Kanada ist aufgeteilt in neun Provinzen
und drei Territorien. Der Großteil der Einwohner
konzentriert sich auf den äußersten Süden
des Landes, nahezu alle Großstädte sind
nicht mehr als 100 Kilometer
von den USA entfernt.
Eine mit europäischen Maßstäben vergleichbare
Bevölkerungskonzentration
wird nur im Süden Ontarios, im sogenannten
Korridor, zwischen Toronto und
Montreal erreicht. Ein Großteil des Landes
ist praktisch unbewohnt. Der größte
Reichtum Kanadas ist seine Natur, wichtigster
Rohstoff ist das Holz aus seinen
schier endlosen Wälder. Die Weiten der
Prärie sind aufgrund des Klimas die Kornkammer
Kanadas, Getreide Wichtigestes
Exportprodukt.
Der Pazifikhafen Vancouver ist der
größte seiner Art in Nordamerika, Kanadas
Schnittstelle zur Welt und damit auch
ein Hauptkunde der Eisenbahn. Der umfangreiche
Inlandsgütertransport wird
fast ausschließlich auf Schienen abgewickelt.
Eisenbahnverkehr in Kanada
Die Bahn ist privatisiert, Bahnverkehr ist
hier nahezu nur Güterverkehr. Dabei teilen
sich die zwei transkontinentalen
Bahngesellschaften CN (Canadian National)
und CP (Canadian Pacific) Streckennetz
und Beförderungsvolumen. Schließlich ergänzen
einige kleinere Bahngesellschaften mit
regionaler Konzentration
das Angebot, teilweise sind diese auch im
Personenverkehr tätig, wie BC-Rail in British
Columbia im Westen des Landes.
Der Bahnbetrieb ist ein völlig anderer
als hierzulande: das Streckennetz fast
ausschließlich eingleisig, elektrische Fahrleitungen
nahezu unbekannt. Ein Güterzug hat selten
weniger als hundert Wagen und ist oftmals 10 000 Tonnen
schwer. Container werden doppelstöckig
befördert, Güterwagen mit weniger als
vier Achsen sind ebenso nicht anzutreffen.
Alles hat eben kanadische Ausmaße.
Personenverkehr
Im Gegensatz zum umfangreichen Güterverkehr
sieht es im Personenverkehr eher
traurig aus. Bahnfahren in Kanada gilt als
Luxus, das Standardverkehrsmittel ist das
Flugzeug, wer billig durchs Land will,
nimmt den Greyhound-Bus. Ganz klar,
europäische Maßstäbe sind hier fehl am
Platz. Soviel zur Rahmenlage. Trotzdem
haben sich einige Personenzüge bis heute gehalten.
Der Großteil des verbliebenen Personenverkehrs
liegt in der Hand der in den
70er Jahren aus der Not gegründeten VIA
Rail, einem Staatsbetrieb ohne eigene
Strecken. Damals drohte eine Totalabwicklung
des bis dahin privat betriebenen
Fernpersonenverkehrs, die nur durch diesen
Eingriff des Staates abgewendet werden
konnte. Allerdings schwebt auch
heute über so manchem VIA-Zug das
Damoklesschwert der Mittelkürzungen,
so daß es in einigen Jahren durchaus
schon wieder schlimmer aussehen kann.
Viele Verbindungen gibt es nur zwei oder
dreimal die Woche, also sogar im „Taktverkehr".
Nur im Korridor zwischen Toronto und Montreal fährt VIA häufiger.
Im Vorortverkehr findet derzeit eine
Gegenentwicklung statt, hier scheint man
die Bahn wiederentdeckt zu haben. So
gibt es in den Ballungsräumen der größten
Städte des Landes seit einigen Jahren
wieder regelmäßigen Eisenbahnverkehr,
teilweise sogar im echten Taktverkehr.
Diese Verbindungen werden der allerdings
nicht von VIA bedient, Auch sind in
diesem Bereich Ausbaubemühungen zu
verzeichnen.
Mit VIA von
Toronto nach Vancouver
Was würde eine Reise durch die Weiten
Kanadas mit der Bahn praktisch bedeuten?
Für den Unentwegten zunächst einmal Streß
und Ärger. Alles scheint zunächst sehr
umständlich und kompliziert.
Die Fahrkarten kauft man billiger im voraus,
im konkreten Falle hieß das: in
Deutschland.
Viele Telefonate und schließlich treffen
zwei Tage vor dem geplanten Abflug
nach Toronto die Fahrkarten in Berlin ein:
CAN$ 369,- für genau 4 451 Kilometer,
für eine Fahrt mit dem „Canadian", dem
Flagschiff der VIA Rail. Einmal von Toronto
nach Vancouver in 75 Stunden und
durch drei Zeitzonen. Dank „Bahncard
Kanada", dem internationalen Studentenausweis,
liegt der Fahrpreis trotz
schlechtem DM-Kurs im Bereich des DB
Bahncard-Tarifs.
Dreimal die Woche geht VIA's „Train
Number One" auf die Reise, Abfahrt in
Toronto, Union Station Tag 1, 8.45 Uhr,
Ankunft Vancouver, Pacific Central Station
Tag 4, 7.51Uhr.
Der 24. August 2000 war ein Tag 1. Um
8 Uhr heißt es erst einmal warten, auf
kanadisch „Line up, please!". Anstellen an
den Zug, bevor um 8.30 Uhr das „Boarding"
beginnen kann. Um 9 Uhr darf der
Zug bestiegen werden, wenig später gehen
die zwanzig Wagen, gezogen von
zwei Diesellokomotiven, auf die lange
Reise.
Die ersten Stunden durch die Vorstädte
Torontos sind noch unspektakulär, aber
schon am frühen Nachmittag taucht der
Zug in das wahre Kanada ein: Natur pur!
Daß die durchfahrene Provinz Ontario die
bevölkerungsreichste Kanadas sein soll,
scheint schon wenige hundert Kilometer
entfernt von Toronto sehr unglaubwürdig:
Bäume, Seen, Felsen begleiten die
Fahrt, von Zivilisation keine Spur. Durchaus
nicht langweilig die Landschaft, sie
scheint kein Ende zu nehmen. Zumindest
nicht an diesem, dem ersten Tag.
Die letzten Fahrgäste haben sich derweil
zur Ruhe gesetzt, so daß der Aussichtswagen
leer ist. Eine gute Gelegenheit, auf
dem Fußboden im Oberstock
den Schlafsack auszubreiten. Eine Fahrt
im Schlafwagen ist nicht bezahlbar.
Als am nächsten Morgen gegen 6 Uhr
die Sonne aufgeht, scheint sich die Landschaft
noch nicht verändert zu haben, der
Zug hat Ontario noch immer nicht verlassen,
die erste Zeitzone dagegen schon.
Erstmals heißt es, die Uhr zurückzustellen.
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Majestätisch erheben sich die Rockies auf dem Wege nach Jaspers. Blick aus dem Dome Car. Foto: Thomas Kabisch, Juli 2000 |
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Gegen 7 Uhr läuft das Personal des
Speisewagens durch den Zug, um für das
Frühstück zu werben: „First call for breakfast".
Trotz zweier weiterer Aufrufe begnügen
sich die meisten Fahrgäste der
Sitzwagen mit ihrer mitgebrachten Verpflegung,
die Plätze im „Dome car" , dem
Aussichtswagen, sind derweil schon gut
besucht.
Man kennt sich schon, die meisten Reisenden
fahren alles im Stück oder aber
zumindest bis in die Rocky Mountains, die
wird der Zug übermorgen nachmittag
erreichen.
Reisegruppen sind die Regel, aber auch
Studentinnen aus Toronto, die nun im
neuen Semester in Vancouver studieren
möchten. Den Großteil machen natürlich
Touristen aus, so auch zwei junge Damen
aus Hannover.
Der erste Höhepunkt des zweiten Tages
ist Sioux Lookout. Eine kleine Eisenbahn-Gemeinde
in den Weiten Nord-Ontarios.
Gegen 9 Uhr erreicht der „Canadian“ diesen
schönen Ort. Hier ist eine Tankpause,
wie sie ca. alle acht Stunden durchgeführt
wird. Das bedeutet 20 Minuten Zeit, die
Beine zu vertreten. Und das bedeutet
auch: Auffrischen der Lebensmittelvorräte
im Supermarkt auf dem Bahnhofsvorplatz.
Die neuen Vorräte müssen werden
bis Edmonton reichen.
Plötzlich, nach 1700 Kilometer, ändert
sich die Landschaft. Die Bäume verschwinden,
schließlich ist der Blick frei:
Manitoba, die östlichste Prärie-Provinz ist
erreicht. Am Nachmittag schließlich läuft
der „Canadian“ in den monumentalen
Bahnhof von Winnipeg, der Provinzhauptstadt
Manitobas, ein. Knapp
2000 Kilometer sind geschafft.
Halbzeit
Hier ist eine Stunde Aufenthalt. Die Vorräte
werden ergänzt, die Lokomotiven aufgetankt
und das Zugbegleitpersonal zum
ersten und einzigen Mal gewechselt,
nach 35 Stunden Dienstzeit Die Lokomotiven
verbleiben übrigens die gesamte
Fahrtstrecke am Zuge.
Dreißig Grad im Schatten, das Prärie-Klima
ist zu spüren, der nächste Ozean ist
von hier 1000 Kilometer entfernt.
Viel Zeit für eine Stadtbesichtigung ist
nicht, der Bahnhof kündet von besseren
Zeiten, heute fahren hier noch sechs Züge
- wöchentlich. VIA's Nordlinie nach Churchill
an der Hudson-Bucht hat hier ihren
Ausgangspunkt. Auch treffen hier beide
Transkontinentallinien zusammen, die der
CP verläuft von hier südlich, über Regina
und Calgary nach Vancouver. Der "Canadian"
allerdings nimmt seit einigen Jahren die
nördliche Trasse der CN, über Saskatoon
und Edmonton zum Pazifischen
Ozean.
Nun geht es durch die Prärie, Getreitesilos
säumen den Weg, jede Farm scheint
ihren eigenen Gleisanschluß zu haben.
Mit einem traumhaften Sonnenuntergang
verabschiedet sich Manitoba. Die
zweite Prärieprovinz, Saskatoon, durchfährt
VIA komplett bei Nacht. Einer der
Mitreisenden ist ein Koreaner, er hat in
Vancouver Englisch gelernt, durchquert
nun zum Abschluß noch einmal das ganze
Land, um zwei Tage später von Vancouver heimzufliegen.
Viel Betrieb ist auch zu vorgerückter
Stunde noch im einzigen Raucherabteil
des Zuges. Erst gegen 1 Uhr findet sich
wieder ein ruhiges Plätzchen für den
Schlafsack. Diese Nacht versuchen allerdings
auch einige andere Mitreisende,
ihren zugedachten Sitzen zu entfliehen.
Nachts wird es allerdings im „Dome car"
empfindlich kalt.
Die reiche Ölprovinz Alberta, nach Ontario,
Manitoba und Saskatoon die vierte
Provinz auf dieser Reise, empfängt den
„Canadian“ am Morgen des dritten Tages
mit Regenschauern.
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Vor der Skyline von Toronto begibt sich ein VIA-Zug auf die Reise. Foto: Thomas Kabisch, Juli 2000 |
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Gegen 8 Uhr tauchen am Horizont die
Wolkenkratzer von Edmonton, der
Haupstadt Albertas, auf. Edmonton ist
die nördlichste Großstadt Kanadas und
für ihr stark kontinentales Klima gehaßt:
im Winter extrem kalt, im Sommer extrem
heiß. Trotzdem ist hier eine Pause
eingeplant, bis zum nächsten Zug, in drei
Tagen.
Der Bahnhof in Edmonton ist nunmehr
nur noch eine Bushaltestelle, „Edmonton 21”
bereits verwirklicht, vom alten
Bahnhof in der Innenstadt ist fast nichts
mehr auszumachen. Der neue Haltepunkt
ist nicht einmal an den Stadtbus angebunden.
Auch sonst macht Edmonton keinen
besonders einladenden Eindruck, als
größte Sensation der Stadt gilt die „West
Edmonton Mall" - das größte Einkaufszentrum der Welt.
Es werden dann doch drei Tage und
drei Stunden, der nächste VIA""Number
One” ist verspätet, VIA gibt derweil für
die wartenden Reisenden Kaffee und Kuchen aus.
Endlich gegen 11 Uhr geht die Reise
weiter, dem Höhepunkt entgegen, den
Rocky Mountains!
Gegen 14 Uhr hat die Prärie ein Ende,
der Übergang ist allerdings nicht abrupt,
auf tausenden Kilometern seit dem Atlantik
ist die Landschaft unmerklich schon
derart angestiegen, daß die Berge zunächst
klein wirken.
Dann aber sind sie doch unübersehbar,
wenn auch teilweise in den Wolken versteckt,
es regnet, als der Zug durch atemberaubende
Täler zwischen den 3000ern
hindurch Jasper entgegenstrebt. Gegen
15 Uhr schließlich ist mit zwei Stunden
Verspätung der weltbekannte Touristenort
in den Rocky Mountains erreicht.
Wieder eine Stunde Aufenthalt, viele
Fahrgäste verlassen den Zug, dessen
Scheiben sogar nochmals geputzt werden,
bevor es um 16 Uhr weitergeht.
Noch einige Stunden durch Täler,
schließlich verläßt er gegen Abend Alberta.
Der Kamm der Rocky Mountains ist die
Provinzgrenze zu British Columbia, der
westlichsten Provinz Kanadas am Pazifischen
Ozean. Nochmals gilt es die Uhr
zurückzustellen.
Verglichen mit den zurückliegenden
Kilometern erscheinen die noch fehlenden
1000 Kilometer wie eine kurze S-Bahn-Fahrt.
Leider werden die landschaftlich reizvolle
Abschnitte bei Nacht durchfahren, der
weltberühmte Fraser-Canyon
morgens um 4 Uhr.
Als der Tag in Chilliwack graut, sind die
Rocky Mountains passiert, das breite Fraser-Tal,
was die Ansiedlung von Vancouver erst ermöglichte,
hat bereits begonnen. Es zieht sich
auf über hundert Kilometer hin. Es regnet.
Ab 7 Uhr taucht der „Candian" in
Vororte von Vancouver ein. Sie reihen sich
viele Kilometer im Tal entlang. Schließlich,
gegen 8 Uhr wird - mit einer Sägefahrt,
der Endbahnhof, Vancouver Pacific Central Station erreicht.
Die längste Eisenbahnreise Kanadas ist
zu Ende. Der Pazifische Ozean nur noch
Wenige Kilometer entfernt. Willkommen
im „wahren Westen"!
Thomas Kabisch, Berlin Lichtenberg
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