Verkehrsrecht & Tarife

Urteil des Europäischen Gerichtshofs zum ÖPNV-Wettbewerb

Der Europäische Gerichtshof hat am 24. Juli 2003 ein Urteil gefällt, in dem es um die Zulässigkeit von Zuschüssen des Staates für den Betrieb von Liniendiensten im Stadt-, Vorort- und Regionalverkehr geht.

Anlass dafür war ein Streit von zwei Kraftverkehrsunternehmen um die Erteilung von Liniengenehmigungen im Landkreis Stendal. Im Vorfeld dieses Urteils gab es in der Fachpresse umfangreiche Beiträge mit Überlegungen von Experten über mögliche Konsequenzen für die künftige Gestaltung des ÖPNV. Es lagen bereits Einladungen für mehrere Veranstaltungen zur Auswertung des zu erwartenden Urteils vor. Eine Fachtagung der VDV-Akademie findet am 20./21. August 2003 in Berlin statt (Kosten: 694 €).

Nach Auffassung des DBV-Vorstandes hat das Urteil die Erwartungen vieler Interessenten enttäuscht. Eine präzise Klarstellung zur Anwendung von europäischem oder deutschem Recht im ÖPNV-Wettbewerb blieb aus. Insbesondere wurde die Frage nicht eindeutig beantwortet, ob künftig alle Verkehre, für die es staatliche Zuschüsse (Bestellungen) gibt, öffentlich ausgeschrieben werden müssen. Das Urteil enthält allerdings Forderungen nach mehr Transparenz und einheitlichen Vergabekriterien.

Der DBV wird sich weiterhin für mehr Wettbewerb im ÖPNV einsetzen und hofft auf eine dementsprechende Novellierung des EURechts auf diesem Gebiet.

„Europäischer Gerichtshof in Luxemburg Abteilung Presse und Information

Das Urteil vom 24. Juli 2003

Der Gerichtshof entscheidet, dass ein finanzieller Ausgleich, der nur die Gegenleistungen für von den Mitgliedsstaaten auferlegte gemeinwirtschaftliche Pflichten bildet, nicht die Merkmale einer staatlichen Beihilfe aufweist. Ein solcher Ausgleich ist im konkreten Fall jedoch nur dann nicht als staatliche Beihilfe zu qualifizieren, wenn vier Voraussetzungen erfüllt sind.

Eine Gemeinschaftsverordnung über die Verpflichtungen des öffentlichen Dienstes (Verordnung (EWG) Nr. 1191/69 des Rates vom 26. Juni 1969 über das Vorgehen der Mitgliedstaaten bei mit dem Begriff des öffentlichen Dienstes verbundenen Verpflichtungen auf dem Gebiet des Eisenbahn-, Straßen- und Binnenschiffsverkehrs in der Fassung der Verordnung (EWG) Nr. 1893/91 des Rates vom 20. Juni 1991) soll die Unterschiede beseitigen, die sich aus mit dem Begriff des öffentlichen Dienstes verbundenen Verpflichtungen, die den Verkehrsunternehmen von den Mitgliedstaaten auferlegt werden, ergeben und zu einer erheblichen Verfälschung der Wettbewerbsbedingungen führen. Daraus folgt, dass es notwendig ist, die Verpflichtungen des öffentlichen Dienstes aufzuheben, obgleich sie jedoch in gewissen Fällen aufrechterhalten werden müssen, um eine ausreichende Verkehrsbedienung zu gewährleisten.

Der deutsche Gesetzgeber hatte zunächst von der in der Gemeinschaftsverordnung eröffneten Möglichkeit, Stadt-, Vorort- und Regionalverkehrsdienste von der Anwendung dieser Verordnung auszunehmen, ausdrücklich Gebrauch gemacht. Seit 1996 sieht das deutsche Recht ausdrücklich vor, dass örtliche und regionale Verkehrsdienste in bestimmten Fällen der Verordnung unterliegen.

Das Unternehmen Altmark Trans erhielt 1990 Genehmigungen und Zuschüsse für den Linienverkehr mit Omnibussen im Landkreis Stendal. 1994 erteilten die deutschen Behörden Altmark Trans neue Genehmigungen und lehnten den Antrag der Nahverkehrsgesellschaft Altmark auf Erteilung von Genehmigungen ab. Die Nahverkehrsgesellschaft Altmark erhob Klage bei den deutschen Gerichten mit der Begründung, Altmark Trans sei nicht leistungsfähig, da sie ohne öffentliche Zuschüsse nicht hätte überleben können; die Genehmigungen seien deshalb rechtswidrig.

Das letztinstanzlich angerufene Bundesverwaltungsgericht hat den Gerichtshof dazu befragt,

  • ob die Zuschüsse des Landkreises Stendal an Altmark Trans nach dem EG-Vertrag verbotene staatliche Beihilfen darstellen und
  • ob die deutschen Behörden anordnen können, dass eigenwirtschaftlich erbrachte Regionalverkehrsdienste nicht unter die Verordnung von 1969 über "die Verpflichtungen des öffentlichen Dienstes" fallen.

Zur ersten Frage

Der Gerichtshof weist darauf hin, dass nach ständiger Rechtsprechung eine staatliche Maßnahme nur dann eine staatliche Beihilfe im Sinne des EG-Vertrags sein könne, wenn sie als "Vorteil" für das begünstige Unternehmen angesehen werden könne, den dieses unter normalen Marktbedingungen nicht erhalten hätte. Ein solcher "Vorteil" liege aber nicht vor, wenn eine staatliche finanzielle Maßnahme als Ausgleich anzusehen sei, der die Gegenleistung für Leistungen bilde, die von den Unternehmen, denen die Maßnahme zugute komme, zur Erfüllung gemeinwirtschaftlicher Verpflichtungen erbracht würden.

Ein derartiger Ausgleich sei im konkreten Fall allerdings nur dann keine staatliche Beihilfe, wenn vier Voraussetzungen erfüllt seien.

  • Erstens müsse das begünstigte Unternehmen tatsächlich mit der Erfüllung gemeinwirtschaftlicher Verpflichtungen betraut sein, und diese Verpflichtungen müssten klar definiert sein.
  • Zweitens seien die Parameter, anhand deren der Ausgleich berechnet werde, zuvor objektiv und transparent aufzustellen.
  • Drittens dürfe der Ausgleich nicht über das hinausgehen, was erforderlich sei, um die Kosten der Erfüllung der gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen unter Berücksichtigung der dabei erzielten Einnahmen und eines angemessenen Gewinns ganz oder teilweise zu decken.
  • Viertens sei die Höhe des Ausgleichs, wenn die Auswahl nicht im Rahmen eines Verfahrens zur Vergabe öffentlicher Aufträge erfolge, im Vergleich mit den Kosten zu bestimmen, die ein durchschnittliches Verkehrsunternehmen zu tragen hätte (unter Berücksichtigung der Einnahmen und des angemessenen Gewinns aus der Erfüllung seiner Verpflichtungen).

Nur wenn diese vier Voraussetzungen erfüllt seien, könne davon ausgegangen werden, dass ein Unternehmen in Wirklichkeit keinen finanziellen "Vorteil" erhalten habe, der bewirken würde, dass es gegenüber den mit ihm im Wettbewerb stehenden Unternehmen in eine günstigere Wettbewerbsstellung gelangen würde, und der Ausgleich daher nicht den Charakter einer staatlichen Beihilfe im Sinne des EG-Vertrags habe.

Zur zweiten Frage

Das vorlegende Gericht habe in dem bei ihm anhängigen Fall allerdings nur dann zu prüfen, ob die in Rede stehenden Zuschüsse im Einklang mit den Bestimmungen des EG-Vertrags überstaatliche Beihilfen gewährt worden seien, wenn es zu dem Ergebnis gelange, dass die fragliche Gemeinschaftsverordnung in Deutschland nicht anwendbar sei. Mit anderen Worten, wenn die Gemeinschaftsverordnung hier anwendbar sei, brauche nicht auf die allgemeinen Bestimmungen des EG-Vertrags zurückgegriffen werden.

Der deutsche Gesetzgeber könne von der in der Gemeinschaftsverordnung vorgesehenen Ausnahme für den Stadt-, Vorort- und Regionalverkehr grundsätzlich auch teilweise Gebrauch machen, da er sich dadurch den Zielen der Verordnung annähere. Ein Mitgliedstaat könne dies aber nur dann, wenn der Grundsatz der Rechtssicherheit gewahrt sei, was voraussetze, dass im deutschen Recht klar festgelegt sei, in welchem Umfang von dieser Ausnahme Gebrauch gemacht werde, damit festgestellt werden könne, in welchem Fall diese Ausnahme gelte und in welchem Fall die Gemeinschaftsverordnung anwendbar sei."

[IGEB] Zugegeben, selbst das für die Medien, also für die breite Öffentlichkeit bestimmte nichtamtliche Dokument ist schwer zu verstehen. Das liegt natürlich vor allem an dem komplizierten Thema. Wie kompliziert das Thema ist, zeigt sich allein daran, dass die Bewertung des Gerichtsurteils durch Politiker, Verkehrsbetriebe und Juristen sehr unterschiedlich ausfiel. Positiv festzuhalten ist, dass die öffentlichen Zuschüsse für so genannte gemeinwirtschaftliche Verkehre keine genehmigungspflichtigen Beihilfen sind. Aber die Einschätzung, dass damit der Ausschreibung von Verkehrsleistungen eine Absage erteilt wurde, wäre voreilig. Ein Teil der Fachleute sieht in den genannten vier Anforderungen eine so hohe Hürde, dass die Ausschreibungen künftig praktisch unvermeidbar seien. Genauer werden wir das (hoffentlich) wissen, wenn die entsprechenden Richtlinien der EG vorliegen. Bis dahin sollten sich alle Akteure gedulden. Vor diesem Hintergrund fordert der Berliner Fahrgastverband IGEB Berlins Verkehrssenator Peter Strieder auf, nicht schon jetzt viel Geld für eine Gesellschaft für die Wahrnehmung der Aufgaben des Bestellers (Land Berlin) auszugeben, sondern erst einmal das Urteil des Bundesverfassungsgerichts und vor allem die EG-Richtlinien abzuwarten.

DBV

aus SIGNAL 4/2003 (August/September 2003), Seite 46-47

 

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