Barrierefreiheit: Service im TestService im TEST

BVG-Kneelingtaste – Betteln um den Kniefall

Seit den 1990er Jahren ist es Ziel des Berliner Senats, eine hundertprozentige Barrierefreiheit für den gesamten Berliner Nahverkehr herzustellen.

Viel Geld wurde dafür investiert. So mussten beispielsweise ausnahmslos alle Straßenbahnen als hundertprozentige Niederflurfahrzeuge beschafft werden. Und bis 2020 sollen alle Berliner U-Bahnhöfe stufenfrei erreichbar sein.

Titelbild Fotomontage
Besonders Ältere, Personen mit Beinverletzungen und Fahrgäste mit Kinderwagen oder Gepäck sind auf sie angewiesen: Barrierefreiheit im Öffentlichen Nahverkehr. Unser Themenschwerpunkt ab Seite 4. Fotos und Montage: Holger Mertens

Dem entgegen steht eine bedenkliche Entwicklung beim Bus. Denn genau das BVG-Verkehrsmittel, das als erstes die komplette Niederflurigkeit hergestellt hatte, macht jetzt einen Schritt zurück. Bisher wurden die BVG-Busse an jeder Haltestelle automatisch abgesenkt, um den Fahrgästen ein bequemes stufenarmes Ein- und Aussteigen zu ermöglichen. Diese Technik wird „Kneeling“ genannt. Für viele Ältere, Personen mit Bein-, Knie- oder Fußverletzungen oder auch nur Kunden mit Gepäck eine unverzichtbare Hilfe zum Ein- und Aussteigen und ein angenehmer Service für alle Kunden. Von diesem bewährten System möchte die BVG sich nun lösen zugunsten eines Kneelings, das nur noch bei Bedarf Einsatz finden soll. Dazu werden alle Busse mit einer zusätzlichen blauen Taste außen neben der ersten Tür ausgestattet.

Warum? Diese Frage stellen sich nicht nur Behindertenvertreter. Als BVG-Chefin Sigrid Evelyn Nikutta 2012 erwähnte, mit der Maßnahme jährlich zwei Millionen Euro einsparen zu wollen, sorgte sie damit für Erstaunen bei den Fachleuten. Denn zum einen ist der Knopfeinbau auch nicht gratis zu bekommen und zum anderen erscheint der Geldbetrag bei Betrachtung der Technik doch stark überhöht.

Die Technik

Moderne Busse und auch Lkw sind mit einer elektronischen Luftfederung ausgestattet. Diese ermöglicht es, ein Fahrzeug unabhängig vom Zustand der Beladung auf einem bestimmten Niveau zu halten. Ein Bus wird beispielsweise durch Fahrgäste beim Ein- und Aussteigen einseitig belastet. Hier wird mit jeder Person, die das Fahrzeug betritt oder verlässt, die Luftfederung automatisch nachreguliert. Das passiert immer, egal, ob „gekneelt“ wird, oder nicht.

Einstieg beim Bus
Dieser Schritt fällt nicht jedem leicht. Eine Operation oder Sportverletzung sieht man dem Menschen nicht an, macht aber für den Betroffenen häufig jede Stufe zur Qual. Foto: Raul Stoll

Das Kneeling selbst ist ein angenehmer Nebeneffekt. Die Entwickler dachten sich, wenn man das Fahrzeug ohnehin ständig nachreguliert, kann man die Technik auch dazu nutzen, das Fahrzeug im Stand halbseitig abzusenken, um den Komfort beim Betreten und Verlassen zu verbessern.

Verzichtet man auf das automatische Absenken, so kann man auf das automatische Nachregeln je nach Beladungszustand jedoch nicht verzichten. Die empfindlichen Sensoren und Ventile werden also weiterhin mehrmals beim Fahrgastwechsel belastet – wenn auch nicht mehr ganz so stark.

Der Berliner Fahrgastverband teilt daher die kritische Haltung von Behindertenvertretern zum Vorgehen und zu den Gründen, die für diesen Schritt rückwärts seitens der BVG angeführt werden. Nichtsdestotrotz wäre ein Bedarfskneeling akzeptabel, falls damit tatsächlich das anvisierte Sparziel erreicht wird und wenn es so umgesetzt wird, wie es in der BVG-Öffentlichkeitsarbeit dargestellt wird:

Zitat aus dem Kundenmagazin BVG_ plus vom Sommer 2012:
“[…] Da sich ein Großteil der Busse nicht mehr automatisch an jeder Haltestelle absenkt, hat die BVG den Komfortknopf eingeführt, der allen Fahrgästen ein bequemes Einund Aussteigen ermöglicht. Sobald der blaugelbe Knopf, von innen oder außen betätigt wird, neigt sich der Bus um 7 Zentimeter und reduziert so die Einstiegshöhe auf ein Minimum. Wer also schweres Gepäck oder einen Kinderwagen dabei hat oder einfach gerne gemütlicher ein- und aussteigen möchte, braucht dafür nur den neuen Komfortknopf zu drücken. […]”

Serviceknopf
Soll sich der Bus beim Einstieg absenken, muss diese extra neu eingebaute Taste links neben der ersten Tür gedrückt werden. Der Fahrer soll dann eigentlich den Bus absenken. Jedoch leuchtet beim Fahrer lediglich eine Lampe auf dem Armaturenbrett auf … Foto: Holger Mertens
Hinterer Einstieg
… übrigens die gleiche, wie beim Druck auf den Kinderwagen- und Rollstuhlknopf an der zweiten Tür. Falls der Fahrer diese Lampe beim Kontrollieren der Fahrscheine überhaupt bemerkt, wird es schwierig, herauszufinden, welcher Fahrgast welchen Service möchte. Will ein Rollstuhlfahrer an der zweiten Tür ein- oder aussteigen? Oder ein Kunde mit Kinderwagen? Benötigt jemand das Absenken für sich oder ein Gepäckstück? Die Reaktion des Fahrpersonals: Lampe solange ignorieren, bis einer meckert. Die logische Konsequenz für den Test der Praxistauglichkeit des Bedarfskneelings kann daher nur lauten: Test gescheitert, Zwangskneeling wiederherstellen! Foto: Holger Mertens

Auf dem Fahrgastsprechtag Omnibus im Rahmen der Schienenverkehrswochen 2012 hatten Fahrgäste, Vertreter von Behindertenverbänden und nicht zuletzt der Berliner Fahrgastverband selbst die Leiter des BVG-Unternehmensbereichs Bus darauf hingewiesen, dass dies bisher vom Fahrpersonal komplett ignoriert wird. Immer, wenn jemand ausprobierte, ob der Druck auf den sogenannten “Komfortknopf” dazu führt, dass der Fahrer den Bus absenkt, musste festgestellt werden, dass in allen Fällen gar nichts passierte. Drängte man beim Fahrer auf das Kneeling, so war der Erfolg nicht ohne langes Streitgespräch zu bekommen.

Busdirektor Martin Koller und Betriebsmanager Helmut Grätz antworteten auf der Veranstaltung am 18. September 2012, es müsse sich dabei um bedauernswerte Einzelfälle handeln, und sie bestätigten noch einmal, dass die Komfortfunktion JEDEM Fahrgast zusteht, der auf den „Komfortknopf“ drückt. Die Bedürftigkeit müsse gegenüber dem Fahrer nicht nachgewiesen werden. Das Fahrpersonal sollte darauf erneut hingewiesen werden.

Da sich aber bei vereinzelten Stichproben keine Besserung einstellte, begann die IGEB drei Monate später, den Komfortknopf einem ausgiebigen Test zu unterziehen. Fairerweise wurden Herr Koller und Herr Grätz vorab informiert.

Der Test

Das Ergebnis ist erschütternd. Von den vielfältigen Ein- und Ausstiegen wurde nicht ein einziges Mal auf die Anforderung über die „Servicetaste“ reagiert.

So haben wir getestet

Da noch nicht alle Busse auf die neue Verfahrensweise umgestellt wurden, haben

Tabelle
Kneelingtest Quelle: Erhebung der IGEB
wir uns auf die Fahrzeuge konzentriert, die offensichtlich bereits umgerüstet wurden. Das betrifft die Doppeldecker und die sogenannten „Low-Entry-Busse“ (12 Meter, einstöckig), angesichts der Problematik ein durchaus ironischer Name. Die Gelenkbusse und die Busse der privaten Subunternehmer senken sich hingegen noch an jeder Haltestelle automatisch ab.

Daher haben wir uns beim Testen auf die Berliner Gebiete konzentriert, wo vornehmlich eine große Anzahl umgebauter Fahrzeuge zum Einsatz kommen. Vor jedem Einstieg- und Ausstiegvorgang hat der Tester den blau-gelben Komfortknopf gedrückt und dann abgewartet, ob der Bus während dieses Haltestellenaufenthalts abgesenkt wird. Linie, Wagennummer und Haltestelle wurden notiert und liegen vollständig intern vor. (hm)

Wie sehen Ihre Erfahrungen mit dem neuen Komfortknopf aus? Senden Sie uns Ihre Erlebnisse per Chat oder E-Mail an kneeling@igeb.de Wir werden diese sammeln, an die Verantwortlichen weiterleiten und einige Erlebnisse hier im nächsten Heft veröffentlichen.

IGEB Stadtverkehr

aus SIGNAL 1/2013 (März 2013), Seite 4-5

 

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