Der Streit um die Gestalt des künftigen
Eisenbahnfernverkehrs von und nach Berlin
scheint zumindest für Stadtentwicklungssenator
Hassemer beigelegt. Er äußerte Anfang
Juli, daß das “Problempaket" der
Schienenwege auf der Grundlage der
geführten Diskussion - vor allem auf dem von
ihm angeregten Stadtforum - gelöst sei.
Unterdessen betonte Verkehrssenator Haase
die Notwendigkeit einer neuen Nord-Süd-Verbindung,
die am Lehrter Bahnhof mit
der vorhandenen Ost-West-Strecke (Stadtbahn)
verknüpft werden solle.
Also nach monatelangem Hin und Her nun
endlich ein klares Konzept? Bei genauerem
Hinhören kommen Zweifel auf. Zwar soll
Berlin laut Volker Hassemer nun keinen
“Zentralbahnhof" mehr erhalten, sondern
lediglich eine zusätzliche Station in der
Innenstadt, ergänzt um vorhandene und darüber
hinaus neu zu schaffende Bahnhöfe für
die Nord-Süd-Richtung. Andererseits erklärte
er, daß die künftigen Hochgeschwindigkeitszüge
“InterCityExpress“ (ICE) nur
an einem einzigen Punkt in der Stadt halten
sollen. Hat Hassemer dabei bedacht, daß
die ICE-Züge nach den Vorstellungen der
Bundesbahn im Jahr 2000 das Rückgrat des
Verkehrs bilden mit einem Anteil von rund
50 Prozent am gesamten Schienenfernverkehr?
Wenn die ICE-Halte auf einen einzigen Bahnhof
konzentriert werden, wäre dieser aber faktisch
dann doch ein Zentralbahnhof.
Drei bisher bekannte Vorschläge
Erinnern wir uns: in der öffentlichen Diskussion,
vor allem dann während der Veranstaltungen des
Stadtforums, haben sich
drei Konzepte in den Vordergrund geschoben:
l. Das sogenannten Achsenkreuzmodell der
DB-Tochtergesellschaft "Deutsche Eisenbahnconsult" (DE-Consult).
Diese vom Senat in Auftrag gegebene Studie favorisiert
eine Verknüpfung der vorhandenen Ost-West-Linie
(Stadtbahn) mit einer neu zu
bauenden Nord-Süd-Tunnelstrecke in zentraler
Lage am Lehrter Bahnhof. Die dort
projektierte Kreuzungsstation ist wegen ihrer
herausragenden Bedeutung in den Medien als “Zentralbahnhof"
tituliert worden.
2. Das “Ringmodell 720" der Bürgerinitiative
Westtangente. Danach sollen entlang des
inneren S-Bahn-Rings mehrere dezentrale
Bahnhöfe für den Fernreiseverkehr entstehen.
Dagegen wird ein Eisenbahntunnel
durch den Tiergarten strikt abgelehnt. Das
BIW-Konzept soll täglich bis zu 720 (!)
Züge ermöglichen, die verschiedene Teilabschnitte
des Rings in einer Weise befahren
würden, daß zwischen den Hauptrelationen
jeweils direkt umgestiegen werden könnte.
3. Die Variante “Y-Modell" des “Fördervereins
Anhalter und Lehrter Bahnhof Berlin"
(F.A.L.B.). Dabei soll der “Anhalter" wieder
erstehen, und zwar als Durchgangsbahnhof,
in dem die von Süden kommende
Zulaufstrecke in zwei Äste geteilt werden
soll: einen nach Nordwesten Richtung Lehrter
Bf. - Spandau, und einen nach Osten
zum jetzigen Hauptbahnhof. In der Innenstadt
würden die Strecken unterirdisch verlaufen.
Auf dem Stadtforum sammelten die Kritiker
des Zentralbahnhof-Gedankens Pluspunkte.
Sie warnten vor der “irreparablen
Schädigung des inneren Stadtbereiches" (so
der Planer Urs Kohlbrenner) durch den
Bau eines Nord-Süd-Fernbahntunnels. Zum
einen würde ein riesiger Fernbahnhof am
Nordrand des Tiergartens die dortige Struktur
nachhaltig verändern. Wohnungen und
Grünflächen müßten Büro- und Geschäftsbauten,
Hotels und Gaststätten weichen.
Zum anderen wären Straßen wie auch das
Netz von S- und U-Bahnen auf den neuen
Verkehrsknoten auszurichten. Dabei läge
dieser eigentlich gar nicht in einem der gewachsenen
Zentren, sondern würde vielmehr erst ein neues entstehen lassen.
Mit der Bahn ins Herz der Stadt
Nun ist es unbestritten einer der wichtigsten
Systemvorteile der Eisenbahn, direkt “ins
Herz der Stadt" (DB-Slogan) zu gelangen.
Berlin besitzt - einmal abgesehen von den
zahlreichen Unterzentren - allerdings vier
innerstädtische Schwerpunkte, nämlich am
Zoo, an der Friedrichstraße, am Alexanderplatz
und künftig auch wieder am Potsdamer Platz.
Weder ein Zentralbahnhof noch
das Ringmodell der BIW werden dem gerecht.
In beiden Fällen wären die Hauptzentren
nur durch Umsteigen in Nahverkehrsmittel erreichbar.
In einem Punkt sind sich die Fachleute offenbar einig:
Die bestehende Fernhahnstrecke im Innenstadtbereich, also die von
Charlottenburg zum Hauptbahnhof führende Stadtbahn,
gilt für den Schienenverkehr
von morgen als völlig unzureichend. Aber
wird die 12 Kilometer lange, kultur- und
technikgeschichtlich bedeutende Viaduktbahn
damit nicht vorschnell als veraltet und
wenig leistungsfähig abgetan? Ihr großes
Plus ist es schließlich noch immer, daß sie
mit den Bahnhöfen Zoologischer Garten,
Friedrichstraße und Alexanderplatz in idealer
Weise die Hauptzentren der Stadt erschließt
und miteinander verbindet. Zugleich ist sie
ein Bauwerk von hohem Identifikationswert.
Von ihr aus wird Berlin in
seiner Ausdehnung und Struktur vom Bahnreisenden
noch am ehesten erlebbar. Wie
immer die Züge morgen auch fahren, die
vier genannten innerstädtischen Schwerpunkte
werden für die Entwicklung Berlins
in den kommenden Jahren eine herausragende Rolle spielen:
- Der Alexanderplatz als Geschäfts- und
Dienstleistungszentrum, mit dem Roten
Rathaus als Sitz des Berliner Senats und
künftigen Regierungsinstitutionen in unmittelbarer Nähe.
- Die Friedrichstraße als erste Adresse für
Einzelhandelsgeschäfte und Hotels der gehobenen
Kategorie sowie der Boulevard
Unter den Linden mit Kultureinrichtungen
und dem benachbarten Reichstagsgebäude
(Bundestag).
- Der Bereich um die Gedächtniskirche als
Geschäftszentrum des Westens mit Kurfürstendamm
und Tauentzienstraße, zahlreichen Hotels
und kulturellen Anziehungspunkten.
- Der Potsdamer Platz als Dienstleistungs-
wie auch Verwaltungsstandort und künftiges
Bindeglied zwischen Ost- und West-City.
Drei der vier genannten Hauptzentren werden
von vorhandenen Bahnhöfen der Stadtbahn unmittelbar
erschlossen, und selbst
der Potsdamer Platz kann zum weiteren
Einzugsbereich des Bahnhofs Friedrichstraße
gezählt werden, ist er doch von diesem
mit der Nord-Süd-S-Bahn in drei Minuten
erreichbar.
Zur Station am Alexanderplatz ist anzumerken,
daß diese bereits über einen Fernbahnsteig verfügt,
der gegenwärtig für den S-Bahn-Verkehr genutzt wird.
Wenn - wie bis
1961 der Fall - alle S-Bahnen konsequent
über die gesamte Stadtbahn gefürht werden,
entfällt hier das Ein- und Aussetzen von
Zügen, so daß dem Fernbahnsteig wieder
seine ursprüngliche Funktion zukommen
könnte. Wie am vergleichbaren Hamburger
Dammtor-Bahnhof wäre hier sogar ein Systemhalt
für InterCity-Züge einzurichten.
Wenn Hamburg sich insgesamt vier IC-Bahnhöfe leistet,
ist nicht einzusehen, weshalb im doppelt so goßen Berlin seltener
gehalten werden soll.
Die Bahnhöfe Zoologischer Garten, Friedrichstraße
und Alexanderplatz sind zum einen mit allen
in Nord-Süd-Richtung verlaufenden U-Bahn-Linien
verknüpft, zum anderen mit allen sich auf der
Stadtbahn bündelnden Ost-West-S-Bahn-Linien verbunden.
Die Zubringerfunktion zum Fernverkehr verteilt
sich somit auf zahlreiche Linien und mehrere Umsteigepunkte.
Eine leistungsfähige Stadtbahn als Lösung
Im folgenden wird ein Konzept vorgestellt,
mit dem es möglich ist, den gesamten hochwertigen
Eisenbahn-Fernverkehr - EuroCity-, InterCity- und
InterRegio-Züge - über
die Stadtbahn zu führen.
Gliedert man die Stadtbahn in zwei unabhängig
voneinander zu befahrende Abschnitte auf,
läßt sich ihre Leistungsfähigkeit auf ca. 200 Zugpaare
täglich erhöhen.
Das heißt, selbst bei dem von Fachleuten
geschätzten Bedarf von 160 täglichen Zugpaaren
im Jahre 2010 bliebe ihr noch eine
Kapazitätsreserve von rund 25 Prozent.
Teilen läßt sich die Stadtbahn, ohne viel
vorhandene Bebauung zu zerstören, nur im
Bereich des Lehrter Stadtbahnhofs, wo sie
die Trasse zwischen dem ehemaligen Güterbahnhof
Spreeufer und dem Hamburger
und Lehrter Güterbahnhof überquert. Nur
dort ist auch eine Verbindung zum nördlichen Innenring möglich.
Wie soll die neue Gleisführung aussehen?
a) Die Nordstrecke von Rostock und Stralsund
wird in Gesundbrunnen an den Nordring herangeführt,
folgt diesem auf einer
Länge von etwa 2 Kilometern und gelangt
von dort auf das Gelände des Hamburger
und Lehrter Güterbahnhofs. Im weiteren
Verlauf unterquert die Trasse am Lehrter
S-Bahnhof die Stadtbahn und wird etwas
weiter westlich in diese eingefädelt. Das
geschieht mittels eines kreuzungsfreien
Abzweigs an der Paulstraße. Über den Bahnhof Zoo
geht es nach Charlottenburg, wo
eine Verbindungskurve zum Südring herzustellen ist.
Im Bereich Schöneberg schwenkt
die Strecke dann auf die Trasse der ehemaligen
Anhalter Bahn in Richtung Halle/Leipzig.
b) Die Linie aus Hamburg sowie die projektierte
Schnellbahn aus Hannover - Stendal
kommen über Staaken und Spandau ins
Berliner Stadtgebiet. Von Spandau aus gibt
es zwei Möglichkeiten, zum Zentrum zu gelangen:
entweder auf dem bestehenden
Schienenstrang nach Charlottenburg oder
auf der Trasse der ehemaligen Lehrter
Bahn über Siemensstadt-Fürstenbrunn.
Für das Konzept der zweigeteilten Stadtbahn
ist die frühere Lehrter Bahn die wichtigere.
Auf ihr erreicht man östlich des S-Bahnhofs Putlitzstraße
(Nordring) den
Hamburger und Lehrter Güterbahnhof. Anschließend
muß die unter Punkt a) beschriebene Verbindungskurve
Nordring - westliche Stadtbahn unterfahren werden. Über
eine Rampe wird der Bahnhof Friedrichstraße erreicht,
und auf vorhandenen Gleisen geht es über den Alexanderplatz weiter
Richtung Hauptbahnhof (siehe Skizze 2 auf
Seite 14).
Für die Verbindungskurven zwischen Hamburger
und Lehrter Güterbahnhof und dem
Nordring liegen bereits Machbarkeitsstudien
vor, weil sie im Falle einer neuen
Nord-Süd-Tunnelstrecke ebenfalls zu realisieren wären.
Entwürfe gibt es außerdem
für den unter a) genannten Abzweig an der
Paulstraße. Die Art der Anbindung des
Bahnhofs Friedrichstraße an den Nordring
ist noch zu prüfen. Doch selbst wenn mit
Rücksicht auf die Durchfahrtshöhe der
Schiffe der Humboldthafen unterquert werden
muß, ist der Platz für die nötige Rampe
vorhanden. Der zu überwindende Höhenunterschied
beträgt dann ca. 20 Meter auf
etwa einem Kilometer Streckenlänge.
Die beiden Abschnitte "Stadtbahn Ost" und
“Stadtbahn West" sind also über ein spangenförmig
ausgebildetes System von Gleisverbindungen vom
Nordring her erreichbar.
Natürlich bliebe auch die direkte Trasse
zwischen Friedrichstraße und Zoologscher
Garten erhalten. In der “klassischen" Ost-West-Richtung
könnte die Stadtbahn somit
weiterhin in voller Länge befahren werden.
Für den Regionalverkehr eignen sich auf
der Stadtbahn der Hauptbf. (von Osten)
und Charlottenburg (von Westen) als Endpunkte.
Die weitere Verteilung kann von
hier aus die S-Bahn übernehmen. Zudem
könnten die Ferngleise des Innenrings von
Regional- und Regionalschnellbahnzügen
genutzt werden.
An dieser Stelle ein Wort zum Reisendenpotential:
Der von der bald vier Millionen
Einwohner zahlenden Hauptstadt Berlin
ausgehende Verkehr auf der Schiene kann
als überwiegend “hausgemacht" angesehen
werden, d. h. selbst bei durchlaufenden
Zugverbindungen - etwa Rostock - Leipzig -
Süddeutschland - findet hier ein weitgehender
Fahrgastaustausch statt, zwischen Mecklenburgern
mit Ziel Berlin und eben Berlinern mit Zielen im Süden.
Im internationalen Verkehr wird es zwar einige
Langstrecken-Züge geben, z. B. Moskau - Paris oder
Kopenhagen - Prag, die aber am Gesamtaufkommen
keinen goßen Anteil haben.
Wie die DE-Consult und andere Experten
darauf kommen, daß 50 Prozent der Reisenden in
Berlin bloß durchfahren oder umsteigen, bleibt unerfindlich.
Abschließend eine Zusammenfassung der
wesentlichen Vorteile des “Stadtbahn-Konzepts"
gegenüber der Zentralbahnhofsvariante:
- Behutsamerer Umgang mit der Infrastruktur
Berlins, da es im wesentlichen mit
den schon vorhandenen Fernbahnhöfen
auskommt.
- Optimale Nutzung des vorhandenen
ÖPNV-Netzes, das nicht mit einem Milliarden-Aufwand
auf den Zentralbahnhof “umgebogen" werden müßte.
- Direkte Bedienung der verschiedenen
Hauptzentren ohne unnötige Umsteige
zwänge oder längere Anfahrtswege auf der
Straße.
Ein Nachteil soll hier durchaus genannt
sein: Die gegenüber einer neuen Nord-Süd-Tunneltrasse
in Richtung Leipzig und Dreden entstehenden Umwege betragen 9 bzw.
12 Kilometer ab Standon Lehrter Bahnhof.
Dieses Manko relativiert sich aber, wenn
man bedenkt, daß die bestehenden Zentren
ohnehin woanders liegen. Zum Beispiel ergibt
sich ab Zoo über den Südring und
Schöneberg im Vergleich zum Tunnel durch
den Tiergarten kein Umweg mehr.
Fraglos erfordern die Baumaßnahmen zur
Realisierung des dargestellten Konzepts einen
Zeitraum von vier bis fünf Jahren und
erhebliche Investitionen. Verglichen mit
den anderen bisher vorgeschlagenen Varianten
ist der Aufwand dennoch wesentlich
bescheidener. Im Hinblick auf ihre baldige
Funktionsfähigkeit als Regierungssitz und
die Bewerbung für "Olympia 2000" sollte
die Stadt eine Lösung wählen, die zum
Ende dieses Jahrzehnts auch fertigestellt
sein kann.
Konrad Koschinski
Manfred Verhoolen
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