Was den Umfang des Angebots angeht -
also die Anzahl der Fahrten, Haltestellen
und die gefahrene Geschwindigkeit -, so
sind nach unseren Eindrücken die Unterschiede
zu vergleichbaren Räumen und
Verkehrsmitteln in Deutschland weniger
groß als bei den Fahrpreisen. In manchen
Regionen ist das Angebot etwas geringer,
vor allem im überörtlichen Verkehr mit
den Nah- und Regionalzügen der Bahn,
und hier besonders der FS (Ferrovie dello
Stato - Italienische Staatsbahnen). Während
der Fernverkehr einigermaßen vertaktet
oder rhythmisiert ist, allerdings von
Nord nach Süd in abnehmendem Maße,
so fehlt ein ähnliches Angebot im Nah- und
Regionalverkehr fast völlig. Die FS befaßt
sich eindeutig lieber mit Personenfern-
und Güterverkehr und läßt ihre Nahverkehrskundschaft
eben warten.
Verkehr in den Ballungsräumen
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Haltestelle im Mailänder Umland; ähnliche Standards sind in Italien weit verbreitet Foto: Martin Schiefelbusch |
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Verdichtete Vorort- oder sogar S-Bahn-Verkehre
gibt es kaum. In den vergangenen
Jahrzehnten politischen Desinteresses
an der Bahn hat man es freilich
auch versäumt, entsprechende Kapazitäten
zu schaffen. So „schaufeln" in den
Stoßzeiten einige Garnituren aus Lok und
einer Menge Doppelstockwagen die Pendler
hin und her; in den übrigen Zeiten
herrscht relative Ruhe am Gleis. Daß es
auch anders geht, zeigen zumindest einige
der Bahnen in regionalem Besitz wie
etwa die Nordbahn (Ferrovie Nord Milano)
im Mailänder Umland sowie die Circumvesuviana
bei Neapel, die teilweise Taktverkehre
anbieten.
Auch wenn man sich mit dem Nahverkehr
in Italien theoretisch genauso gut
oder schlecht durch Stadt und Land bewegen
kann wie hierzulande, so heißt das
noch lange nicht, daß es einem auch gelingt,
dies zu tun.
Zunächst gilt es, einige Hürden zu überwinden.
Etwa die Frage, ob es überhaupt
ein öffentliches Verkehrsmittel zum Ziel
gibt. Das ist nicht so einfach zu beantworten,
denn der italienische Nahverkehr ist in
dieser Hinsicht nicht öffentlich.
Wie sonst touristische Informationen, so
sind auch Fahrpläne eine Rarität. Manche
Verkehrsbetriebe produzieren gelegentlich
kleine Bücher dieser Art, diese tauchen
dann meist nur an unerwarteten Stellen
auf. In Mailand und Umgebung, der nach
Meinung der Italiener deutschesten (will
sagen bestorganisiertesten Region) ihres
Landes soll es eine Reihe grüner Fahrplanhefte
für die Provinzen geben. Wer kein
Glück hat, ziehe Erkundigungen bei den
Einheimischen ein. Die könnten etwas wissen.
Oder sie kennen jemanden, der etwas
weiß - oder wissen könnte...
Man könnte auf die Suche nach einer
Haltestelle gehen, aber das ist nicht einfach
- man muß sie finden! Offensichtlich
ist es den Verkehrsbetrieben überlassen,
wie sie sich den Nutzern präsentieren, und
das Interesse an Selbstdarstellung scheint
nicht groß und von Nord nach Süd abzunehmen:
In Mailand gibt es an den Haltestellen
ein Diagramm des Linienverlaufs
und Fahrpläne. Bereits im Umland der Metropole
kann man davon nur träumen.
Fahrpläne und Haltestellen
In Neapel gab es noch eine Art Linienbeschreibung
an einem Mast, und der Verkehrsbetrieb
hatte an einigen Stellen einen
postkartengroßen Plan der wichtigsten
Linien im Innenstadtbereich ausgelegt.
Weiter südlich in Agropoli gab es nur
noch den Mast, das Schild „Haltestelle"
war schon lange verschwunden, und damit
es nicht zu luxuriös wurde, mußte ein
solcher Pfahl für beide Straßenseiten reichen.
Mehrere Einheimische hatten uns
nach dem Motto „da unten an der Ecke"
gelotst, trotzdem waren wir uns als relative
Anfänger nicht so ganz sicher, ob das
die richtige Ecke war. Also fragten wir
noch eine vertrauenserweckende Bürgerin,
was sich als richtig herausstellte. Denn sie
wollte auch mit dem Bus fahren. Fortan
wichen wir nicht von ihrer Seite.
In unserem südlichsten Standquartier
zeigte sich die Präsenz des Busunternehmers
in Form einer alten Wartehalle
neben der örtlichen Müllkippe. Die Haltestelle
sollte aber ganz woanders sein. Wir
verließen uns auf die Beteuerungen der
Einheimischen, daß der Bus wirklich dort
anhalten würde und winkten eifrig als er
kam. Es hat funktioniert. Den einzigen
Fahrplan für seiner Linie fanden wir jedoch
ganz am anderen Ende im Bahnhofsgebäude.
Auch einige andere Linien hingen
in der Vitrine einträchtig, wenn auch
nicht immer leserlich nebeneinander, nur
(?) der Bahnbus hatte es nicht nötig.
Fahrkartenkauf - aber wie?
Die nächste Prüfung, auf die der Nahverkehrsnutzer
gestellt wird, ist die Suche
nach einer Fahrkarte.
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Im Zentrum von Agropoli waren die einzigen Hinweise auf den ÖPNV ein Mast auf der anderen Straßenseite und ein Schild im Schaufenster rechts mit dem Hinweis, daß es hier keine Fahrkarten gäbe. Foto: Martin Schiefelbusch |
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Nach italienischem Verständnis ist das
Fahrpersonal im Nahverkehr zum Fahren
ist. Erstaunlich ist die Konsequenz, mit der
dies im ländlichen Raum praktiziert wird.
Selbst dort heißt es meist: Der Fahrgast
(Gast?) hat sich sein Kärtlein im voraus zu
kaufen. Hilfestellungen der Verkehrsbetriebe
sind dabei dünn gesät, also halte man
Ausschau nach den nächstliegenden Läden.
Tabakgeschäfte, passenderweise fast
überall an dem gleichen Aushängeschild
zu erkennen, Kioske oder Bars sind meist
ein guter Tip, es kann aber auch ein hölzerner
Verschlag dafür aufgestellt worden
sein oder sich ein Standschaffner in der
Gegend herumtreiben.
Interessant wird es, wenn die Verkaufsstelle
geschlossen hat. Man pflegt in den
südlichen Ländern im allgemeinen eine
lange Mittagsruhe. Manchmal hat der Fahrer
dann doch etwas zu verkaufen. Oder er
erläßt einem das Bezahlen. Seltsamerweise
ist er trotzdem auf vielen Regionalstrecken
für das Abstempeln, Zerreißen,
sonstiges Entwerten oder das Kontrollieren
zuständig. Jeder Betrieb hat hier seine
eigenen Ideen parat. In der Nähe von
Como fuhren wir mit einem Bus, dessen
Fahrer die Leute zunächst so mitfahren
ließ. An einem Laden an der Strecke hielt
er an, wo sich die noch nicht versorgten
Leute dann einen Fahrschein kaufen konnten.
Von diesem mußte der Fahrer dann
wieder einen Kontrollabschnitt abreißen,
bevor es weitergehen konnte. Jeder Zeitvorteil
der durch den Verzicht auf Verkauf
im Fahrzeug entstehen könnte war natürlich
dahin.
Kontrollen!
Manchmal gibt es im Regionalverkehr
Stichprobenprüfungen durch mobile Kontrolleure.
Dabei beweisen sie eine erstaunliche
Kreativität. Etwa wenn auf einer kurvenreichen
Landstraße der Gegenbus mit
wildem Hupen zum Halten gebracht wird,
damit der Kontrolleur in fast fliegendem
Wechsel den Wagen wechseln kann.
Die sprichwörtliche Pünktlichkeit
Hat man diese Hürden überwunden, so
gilt es zu hoffen, daß das gewünschte Verkehrsmittel
auch erscheint. Hier muß man
feststellen, daß der italienische ÖV besser
als sein Ruf ist. Die Wahrscheinlichkeit für
eine pünktliche Abfahrt ist nicht klein.
Auch hier kommt wieder das Nord-Süd-Gefälle
zum Tragen, so daß man in der
Nähe der Schweizer mit höherer Zuverlässigkeit
rechnen kann als Richtung Sizilien.
Auch im Busverkehr ist von seltsamen
Verhältnissen zu berichten. Als wir einen
Regionalbus in der Nähe von Neapel benutzen
wollten, tauchte dieser erst mit 20
Minuten Verspätung aus seinem Versteck
an der Endstation auf. Trotzdem waren
wir, ohne daß der Fahrer südländisches
Temperament an den Tag legen mußte,
am Ziel wieder pünktlich. Was hat sich der
Betrieb dabei gedacht? Vielleicht nichts.
Schließlich war es derselbe, der in seinem
Fahrplanheft bei fast allen Linien die Erklärungen
der reichlich vorhandenen Fußnoten
vergessen hatte.
Übrigens gibt es auch in der Vergangenheitsbewältigung
einen bemerkenswerten
verkehrsmittelbezogenen Unterschied zwischen
Deutschland und Italien: Bekommt
man hierzulande mitunter zu hören „Hitler
hat ja immerhin auch die Autobahnen gebaut",
so heißt das Äquivalent südlich der
Alpen „Unter Mussolini waren die Züge
wenigstens pünktlich". Inzwischen ist
man aber dort eher neidisch auf die germanischen
Errungenschaften beim Straßenbau
als auf die Leistungen der DB.
Während man auf der Straße wie beschrieben
nicht gerade mit großem Komfort
rechnen kann, zählt das Warten
selbst, um auch mal etwas positives zu berichten,
bei der Bahn noch zu den eher erträglichen
Erlebnissen.
Fast alle von uns benutzen Bahnhöfe,
die ganz kleinen unbesetzten Haltepunkte
mal ausgenommen, machten einen durchaus
ansprechenden Eindruck. Auf den
Bahnsteigen selbst sind zwar meist eher
wenige Sitze und Komfortmerkmale vorhanden,
die Gebäude selbst sind jedoch
meist mit Warteräumen, Fahrkartenausgabe
und weiteren Notwendigkeiten ausgestattet.
Oft ist auch eine noch betriebene
Gaststätte oder Bar in das Gebäude integriert.
Der Zustand ist zwar nicht immer
hervorragend, aber doch im allgemeinen
ordentlich, wozu sicher auch die „großzügige"
Personaldecke mit einem entsprechend
hohen Anteil besetzter Stationen
beigetragen hat. Auch in großen Städten
machen die Bahnhöfe dabei noch eher
den Eindruck einer Verkehrsanlage als eines
Einkaufszentrums.
Die italienischen Bahnen, insbesondere
die FS, setzen im Nah- und Regionalverkehr
meist Rollmaterial ein, das sich als
„alt, aber robust" beschreiben läßt. Erst in
jüngster Zeit wurde ein Doppelstocktriebzug
für den Nahverkehr entworfen, von
dem nach einigen Verzögerungen nun die
ersten Exemplare fertig geworden sind.
Die vorhandenen Einheiten haben ungefähr
Charme und Ausstattung nichtmodernisierter
Reichsbahn-Garnituren. Als
Mitteleuropäer hat man allerdings mitunter
Schwierigkeiten, auf den Sitzen Platz
zu finden.
Ist Italien also aus verkehrlicher
Sicht eine Reise wert?
Ich würde sagen ja, allerdings aus anderen
Gründen als man sich normalerweise die
Planung in der Schweiz, Frankreich oder
den Niederlanden ansieht.
Die enge Bebauung der italienischen
Dörfer und Städte mit verbreiteten Fahrverboten
und das niedrige Preisniveau im
ÖV bei recht hohen Autokosten sollten eigentlich
eine gute Grundlage für den öffentlichen
Verkehr sein. In der Tat ist der
Besetzungsgrad der Fahrzeuge manchmal
beeindruckend. Bei näherer Betrachtung
kommen einem aber doch gewisse Zweifel,
ob diese Potentiale auch wirklich erkannt
und genutzt werden.
Der italienische ÖV zeugt nicht gerade
von hoher Wertschätzung seitens der Politiker,
wie sie etwa durch Ausbaumaßnahmen,
Bevorrechtigung oder nur regelmäßige
Erneuerung zum Ausdruck kommen
könnte. Vielmehr scheint er eher eine
Versorgungsanstalt für Politiker und nur
nachrangig Beförderungsanbieter für einige
Leute ohne Alternative zu sein.
„Öffentlich" hat im öffentlichen Verkehr
Italiens zwei Bedeutungen, die durchaus
nicht in jedem Falle vorteilhaft für den
Nutzer sind.
Ebenso hat man nicht den Eindruck,
daß den Verkehrsunternehmen selbst ihre
Fahrgäste sonderlich am Herzen liegen
oder sie ihnen besonders wichtig sind
würden und daß es ihnen relativ egal ist,
ob diese nun mehr oder weniger werden.
Das Angebot ist zwar vorhanden und in
rein quantitativer Sicht gar nicht schlecht,
wird aber doch unter solchen Begleitumständen
erbracht, daß man sich nicht unbedingt
willkommen geheißen fühlt.
Im Vergleich muß man sagen, daß allen
Schwierigkeiten zum Trotz sich hierzulande
doch in den letzten Jahren einiges
zum Besseren entwickelt hat. Als Besucher
mag man besonders sensibel sein, aber
auch den Einheimischen scheint der ÖV
keinerlei Begeisterung zu entlocken.
Das typische Fahrzeug der Italiener ist
zwar deutlich kleiner als ein hiesiger fahrbarer
Untersatz, insbesondere wenn man
die zahlreichen Zwei- und Dreiräder dazurechnet,
wird aber nach meinem Eindruck
eher häufiger und mit fast noch mehr Hingabe
benutzt. Für einen Freund sanfter
Mobilität ist das zwar bedauerlich, aber
auch nicht so ganz unverständlich. Martin Schiefelbusch,
Berlin-Zehlendorf
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