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"Zwei verschiedene Spannungen für ein Netz?"
- Auf die Berliner S-Bahn gemünzt ist die Frage
nicht gerade neu: bereits mehrmals hat die
Reichsbahn erwogen, die Gleichspannung in
den Stromschienen zu erhöhen. Weil das nicht
überall gleichzeitig ginge, würden zumindest
vorübergehend sowohl 800-Volt- als auch beispielsweise
1.500-Volt-Strecken existieren. In
jüngster Zeit ist aber noch eine andere Variante
stärker ins Gespräch gekommen: Der Betrieb
neuer Strecken ins Umland mit Oberleitung.
Zwar laufen diese Projekte hier unter dem Begriff
"Regionalbahn", nach westdeutschem
Vorbild könnten sie indes ebensogut "Wechselstrom-S-Bahn"
heißen. Was sind die Gründe
für derartige Überlegungen? Kann es ein
sinnvolles Miteinander unterschiedlicher Systeme
geben, welche technischen und energiewirtschaftlichen
Probleme wirft das auf?
Dipl.-Ing. Christian Tietze, bis vor kurzem
Leiter der "Hauptabteilung Lokomotiven und
Triebwagen" der AEG, hielt dazu im Rahmen
der 9. Berliner Schienenverkehrs-Wochen am
24. September einen aufschlußreichen Vortrag.
Anschaulich führte er zunächst mit einigen
physikalischen Grundregeln in die Problematik
ein. Wichtig vor allem: Elektrische Leistung
ist immer ein Multiplikator aus Spannung und
Strom. Je niedriger also die Spannung, umso
höher der Strombedarf - und umgekehrt. Aufgrund
der für die Berliner S-Bahn gebräuchlichen,
relativ niedrigen 800 Volt, muß hier mittels
sogenannter Unterwerke in dichten Abständen
(insgesamt an 54 Stellen) immer wieder
Energie nachgespeist werden, um die Stromversorgung
der Züge zu sichern. Demgegenüber
kommen die mit Wechselstrom 15.000 Volt, 16
2/3 Hertz elektrifizierten Strecken im Berliner
Raum mit nur zwei Unterwerken aus.
Eine Ausrüstung aller Berliner S-Bahn-Strecken
mit Wechselstrom-Oberleitung scheidet
aber schon wegen der zu niedrigen Brücken,
Bahnsteighallen und vor allem wegen des zu
engen Nord-Süd-Tunnels aus. Hier bliebe nur
die Erhöhung der Stromschienen-Spannung auf
1.500 Volt als gangbarer Weg; immerhin könnten
dadurch die heute auftretenden Energieverluste
um etwa 75 Prozent reduziert werden.
Daß eine solche Maßnahme nicht sozusagen
über Nacht auf dem gesamten Netz durchzuführen
ist, leuchtet wohl ein. Doch selbst für
den Fall einer etappenweisen Umstellung sieht
Herr Tietze große Probleme. So erfordert das
die kostspielige Beschaffung von Zweisystemzügen,
die auf 1.500 Volt-Strecken, aber weiterhin
auch auf 800-Volt-Strecken einsetzbar
sind. Andernfalls müßten einzelne Netzteile
vollständig voneinander getrennt werden - angesichts
der betrieblichen Verknüpfungen zwischen
Stadt-, Ring- und Vorortbahnen kaum
praktikabel. Würden beispielsweise zuerst die
Nord-Süd-Strecken auf 1.500 Volt umgestellt,
könnten nur dafür ausgelegte Züge nicht mehr
wie jetzt in den Bahnhof Wannsee oder auf
Abschnitten des Rings (wie die S 85/86) fahren.
Ein weiteres Problem: Alle Berliner S-Bahn-Züge,
auch die neuen, wären nur mit
unvertretbar hohem Aufwand auf 1.500 Volt
umrüstbar. Und schließlich würde die höhere
Spannung auch die Anwendung erhöhter Sicherheitsvorschriften
erfordern, was von vielen
unterschätzt werde. Aus all den Gründen
hält Herr Tietze eine Spannungserhöhung bei
der Berliner S-Bahn für unvernünftig und unwahrscheinlich.
Doch davon ganz abgesehen ergibt sich mit der
fortschreitenden Fernbahnelektrifizierung noch
ein anderes Problem: Überall dort, wo parallel
zur S-Bahn Gleise mit Wechselstrom-Oberleitung
ausgerüstet werden, sind beide Systeme
voneinander zu trennen. Die S-Bahn kann
deshalb nicht mehr wie bisher über vorhandene
Kabelverbindungen die Ferngleise - vereinfacht
und technisch nicht ganz korrekt ausgedrückt
- als Rückleiter mitbenutzen. Der in den Fahrschienen
fließende Rückstrom (also Gleichstrom)
würde sonst nämlich in die Trafos der
E-Loks gelangen und diese stark überhitzen.
Die erforderliche gegenseitige Isolierung der
Stromsysteme verringert aber den sogenannten
Rückleiterquerschnitt der S-Bahn und führt so
zu größeren Energieverlusten. Besonders kompliziert
wird's, wenn (wie in Birkenwerder und
Erkner) S- und Fernbahn gemeinsame Gleisabschnitte
haben; dann sind sogenannte Trenntransformatoren
nötig, die das Abfließen des
Gleichstroms in die E-Loks bzw. Oberleitung
verhindern.
Es liegt daher nahe, so Christian Tietze, Parallelführungen
von Stromschienen- und Oberleitungsstrecken
zumindest auf neuen Umlandverbindungen
zu vermeiden. Hier bietet es sich
für ihn an, konsequent das bei der Fernbahn
übliche Stromsystem zu nutzen, also quasi eine
Wechselstrom-S-Bahn wie in München,
Frankfurt und Stuttgart anzubieten (in Berlin dann
wohl Regionalbahn genannt). Bei dieser
Lösung würden sich zudem zeitaufwendige
Planfeststellungsverfahren für breitere, viergleisige
Trassen erübrigen - wenigstens vorerst.
Auch ins Stadtgebiet hinein sollten Wechselstromzüge
verkehren, mit günstigen Umsteigepunkten
zum Gleichstromnetz. Zwar sind
Züge denkbar, die wahlweise mit Oberleitung
und Stromschiene fahren, doch hält Herr Tietze
nicht viel von derartigen Fahrzeugen. Sie
seien immer teure und technisch aufwendige
Sonderlinge. Das Beispiel Karlsruhe, wo es
kombinierte Gleichstrom-/Wechselstromzüge
gibt (allerdings bei bei den Stromarten für Oberleitung)
läßt er für Berlin wegen der gänzlich
anderen Bedingungen nicht gelten. Das Berliner
S-Bahn-Netz der Zukunft konnte nach Einschätzung
von Christian Tietze aus einem innerstädtischen
Netz mit 800 Volt Gleichstrom
und einem Vorort- bzw. Umlandnetz mit
15.000 Volt Wechselstrom bestehen.
Fazit: Im Berliner Raum ist ein sinvolles
Miteinander von traditioneller S-Bahn und
Oberleitungs-Zügen anzustreben, jedoch kein
Betrieb mit Zweisystemfahrzeugen. In diese
Richtung zielte auch ein Diskussionsbeitrag
von Dipl.-Ing. Erhard Schröter, Abteilungsleiter
"Ballungsgebiete" in der Reichsbahn-Zentrale.
Er erinnerte noch einmal daran, daß nach
dem Krieg einige S-Bahn-Linien auf Fernbahngleisen
ins Umland verlängert wurden.
Diese würden nun wieder für den Fernverkehr
gebraucht, könnten aber zusätzlich Regionalzüge
aufnehmen. Allerdings räumte Herr Schröter
selbst ein, daß schon die "Geschwindigkeitsschere"
zwischen den verschiedenen Zugarten
dann der Taktfolge Grenzen setzt. So plausibel
die Argumente vorgetragen wurden, so offen
blieben letztlich doch etliche kritische Fragen,
zum Beispiel nach den im Stadtgebiet vorhandenen
Kapazitäten für Regionalbahnen.
Dazu ist die Infrastruktur erst völlig neu zu
bauen - anders bei der S-Bahn. Für eine Verdichtung
der Zugfolge bietet sie durchaus noch
Reserven. Mit modernem Signalsystem und
neuen Bahnsteigzugängen zur Bewältigung des
Fahrgastaufkommens ist hier ein 90-Sekunden-Takt
drin. Dagegen drohen auf Strecken, die
sich ICE und Regionalbahn teilen müssen, viel
eher Engpässe, die ein attraktives Angebot auf
so mancher Umlandverbindung verhindern. In
München werden aus eben diesem Grund trotz
einheitlichen Stromsystems für die S-Bahn
mehr und mehr eigene Gleise gebaut. IGEB
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