Reise & Bericht

Kanada - Eine Reisebetrachtung

Kanada, das zweitgrößte Land der Erde, reicht von der Arktis bis zu der Steppe, vom Pazifik bis zum Atlantik. Land der Weite. Den 30 Millionen Kanadiern steht die 38fache Fläche Deutschlands zur Verfügung.

Kanada ist aufgeteilt in neun Provinzen und drei Territorien. Der Großteil der Einwohner konzentriert sich auf den äußersten Süden des Landes, nahezu alle Großstädte sind nicht mehr als 100 Kilometer von den USA entfernt.

Eine mit europäischen Maßstäben vergleichbare Bevölkerungskonzentration wird nur im Süden Ontarios, im sogenannten Korridor, zwischen Toronto und Montreal erreicht. Ein Großteil des Landes ist praktisch unbewohnt. Der größte Reichtum Kanadas ist seine Natur, wichtigster Rohstoff ist das Holz aus seinen schier endlosen Wälder. Die Weiten der Prärie sind aufgrund des Klimas die Kornkammer Kanadas, Getreide Wichtigestes Exportprodukt.

Der Pazifikhafen Vancouver ist der größte seiner Art in Nordamerika, Kanadas Schnittstelle zur Welt und damit auch ein Hauptkunde der Eisenbahn. Der umfangreiche Inlandsgütertransport wird fast ausschließlich auf Schienen abgewickelt.

Eisenbahnverkehr in Kanada

Die Bahn ist privatisiert, Bahnverkehr ist hier nahezu nur Güterverkehr. Dabei teilen sich die zwei transkontinentalen Bahngesellschaften CN (Canadian National) und CP (Canadian Pacific) Streckennetz und Beförderungsvolumen. Schließlich ergänzen einige kleinere Bahngesellschaften mit regionaler Konzentration das Angebot, teilweise sind diese auch im Personenverkehr tätig, wie BC-Rail in British Columbia im Westen des Landes.

Der Bahnbetrieb ist ein völlig anderer als hierzulande: das Streckennetz fast ausschließlich eingleisig, elektrische Fahrleitungen nahezu unbekannt. Ein Güterzug hat selten weniger als hundert Wagen und ist oftmals 10 000 Tonnen schwer. Container werden doppelstöckig befördert, Güterwagen mit weniger als vier Achsen sind ebenso nicht anzutreffen. Alles hat eben kanadische Ausmaße.

Personenverkehr

Im Gegensatz zum umfangreichen Güterverkehr sieht es im Personenverkehr eher traurig aus. Bahnfahren in Kanada gilt als Luxus, das Standardverkehrsmittel ist das Flugzeug, wer billig durchs Land will, nimmt den Greyhound-Bus. Ganz klar, europäische Maßstäbe sind hier fehl am Platz. Soviel zur Rahmenlage. Trotzdem haben sich einige Personenzüge bis heute gehalten.

Der Großteil des verbliebenen Personenverkehrs liegt in der Hand der in den 70er Jahren aus der Not gegründeten VIA Rail, einem Staatsbetrieb ohne eigene Strecken. Damals drohte eine Totalabwicklung des bis dahin privat betriebenen Fernpersonenverkehrs, die nur durch diesen Eingriff des Staates abgewendet werden konnte. Allerdings schwebt auch heute über so manchem VIA-Zug das Damoklesschwert der Mittelkürzungen, so daß es in einigen Jahren durchaus schon wieder schlimmer aussehen kann. Viele Verbindungen gibt es nur zwei oder dreimal die Woche, also sogar im „Taktverkehr". Nur im Korridor zwischen Toronto und Montreal fährt VIA häufiger.

Im Vorortverkehr findet derzeit eine Gegenentwicklung statt, hier scheint man die Bahn wiederentdeckt zu haben. So gibt es in den Ballungsräumen der größten Städte des Landes seit einigen Jahren wieder regelmäßigen Eisenbahnverkehr, teilweise sogar im echten Taktverkehr. Diese Verbindungen werden der allerdings nicht von VIA bedient, Auch sind in diesem Bereich Ausbaubemühungen zu verzeichnen.

Mit VIA von Toronto nach Vancouver

Was würde eine Reise durch die Weiten Kanadas mit der Bahn praktisch bedeuten? Für den Unentwegten zunächst einmal Streß und Ärger. Alles scheint zunächst sehr umständlich und kompliziert. Die Fahrkarten kauft man billiger im voraus, im konkreten Falle hieß das: in Deutschland.

Viele Telefonate und schließlich treffen zwei Tage vor dem geplanten Abflug nach Toronto die Fahrkarten in Berlin ein: CAN$ 369,- für genau 4 451 Kilometer, für eine Fahrt mit dem „Canadian", dem Flagschiff der VIA Rail. Einmal von Toronto nach Vancouver in 75 Stunden und durch drei Zeitzonen. Dank „Bahncard Kanada", dem internationalen Studentenausweis, liegt der Fahrpreis trotz schlechtem DM-Kurs im Bereich des DB Bahncard-Tarifs.

Dreimal die Woche geht VIA's „Train Number One" auf die Reise, Abfahrt in Toronto, Union Station Tag 1, 8.45 Uhr, Ankunft Vancouver, Pacific Central Station Tag 4, 7.51Uhr.

Der 24. August 2000 war ein Tag 1. Um 8 Uhr heißt es erst einmal warten, auf kanadisch „Line up, please!". Anstellen an den Zug, bevor um 8.30 Uhr das „Boarding" beginnen kann. Um 9 Uhr darf der Zug bestiegen werden, wenig später gehen die zwanzig Wagen, gezogen von zwei Diesellokomotiven, auf die lange Reise.

Die ersten Stunden durch die Vorstädte Torontos sind noch unspektakulär, aber schon am frühen Nachmittag taucht der Zug in das wahre Kanada ein: Natur pur! Daß die durchfahrene Provinz Ontario die bevölkerungsreichste Kanadas sein soll, scheint schon wenige hundert Kilometer entfernt von Toronto sehr unglaubwürdig: Bäume, Seen, Felsen begleiten die Fahrt, von Zivilisation keine Spur. Durchaus nicht langweilig die Landschaft, sie scheint kein Ende zu nehmen. Zumindest nicht an diesem, dem ersten Tag.

Die letzten Fahrgäste haben sich derweil zur Ruhe gesetzt, so daß der Aussichtswagen leer ist. Eine gute Gelegenheit, auf dem Fußboden im Oberstock den Schlafsack auszubreiten. Eine Fahrt im Schlafwagen ist nicht bezahlbar.

Als am nächsten Morgen gegen 6 Uhr die Sonne aufgeht, scheint sich die Landschaft noch nicht verändert zu haben, der Zug hat Ontario noch immer nicht verlassen, die erste Zeitzone dagegen schon. Erstmals heißt es, die Uhr zurückzustellen.

Ausblick
Majestätisch erheben sich die Rockies auf dem Wege nach Jaspers. Blick aus dem Dome Car. Foto: Thomas Kabisch, Juli 2000

Gegen 7 Uhr läuft das Personal des Speisewagens durch den Zug, um für das Frühstück zu werben: „First call for breakfast". Trotz zweier weiterer Aufrufe begnügen sich die meisten Fahrgäste der Sitzwagen mit ihrer mitgebrachten Verpflegung, die Plätze im „Dome car" , dem Aussichtswagen, sind derweil schon gut besucht.

Man kennt sich schon, die meisten Reisenden fahren alles im Stück oder aber zumindest bis in die Rocky Mountains, die wird der Zug übermorgen nachmittag erreichen.

Reisegruppen sind die Regel, aber auch Studentinnen aus Toronto, die nun im neuen Semester in Vancouver studieren möchten. Den Großteil machen natürlich Touristen aus, so auch zwei junge Damen aus Hannover.

Der erste Höhepunkt des zweiten Tages ist Sioux Lookout. Eine kleine Eisenbahn-Gemeinde in den Weiten Nord-Ontarios. Gegen 9 Uhr erreicht der „Canadian“ diesen schönen Ort. Hier ist eine Tankpause, wie sie ca. alle acht Stunden durchgeführt wird. Das bedeutet 20 Minuten Zeit, die Beine zu vertreten. Und das bedeutet auch: Auffrischen der Lebensmittelvorräte im Supermarkt auf dem Bahnhofsvorplatz. Die neuen Vorräte müssen werden bis Edmonton reichen.

Plötzlich, nach 1700 Kilometer, ändert sich die Landschaft. Die Bäume verschwinden, schließlich ist der Blick frei: Manitoba, die östlichste Prärie-Provinz ist erreicht. Am Nachmittag schließlich läuft der „Canadian“ in den monumentalen Bahnhof von Winnipeg, der Provinzhauptstadt Manitobas, ein. Knapp 2000 Kilometer sind geschafft.

Halbzeit

Hier ist eine Stunde Aufenthalt. Die Vorräte werden ergänzt, die Lokomotiven aufgetankt und das Zugbegleitpersonal zum ersten und einzigen Mal gewechselt, nach 35 Stunden Dienstzeit Die Lokomotiven verbleiben übrigens die gesamte Fahrtstrecke am Zuge.

Dreißig Grad im Schatten, das Prärie-Klima ist zu spüren, der nächste Ozean ist von hier 1000 Kilometer entfernt.

Viel Zeit für eine Stadtbesichtigung ist nicht, der Bahnhof kündet von besseren Zeiten, heute fahren hier noch sechs Züge - wöchentlich. VIA's Nordlinie nach Churchill an der Hudson-Bucht hat hier ihren Ausgangspunkt. Auch treffen hier beide Transkontinentallinien zusammen, die der CP verläuft von hier südlich, über Regina und Calgary nach Vancouver. Der "Canadian" allerdings nimmt seit einigen Jahren die nördliche Trasse der CN, über Saskatoon und Edmonton zum Pazifischen Ozean.

Nun geht es durch die Prärie, Getreitesilos säumen den Weg, jede Farm scheint ihren eigenen Gleisanschluß zu haben.

Mit einem traumhaften Sonnenuntergang verabschiedet sich Manitoba. Die zweite Prärieprovinz, Saskatoon, durchfährt VIA komplett bei Nacht. Einer der Mitreisenden ist ein Koreaner, er hat in Vancouver Englisch gelernt, durchquert nun zum Abschluß noch einmal das ganze Land, um zwei Tage später von Vancouver heimzufliegen.

Viel Betrieb ist auch zu vorgerückter Stunde noch im einzigen Raucherabteil des Zuges. Erst gegen 1 Uhr findet sich wieder ein ruhiges Plätzchen für den Schlafsack. Diese Nacht versuchen allerdings auch einige andere Mitreisende, ihren zugedachten Sitzen zu entfliehen. Nachts wird es allerdings im „Dome car" empfindlich kalt.

Die reiche Ölprovinz Alberta, nach Ontario, Manitoba und Saskatoon die vierte Provinz auf dieser Reise, empfängt den „Canadian“ am Morgen des dritten Tages mit Regenschauern.

Zugstrecke
Vor der Skyline von Toronto begibt sich ein VIA-Zug auf die Reise. Foto: Thomas Kabisch, Juli 2000

Gegen 8 Uhr tauchen am Horizont die Wolkenkratzer von Edmonton, der Haupstadt Albertas, auf. Edmonton ist die nördlichste Großstadt Kanadas und für ihr stark kontinentales Klima gehaßt: im Winter extrem kalt, im Sommer extrem heiß. Trotzdem ist hier eine Pause eingeplant, bis zum nächsten Zug, in drei Tagen.

Der Bahnhof in Edmonton ist nunmehr nur noch eine Bushaltestelle, „Edmonton 21” bereits verwirklicht, vom alten Bahnhof in der Innenstadt ist fast nichts mehr auszumachen. Der neue Haltepunkt ist nicht einmal an den Stadtbus angebunden.

Auch sonst macht Edmonton keinen besonders einladenden Eindruck, als größte Sensation der Stadt gilt die „West Edmonton Mall" - das größte Einkaufszentrum der Welt.

Es werden dann doch drei Tage und drei Stunden, der nächste VIA""Number One” ist verspätet, VIA gibt derweil für die wartenden Reisenden Kaffee und Kuchen aus.

Endlich gegen 11 Uhr geht die Reise weiter, dem Höhepunkt entgegen, den Rocky Mountains!

Gegen 14 Uhr hat die Prärie ein Ende, der Übergang ist allerdings nicht abrupt, auf tausenden Kilometern seit dem Atlantik ist die Landschaft unmerklich schon derart angestiegen, daß die Berge zunächst klein wirken.

Dann aber sind sie doch unübersehbar, wenn auch teilweise in den Wolken versteckt, es regnet, als der Zug durch atemberaubende Täler zwischen den 3000ern hindurch Jasper entgegenstrebt. Gegen 15 Uhr schließlich ist mit zwei Stunden Verspätung der weltbekannte Touristenort in den Rocky Mountains erreicht.

Wieder eine Stunde Aufenthalt, viele Fahrgäste verlassen den Zug, dessen Scheiben sogar nochmals geputzt werden, bevor es um 16 Uhr weitergeht.

Noch einige Stunden durch Täler, schließlich verläßt er gegen Abend Alberta. Der Kamm der Rocky Mountains ist die Provinzgrenze zu British Columbia, der westlichsten Provinz Kanadas am Pazifischen Ozean. Nochmals gilt es die Uhr zurückzustellen.

Verglichen mit den zurückliegenden Kilometern erscheinen die noch fehlenden 1000 Kilometer wie eine kurze S-Bahn-Fahrt. Leider werden die landschaftlich reizvolle Abschnitte bei Nacht durchfahren, der weltberühmte Fraser-Canyon morgens um 4 Uhr.

Als der Tag in Chilliwack graut, sind die Rocky Mountains passiert, das breite Fraser-Tal, was die Ansiedlung von Vancouver erst ermöglichte, hat bereits begonnen. Es zieht sich auf über hundert Kilometer hin. Es regnet.

Ab 7 Uhr taucht der „Candian" in Vororte von Vancouver ein. Sie reihen sich viele Kilometer im Tal entlang. Schließlich, gegen 8 Uhr wird - mit einer Sägefahrt, der Endbahnhof, Vancouver Pacific Central Station erreicht.

Die längste Eisenbahnreise Kanadas ist zu Ende. Der Pazifische Ozean nur noch Wenige Kilometer entfernt. Willkommen im „wahren Westen"!

Thomas Kabisch, Berlin Lichtenberg

aus SIGNAL 1-02/2001 (März 2001), Seite 30-32

 

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