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Sommer in Berlin (1)
Inzwischen sind bekanntlich auch West-Berliner
zu „Wessis" mutiert, in BVG-Busse
darf man in der Mitte einsteigen, und
manche dieser Fahrzeuge besitzen sogar
drei Türen. Verloren gegangen ist damit
ein Stück jenes Insiderwissens von Großstädtern,
welches deren ganzer Stolz ist,
unterscheidet es diese doch von den Besuchern
vom „Land", die sich durch ihre Unkenntnis
als Provinzler outen, Und wie
glücklich ist der Zugezogene, wenn er
endlich hinter die Geheimnisse seines neuen
Lebensraumes gekommen ist und dessen
Riten verinnerlicht hat. In dieser Hinsicht
stellte es auch einen argen Verlust
dar, als man bei der Berliner S-Bahn nach
Jahrzehnten dazu überging, nicht mehr
nur Strecken zu nennen („Übergang zur
Ringbahn", „Zur Wannseebahn", „Züge
Richtung Stadtbahn"), sondern Linienkennzeichnungen
einzuführen und diese
dann auch noch in der Netzspinne deutlich
zu machen. Die DB AG bzw, ihre
S-Bahn GmbH gleichen diesen Verlust an
Großstädter-Geheimwissen jedoch dadurch
aus, dass sie mindestens einmal im
Jahr die Linien verändern und dies häufig
noch ergänzen durch Umbenennungen
von Bahnhöfen. Und nun haben sie uns einen
Zuwachs an Insiderkenntnissen beschert,
auf den niemand zu hoffen wagte.
Natürlich: Es wird noch geraume Zeit dauern,
bis wenigstens die eingefleischten
S-Bahn-Fans begriffen haben, wie die
Züge auf dem Ring fahren, wie man dies
ihrer oft ebenso rätselhaften wie wechselnden
Beschilderung entnehmen kann
und in welchem Zusammenhang diese
wiederum mit dem steht, was die Anzeiger
auf den Bahnhöfen kundtun. Dass
zum Beispiel „Ring Gesundbrunnen" nicht
etwa bedeutet, dass der Zug am Gesundbrunnen
endet. Oder dass man die Information „Weiter als S 2 nach Bernau"
selbst am Wedding nur auf dem Bahnsteig
lesen kann. Aber schon bald werden wir
das alles enträtselt haben und dann, endlich
wieder, sehen wir voller Verachtung
auf Touristen, Zugezogene und Gelegenheitsfahrer
herab, die ratlos Züge an sich
vorbeirauschen lassen oder mal wieder
nicht dort landen, wo sie hinwollten. Danke, S-Bahn!
Sommer in Berlin (2)
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Der Hinweis auf die zweiwöchige Sperrung der Straßenbahnstrecke über den Alexanderplatz war zwar immerhin zweisprachig, kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Sperrung eigentlich vermeidbar war. Foto: Alexander Frenzel |
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Das erwähnte Geheimwissen wird natürlich
wachsen, wenn die Nord-Süd-Bahn
wieder fährt, die Kurve zwischen Pankow
und Schönhauser Allee wiederaufgebaut
ist und es auch eine S-Bahn vom Nordring
zum Lehrter Bahnhof gibt. Lauter Dinge,
durch die sich die Möglichkeiten zu verwirrenden
Linienführungen und Beschilderungen sprunghaft vermehren. In diesem
Sommer boten uns die Betreiber des
ÖPNV aber auch noch andere Attraktionen:
Brillant die Idee, möglichst viele
Strecken in einer Gegend auf einmal zu
sperren. Dummerweise vereitelte blöder
Bürgerprotest, dass Wannseebahn und
U 1 Richtung Krumme Lanke gleichzeitig
stillgelegt wurden. Zum Glück gab es keine
allzu große Diskussion darüber, ob
man mit der Sanierung der Nord-Süd-Bahn
nicht noch die zwei Wochen hätte
warten können, bis die Stadtbahngleise in
den neuen Lehrter Bahnhof verschwenkt
waren. Und dass die BVG zur selben Zeit
die Straßenbahnschienen am Alex herrichten
musste. Zudem brachte die Tunnelsperrung
einen Nebeneffekt mit sich:
Plötzlich ist die Situation in der Friedrichstadt
und den nördlich angrenzenden Bereichen
wieder so wie vor dem Sommer
1936 (mit dem Unterschied, dass damals
die südlichen Vorortzüge immerhin bis an
den Potsdamer Platz fuhren), Zugleich
sind auf der U 6 zahlreiche Züge unterwegs,
die nur zwischen den als Endpunkten
lang vergessenen Bahnhöfen Seestraße und
Tempelhof pendeln. Und während
der Unterbrechung der Stadtbahn endeten
alle S-Bahn-Züge von Osten wie bis
1990 an der Friedrichstraße, was gerade
für die diversen Neu-Ost-Berliner eine aufregende
Erfahrung gewesen sein mag.
Beim nächsten Mal sollte die Bahn mehr
daraus machen: Nicht nur könnte man
kleine Grenzkontrollen durchführen oder
den Bahnhof Friedrichstraße wenigstens
mit ein paar DDR-Flaggen und Spruchbändern
dekorieren („Alles für die planmäßige
Realisierung des Pilzkonzeptes und der
wegweisenden Beschlüsse von BMV und
DB AG!" - „Wie wir heute bauen, so werden
wir morgen fahren!").
Sommer in Berlin (3)
Janz dufte fanden viele Berliner (und erst
jene Medien, die ja imma allat in unsa duftet
Balin janz knorke finden) gleich den
neuen Lehrter Bahnhof. Das erinnerte ein
wenig an die Begeisterung, mit welchen
zum Jahreswechsel die neue Währung begrüßt
worden war. Auch im Falle des Lehrter
Bahnhofs dürfte die Euphorie schnell
verfliegen. Wird sich doch schon in ein
paar Monaten, wenn es Winter ist, überraschenderweise
herausstellen, dass die
schönste und teuerste Bahnsteighalle wenig
nutzt, wenn in ihrer Mitte eine große
Lücke klafft, dank derer Wind, Regen und
Schnee über den Perron fegen können. Ob
dann schnell ein hölzernes Notdach zusammengezimmert
wird, natürlich nur als
Provisorium, bis die ganz großen Baupläne
realisiert sind? Man sollte es stabil ausführen,
denn beispielsweise der Bahnhof
Großgörschenstraße mit seinen drei kurzen
Dächelchen (damals eine Ausnahme,
heute, wie man auf dem Nordring sehen
kann, Standard bei der „neuen" Bahn) existiert
als ein solches Provisorium schon
seit 1939. Vom Hochbahnhof Warschauer
Straße gar nicht zu reden.
Sommer in Berlin (4)
Besondere Aufmerksamkeit erfährt ein
Bahnhof natürlich immer dann, wenn
möglichst viele Medienvertreter (am besten
mit Kameras) anwesend sind. Da kommen dann
auch Leute, die normalerweise
keinen Fuß in einen Zug setzen - zum Beispiel
Politiker. Und wie schnell erwacht in
ihnen dann wieder der kleine Junge, der
von der großen Eisenbahn träumt, So
stand, während viele Stationen heutzutage
ja von Personal verwaist (und entsprechend
verwahrlost) sind, gleich eine ganze
Riege von Gelegenheits-Zugabfertigern
parat, als es den Ringschluss zu begehen
galt. In den Sonderzügen drängelten sich
jedoch so viele Normalsterbliche, dass all
die Regierungs- und Vorstandsmitglieder
kaum mitkamen. Früher war eben alles
besser: Da feierten und fuhren erst mal die
Honoratioren, und drei Tage später durfte
dann auch der Pöbel die neue Hoch- und
Untergrundbahn benutzen.
Jan Gympel
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