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Angesichts der paradiesischen Zustände,
in denen wir bisher schon lebten und reisten,
möchte man es kaum für möglich
halten, doch: Das Bahnfahren wird noch
schöner, und das nicht nur, weil Bahnchef
Mehdorns Anwälte jetzt festgestellt haben,
wie wunderbar, leicht verständlich,
kundenfreundlich und vor allem unglaublich
günstig (doch, doch, gemeint ist tatsächlich:
günstig für die Kunden) das
neue Tarifsystem der DB AG ist.
Auch die Drohung, demnächst bei ungünstiger
Wetterprognose den Bahnverkehr
womöglich ganz einzustellen, wenn
die Beförderungsfälle und die Presse weiter
herummaulen, bloß weil mal ein paar
Dutzend Züge liegen bleiben und unter
anderem wegen der weitgehenden Wegrationalisierung
der Dieselloks auch nicht
mehr weggeschleppt werden können,
beruht natürlich nur auf einem Kommunikationsproblem.
Das undankbare Volk
braucht nur zu lernen: Dies alles ist Teil
des Vorhabens, das Bahnfahren noch attraktiver
und aufregender zu machen -
neudeutsches Stichwort: adventure travelling.
Kommt der Zug? Wann? Wer
möchte da nicht mitraten!
Doch auch die BVG ist in letzter Zeit
wieder eifrig um unsere Unterhaltung
bemüht gewesen. Zum Beispiel indem sie
auf dem U-Bahnhof Kurfürsten dämm erst
schönen neuen, teuren Steinfußboden
verlegen ließ - und dann später mal, womöglich
irgendwann, die schmuddelige,
von Spachtelspuren übersäte Decke streichen
wird. Auch keinen geringen Schabernackfaktor
besitzt der Dauerbrenner
„Zweite Ausgänge", die am allerdringendsten
natürlich auf der unglaublich
stark frequentierten U 4 gebaut werden
müssen. Wobei dort dank des neuen
zweiten Ausgangs am Rathaus Schöneberg
ohnehin nur noch höchstens vier
Wagen lange Züge fahren können. Mehr
Fluchtwege bei verminderter Kapazität -
eine echte BVG-Idee!
Allerdings kann man diese auch der
Macht der Presse zuschreiben, welche seit
dem Brand an der Deutschen Oper unbestechlich
ihren Finger immer wieder in
diese offene Wunde legt - und glücklicherweise
nicht darüber schreibt, wie das
Problem möglicherweise verqualmter
Ausgänge sich auch auf jenen Stationen
stellt, bei denen alle Treppen in ein gemeinsames
Zwischengeschoß führen -
woraus sich die schlappe Anzahl von rund
vierzig „nachzurüstenden" Bahnhöfen
ergäbe. Glücklicherweise ruft keiner der
kritischen Journalisten mal bei der Feuerwehr
an, um sich dies bestätigen zu lassen,
sie sind schon mit den Häppchen,
welche ihnen die BVG hinwirft - pressewirksames
Buddeln am Viktoria-Luise-Platz,
ein neuer Ausgang am Innsbrucker
Platz, irgendwann kommt vielleicht auch
noch Deutsche Oper dran oder gar Jungfernheide
(was ist eigentlich mit dem untersten
Bahnsteig am Nollendorfplatz?) -
vollauf zufrieden.
Ebenso brav plapperte ja auch schon
knapp zwei Wochen nach dem genialen
Namenswechsel manch sich unabhängig
und kritisch wähnendes Blatt nur noch
vom „Hauptbahnhof". Dabei ist diese
Umbenennung des Lehrter Bahnhofs nur
der erste Schritt in einem brillanten Plan:
Erst erklären Mehdorn und Strieder eine
Station in the middle of nowhere zum
Hauptbahnhof. Dann wird Schritt für
Schritt dessen Anbindung an das Nahverkehrsnetz
auf das absolute Mindestmaß
reduziert: U 5 gestrichen, Pläne für neue
Straßenbahn-Strecken gekippt, Verbindung
mit den südlichen Vorortstrecken
der S-Bahn sowieso, und nun soll womöglich
nicht mal mehr der Nordast der
fabulösen S 21, der den direkten Weg
zum und vom Ring und den nördlichen
Vorortstrecken gebracht hätte, gebaut
werden. Doch wer glaubt, damit gäben
sich die Strategen bei der Bahn AG schon
zufrieden, kennt diese schlecht. Nun
kommt erst noch die Vollendung dieses
Streichs: Ist der „Hauptbahnhof" von Berlin
- Hauptstadt der BRD erst einmal fertig,
werden kaum mehr Fernzüge auf
dem bisherigen, sehr viel besser angebundenen
Quasi-Hauptbahnhof zumindest
der westlichen Bezirke halten - schließlich
soll der „größte Kreuzungsbahnhof Europas"
ja auch von irgend jemandem benutzt
werden. Und erst recht gilt dies für
den milliardenschweren Tunnel, von dem
manche der Meinung waren, Berlin hätte
auch ganz gut ohne ihn weiterleben können.
Also adieu Bahnhof Zoo, mit Deinem
schillernden Image, adieu Du einziger
Berliner Fernbahnhalt, der von seiner Einbindung
ins Nah Verkehrsnetz und seiner
Umgebung her die Erwartungen an einen
Hauptbahnhof erfüllt. Künftig schleppen
wir gern unsere Koffer bis zur Invalidenstraße,
um dann dort in der Ödnis nahe
dem Leichenschauhaus auf jenen einzigen,
speisewagenlosen Nichtraucherzug
zu warten, den wir mit unserer Fahrkarte
benutzen dürfen - Donnerwetter, wird es
da auf den Autobahnen von und nach
Berlin leer werden, denn welcher Kfz-Fetischist
würde bei solchen Aussichten
nicht begeistert seinen Wagen stehen lassen?
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Schöne heile Welt - jedenfalls auf der Modellbahn-Anlage. Foto: GVE-Archiv |
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Zumal ja jetzt, dank des neuen Tarifsystems,
das Bahnfahren so unglaublich
billig geworden ist, insbesondere für
Stammkunden und Vielfahrer. Weshalb
das Konzept, nach seinem überwältigenden
Erfolg bei der „großen" Bahn, auf
den Nahverkehr übertragen gehört,
schließlich hat auch die BVG auf eine
möglichst gleichmäßige Auslastung ihrer
Kapazitäten zu achten - bekanntlich stehen
am Vor- und frühen Nachmittag sowie
abends viele ihrer teuren Wagen ungenutzt
herum, derweil sich zu anderen
Zeiten die Kunden drängeln. Also: Hinfort
mit jener unzeitgemäßen Flexibilität, wo
einfach jeder fahren konnte, wann er
wollte und sich dafür auch noch kurzfristig
entscheiden durfte! Künftig sollte
auch die BVG nur noch Fahrkarten verkaufen,
die ausschließlich für bestimmte
Züge und Busse gelten.
Zumal es wie bei der DB AG nicht allzu
viel macht, wenn man nicht zur angekündigten
Abfahrtszeit zur Stelle ist - mit der
Pünktlichkeit ist es ja bei der BVG ganz
ähnlich bestellt wie bei der „großen"
Bahn. Und mancher Bus kommt, dank
des neuen, wiederum genialen Systems
des Fahrereinsatzes, gar nicht mehr. Auch
auf stark frequentierten Linien. Oder
gleich allen Linien, die über einen großen
Straßenzug verkehren. Zur Hauptverkehrszeit
am Freitagnachmittag.
Anspruch auf einen Ersatz, wenn der
Zug oder der Wagen, für den der Fahrschein
einzig und allein galt, wegen höherer
Gewalt (und es steckt immer höhere
Gewalt dahinter) ausgefallen ist, kann
aber natürlich nicht gewährt werden.
Doch sicher dürfte es sehr kulante Regelungen
geben - hätten Sie beispielsweise
Interesse an einer Unterhose?
Ein wenig Anpassungsbereitschaft werden
die Verkehrsunternehmen ja wohl
von ihren Kunden erwarten dürfte. Sie
möchten gern weiterhin kurz nach sieben
losfahren, weil Sie um acht zu arbeiten
beginnen? Jaja, aber zu diesem Zeitpunkt
wollen natürlich viele fahren. Kaufen Sie
doch einfach ein Billet für einen Zug oder
einen Bus um fünf Uhr und machen Sie
sich noch zwei gemütliche Stunden an
ihrem Arbeitsplatz, bevor der Streß losgeht.
Denn wenn Sie den Fahrkarten kauf
273 Tage im voraus tätigen, geschieden
sind, drei Kinder besitzen und im Laufe
des letzten halben Jahres keine Erkältung
hatten, nun dann könnte ihnen die BVG
einen Rabatt von bis zu 32,4 Prozent gewähren
- allerdings nur, wenn Sie bei der
Benutzung des Zuges keinen Hut tragen,
nicht mehr als eine Tasche dabei haben
und eine Körpergröße von maximal
1,80 Meter aufweisen. Und wenn Sie
dann noch mindestens drei Mitfahrer finden,
die wenigstens drei Viertel der Strecke
mit Ihnen gemeinsam zurücklegen,
vergrößert sich der Rabatt um zwei Sechstel.
Sie sehen: Auch bei der BVG wäre
das neue Preissystem ganz auf Ihre individuellen
Bedürfnisse abgestimmt und dennoch
sooo einfach zu verstehen und
nachzuvollziehen. So wird der Berliner
Nahverkehr unglaublich effizient und vor
allem kundenfreundlich und preiswert
werden. Und sollten irgendwelche unverbesserlichen
Miesmacher nicht dieser
Meinung sein, dann gibt es ja immer
noch die Anwälte von Hartmut Mehdorn.
Jan Gympel
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