Berlin

Wer nicht konsumiert, fliegt!

Endlich einmal eine gute Nachricht von der Bahn: Sie räumt auf ihren Stationen weiter auf. Hat Bahnchef Mehdorn doch einen neuen Grund dafür ausgemacht, wenn es hier und da noch nicht so schnieke aussieht wie gewünscht.

„Wenn es regnet und bei der Bahnhofsmission wird Suppe verteilt, geht doch kein Obdachloser mehr nach draußen in den Regen", erklärte er laut „Bild am Sonntag" vom 14. Oktober. Er übersah dabei jedoch: Womöglich würden die Obdachlosen bei Regen sogar ohne Suppe (welche die Missionen nach eigenen Worten schon seit längerem nicht mehr verteilen) im Bahnhof sitzen bleiben. Und durch dieses schlechte Vorbild am Ende selbst Leute mit Obdach dazu anstacheln, bei Hagel, Sturm oder Wolkenbruch in der Station zu verharren. Dies zeigt schon: Die Idee, die Bahnhofsmissionen aus den Bahnhöfen zu verbannen (und am besten auch aus deren Umfeld - wie wäre es etwa mit einer Verlegung nach Gatow oder nach Müggelheim?), zielt zwar in die richtige Richtung, ist aber noch viel zu kurz gegriffen.

Natürlich wissen wir: Nichts ist bei der Bahn AG so verpönt wie die eigene Vergangenheit und alles, was auch nur irgendwie nach Bahntradition riecht. Dennoch sollte Hartmut Mehdorn mal einen Blick ins Archiv werfen (soweit dieses denn noch nicht in Richtung Müllkippe entsorgt worden ist). Denn in der Geschichte dieses Verkehrsmittels finden sich nicht nur so fürchterliche und daher längst umbenannte oder noch besser ausrangierte Dinge wie Fahrdienstleiter, D-Züge, Speisewagen oder eben Bahnhofsmissionen. Sondern auch die gute Idee, den Zugang zu den Perrons zu kontrollieren.

Diesen Einfall gilt es, in die neue Zeit zu übertragen: In den Bahnhof kommt fortan nur noch, wer eine Fahrkarte für einen in Kürze abgehenden Zug vorweisen kann, oder aber Eintritt bezahlt. Letzteres sollte verbunden werden mit einem Einkaufsgutschein, denn wozu ist ein Bahnhof bekanntlich in allererster Linie da? - Richtig: zum Shopping. Natürlich müßte moderne Elektronik dafür sorgen, daß sich unerwünschte, da konsumschwache oder gar konsumscheue Elemente nicht etwa durch den Erwerb einer Eintritts- oder auch einer Fahrkarte in den Bahnhof mogeln und dort dann endlos verharren. Die Tickets müßten beispielsweise nach einer Stunde verfallen und ihre Besitzer durch entsprechende Überwachungsanlagen problemlos zu orten sein. Bahnhofshostessen könnten dann zum Kauf eines neuen Billetts auffordern, zum vorschriftsmäßigen Nachkonsum (Kassenbons wären ebenso zu präparieren), oder aber sie müßten die Sicherheitskräfte verständigen. Man kennt derlei ja schon aus all den schönen neuen Einkaufszentren, wo man sich auch nicht einfach auf den Rand eines schmucken Betonblumenkübels setzen darf - dafür sind schließlich die Lokale da. Sinnvollerweise hat die Deutsche Bahn AG Bänke und Warteräume auf manchen Stationen schon aufs Äußerste reduziert - Rumlümmeln ist nicht (schon gar nicht mit dem Hinweis auf verspätete Züge, die es bekanntlich nur in ganz, ganz wenigen Ausnahmefällen gibt), sondern es heißt: Weitergehen, weitergehen, und nicht vergessen, dabei immer schön zu konsumieren!

Lounge
Die DB-Lounge im Hauptbahnhof Frankfurt/Main. Hier hat nur Zutritt, wer eine Fahrkarte hat. Ein Modell für die Zukunft? Foto: DB AG, Mann

Wie überfällig es ist, die (unterbrochen vom Verbot durch Nazis und SED) seit über hundert Jahren ihr Unwesen treibenden Bahnhofsmissionen aus diesem Ambiente zu entfernen, zeigt deren dreistes Ansinnen, „Rückzugsmöglichkeiten" zu bieten und auf manchen Stationen gar einen (ebenso kommerzfreien) „Raum der Stille" einzurichten. Ihrer Website (www.bahnhofsmission.de) zufolge wollen diese Institutionen „ein Stückchen Zuhause für alle Reisenden und Hilfesuchende" bieten, „Menschlichkeit am Zug" zeigen, und sehen sich „als ´Kirche am Bahnhof` getragen vom Evangelium als der frohmachenden Botschaft für alle Menschen".

Doch so geht es nicht mehr: Die Bahn ist jetzt schließlich eine Aktiengesellschaft, und da zählt nur die Dividende. Wenn die Kirche partout im profitoptimierten Bahnhof der neuen Zeit vertreten sein will, braucht sie sich selbiger doch nur anzupassen: Gegen einen niedlichen ChurchShop mit Designerbibeln, Jesus-Kaffeebechern, Oblatensnack, Produkten aus der neuesten Kruzifix-Kollektion und der Frohen Botschaft im Supersonderangebot wird auch Hartmut Mehdorn nichts einzuwenden haben.

Jan Gympel

aus SIGNAL 8/2001 (Dezember 2001), Seite 11-12

 

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