte (Planfeststellungsbeschlüsse, Bebauungspläne für das Bahnhofsumfeld) zur Verfügung. Hofft man hier auf das “Beschleunigungsgesetz" des Bundesverkehrsministers, mit dessen Hilfe bezirkliche Selbstverwaltungsrechte, Bürgerbeteiligung und Umweltverträglichkeitsprüfungen “ausgehebelt" werden können?

Welche Folgen sind für den Großen Tiergarten zu erwarten, wenn für Eisenbahn- und Straßentunnel schwerwiegende Eingriffe in den Naturhaushalt vorgenommen werden? Welche stadtklimatische Wirkung geht von dem gigantischen, in Ost-West-Richtung verlaufenden Bahnhofsbauwerk auf die Belüftung Moabits und des Wedding so wichtige Schneise des Panketals aus?

Was bedeutet es für die Innenstadt, speziell für die Stadtteile Moabit und Schöneberg bzw. Kreuzberg, wenn über Jahre Millionen von Tonnen Abraum - möglicherweise per Lkw - abgefahren und Materialien, Maschinen und Menschen für die Großbaustelle herangeschafft werden?

Die Kosten der Gesamt-Maßnahme müßen eher an den Dimensionen eines Groß-Flughafens wie München II gemessen werden als an den gewohnten (und bekanntlich überzogenen) Maßstäben des Berliner S- und -Bahn-Baues. Damit werden vergleichbare Realisationszeiträume wahrscheinlich, die sich selbst im ländlich-bayerischen Erdinger Moos bereits dem Vierteljahrhundert nähern.

Kann eine Hauptstadt - zumal mit dem Anspruch auf Regierungssitz - wirklich so lange auf eine vermeintliche Ideal-Lösung warten? Berlin hat die historisch einmalige Chance, Strategien und Modelle für eine sozial verträgliche und ökologisch vertretbare Stadtentwicklung im nächsten Jahrtausend zu entwickeln. Die Bedingungen der Ungleichzeitigkeit eröffnen die Möglichkeit, aus den Fehlern urbaner Überzentralisierung anderer Metropolen zu lernen, die entsprechenden Suburbanisierungsprozesse und die damit verbundene sozial-räumliche Segregation zu vermeiden. Aufbauend auf dem wertvollen stadträumlichen Erbe Berlins, der noch weitgehend erhaltenen Homogenität der (Stadt)Teile in der Vielfalt des Ganzen, sollte es politisches und planerisches Ziel sein, die polyzentrische Grundstruktur der Stadt zu stärken und weiterzuentwicklen. Das System der differenzierten und vernetzten schienengebundenen Verkehrsträger (einschließlich Straßenbahn) nimmt darin eine Schlüsselrolle für die Verteilung von Zentralitäts- und Lagevorteilen, Wohn- und Arbeitsbedingungen und schließlich der Lebens- und Umweltqualität ein.

Es wäre unverantwortlich, diese historische Chance unter dem Druck kurzfristiger Investitionsentscheidungen zu vergeben.

S.T.E.R.N. ist treuhänderischer Sanierungsträger des Landes Berlin im Bereich des vorgeschlagenen Fernbahnhofes.

Uli Hellweg
S.T.E.R.N.

aus SIGNAL 4/1991 (Mai 1991), Seite 8-11

 

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