Schienenverkehrswochen 1992

1.500 oder 15.000 Volt? Ein spannungsreiches Problem

"Zwei verschiedene Spannungen für ein Netz?" - Auf die Berliner S-Bahn gemünzt ist die Frage nicht gerade neu: bereits mehrmals hat die Reichsbahn erwogen, die Gleichspannung in den Stromschienen zu erhöhen. Weil das nicht überall gleichzeitig ginge, würden zumindest vorübergehend sowohl 800-Volt- als auch beispielsweise 1.500-Volt-Strecken existieren. In jüngster Zeit ist aber noch eine andere Variante stärker ins Gespräch gekommen: Der Betrieb neuer Strecken ins Umland mit Oberleitung. Zwar laufen diese Projekte hier unter dem Begriff "Regionalbahn", nach westdeutschem Vorbild könnten sie indes ebensogut "Wechselstrom-S-Bahn" heißen. Was sind die Gründe für derartige Überlegungen? Kann es ein sinnvolles Miteinander unterschiedlicher Systeme geben, welche technischen und energiewirtschaftlichen Probleme wirft das auf?

Dipl.-Ing. Christian Tietze, bis vor kurzem Leiter der "Hauptabteilung Lokomotiven und Triebwagen" der AEG, hielt dazu im Rahmen der 9. Berliner Schienenverkehrs-Wochen am 24. September einen aufschlußreichen Vortrag. Anschaulich führte er zunächst mit einigen physikalischen Grundregeln in die Problematik ein. Wichtig vor allem: Elektrische Leistung ist immer ein Multiplikator aus Spannung und Strom. Je niedriger also die Spannung, umso höher der Strombedarf - und umgekehrt. Aufgrund der für die Berliner S-Bahn gebräuchlichen, relativ niedrigen 800 Volt, muß hier mittels sogenannter Unterwerke in dichten Abständen (insgesamt an 54 Stellen) immer wieder Energie nachgespeist werden, um die Stromversorgung der Züge zu sichern. Demgegenüber kommen die mit Wechselstrom 15.000 Volt, 16 2/3 Hertz elektrifizierten Strecken im Berliner Raum mit nur zwei Unterwerken aus.

Eine Ausrüstung aller Berliner S-Bahn-Strecken mit Wechselstrom-Oberleitung scheidet aber schon wegen der zu niedrigen Brücken, Bahnsteighallen und vor allem wegen des zu engen Nord-Süd-Tunnels aus. Hier bliebe nur die Erhöhung der Stromschienen-Spannung auf 1.500 Volt als gangbarer Weg; immerhin könnten dadurch die heute auftretenden Energieverluste um etwa 75 Prozent reduziert werden.

Daß eine solche Maßnahme nicht sozusagen über Nacht auf dem gesamten Netz durchzuführen ist, leuchtet wohl ein. Doch selbst für den Fall einer etappenweisen Umstellung sieht Herr Tietze große Probleme. So erfordert das die kostspielige Beschaffung von Zweisystemzügen, die auf 1.500 Volt-Strecken, aber weiterhin auch auf 800-Volt-Strecken einsetzbar sind. Andernfalls müßten einzelne Netzteile vollständig voneinander getrennt werden - angesichts der betrieblichen Verknüpfungen zwischen Stadt-, Ring- und Vorortbahnen kaum praktikabel. Würden beispielsweise zuerst die Nord-Süd-Strecken auf 1.500 Volt umgestellt, könnten nur dafür ausgelegte Züge nicht mehr wie jetzt in den Bahnhof Wannsee oder auf Abschnitten des Rings (wie die S 85/86) fahren. Ein weiteres Problem: Alle Berliner S-Bahn-Züge, auch die neuen, wären nur mit unvertretbar hohem Aufwand auf 1.500 Volt umrüstbar. Und schließlich würde die höhere Spannung auch die Anwendung erhöhter Sicherheitsvorschriften erfordern, was von vielen unterschätzt werde. Aus all den Gründen hält Herr Tietze eine Spannungserhöhung bei der Berliner S-Bahn für unvernünftig und unwahrscheinlich.

Doch davon ganz abgesehen ergibt sich mit der fortschreitenden Fernbahnelektrifizierung noch ein anderes Problem: Überall dort, wo parallel zur S-Bahn Gleise mit Wechselstrom-Oberleitung ausgerüstet werden, sind beide Systeme voneinander zu trennen. Die S-Bahn kann deshalb nicht mehr wie bisher über vorhandene Kabelverbindungen die Ferngleise - vereinfacht und technisch nicht ganz korrekt ausgedrückt - als Rückleiter mitbenutzen. Der in den Fahrschienen fließende Rückstrom (also Gleichstrom) würde sonst nämlich in die Trafos der E-Loks gelangen und diese stark überhitzen. Die erforderliche gegenseitige Isolierung der Stromsysteme verringert aber den sogenannten Rückleiterquerschnitt der S-Bahn und führt so zu größeren Energieverlusten. Besonders kompliziert wird's, wenn (wie in Birkenwerder und Erkner) S- und Fernbahn gemeinsame Gleisabschnitte haben; dann sind sogenannte Trenntransformatoren nötig, die das Abfließen des Gleichstroms in die E-Loks bzw. Oberleitung verhindern.

Es liegt daher nahe, so Christian Tietze, Parallelführungen von Stromschienen- und Oberleitungsstrecken zumindest auf neuen Umlandverbindungen zu vermeiden. Hier bietet es sich für ihn an, konsequent das bei der Fernbahn übliche Stromsystem zu nutzen, also quasi eine Wechselstrom-S-Bahn wie in München, Frankfurt und Stuttgart anzubieten (in Berlin dann wohl Regionalbahn genannt). Bei dieser Lösung würden sich zudem zeitaufwendige Planfeststellungsverfahren für breitere, viergleisige Trassen erübrigen - wenigstens vorerst.

Auch ins Stadtgebiet hinein sollten Wechselstromzüge verkehren, mit günstigen Umsteigepunkten zum Gleichstromnetz. Zwar sind Züge denkbar, die wahlweise mit Oberleitung und Stromschiene fahren, doch hält Herr Tietze nicht viel von derartigen Fahrzeugen. Sie seien immer teure und technisch aufwendige Sonderlinge. Das Beispiel Karlsruhe, wo es kombinierte Gleichstrom-/Wechselstromzüge gibt (allerdings bei bei den Stromarten für Oberleitung) läßt er für Berlin wegen der gänzlich anderen Bedingungen nicht gelten. Das Berliner S-Bahn-Netz der Zukunft konnte nach Einschätzung von Christian Tietze aus einem innerstädtischen Netz mit 800 Volt Gleichstrom und einem Vorort- bzw. Umlandnetz mit 15.000 Volt Wechselstrom bestehen.

Fazit: Im Berliner Raum ist ein sinvolles Miteinander von traditioneller S-Bahn und Oberleitungs-Zügen anzustreben, jedoch kein Betrieb mit Zweisystemfahrzeugen. In diese Richtung zielte auch ein Diskussionsbeitrag von Dipl.-Ing. Erhard Schröter, Abteilungsleiter "Ballungsgebiete" in der Reichsbahn-Zentrale. Er erinnerte noch einmal daran, daß nach dem Krieg einige S-Bahn-Linien auf Fernbahngleisen ins Umland verlängert wurden. Diese würden nun wieder für den Fernverkehr gebraucht, könnten aber zusätzlich Regionalzüge aufnehmen. Allerdings räumte Herr Schröter selbst ein, daß schon die "Geschwindigkeitsschere" zwischen den verschiedenen Zugarten dann der Taktfolge Grenzen setzt. So plausibel die Argumente vorgetragen wurden, so offen blieben letztlich doch etliche kritische Fragen, zum Beispiel nach den im Stadtgebiet vorhandenen Kapazitäten für Regionalbahnen. Dazu ist die Infrastruktur erst völlig neu zu bauen - anders bei der S-Bahn. Für eine Verdichtung der Zugfolge bietet sie durchaus noch Reserven. Mit modernem Signalsystem und neuen Bahnsteigzugängen zur Bewältigung des Fahrgastaufkommens ist hier ein 90-Sekunden-Takt drin. Dagegen drohen auf Strecken, die sich ICE und Regionalbahn teilen müssen, viel eher Engpässe, die ein attraktives Angebot auf so mancher Umlandverbindung verhindern. In München werden aus eben diesem Grund trotz einheitlichen Stromsystems für die S-Bahn mehr und mehr eigene Gleise gebaut.

IGEB

aus SIGNAL 9-10/1992 (Dezember 1992), Seite 22-23

 

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