Berlin

Notbehelf mit Glubschaugen

Ein Nachruf auf die Baureihe 477, die letzten Oldtimer der Berliner S-Bahn

„Sie sehen aus dem S-Bahn-Fenster mitten in all das Grün..." - Wenn Manfred Krug in einem seiner schönsten Lieder eine weinende Dame ansingt, dann sitzt diese vor meinem geistigen Auge stets in einem Wagen der Baureihe 477 - also zwischen weiß/hellgrauem Sprelacart auf blauen Polstern. Zwar verkehrten 1975, als dieses Stück veröffentlicht wurde, in Berlin auch noch Züge vieler anderer Baureihen. Doch die 477er waren die „Ostwagen". So haben wir im Westen sie zwar nicht genannt. Aber so hat man sie empfunden, bei den Besuchen im anderen Teil der Stadt. In West-Berlin fuhr man ja bekanntlich bis in die achtziger Jahre hinein nicht mit der S-Bahn. Egal, ob CDU-, FDP- oder SPD-Familie - in der Ablehnung der DDR war man sich weitgehend einig. Und dazu gehörte der S-Bahn-Boykott, der in den siebziger Jahren in Fleisch und Blut übergegangen war und dementsprechend nicht mal mehr hinterfragt wurde: S-Bahn-Fahren, das tat man einfach nicht. War man „drüben", blieb einem freilich oft gar nichts anderes übrig, als es zu tun. Schließlich hatte die S-Bahn dort ihre wichtige Position im ÖPNV behalten. Doch von jenem Dornröschenschlaf, in welchen das einstmals so moderne Verkehrssystem in den Westsektoren gefallen war, unterschied es sich im Osten nicht nur durch belebte Bahnsteige, kurze Taktzeiten in der Innenstadt und volle Züge. Sondern diese Züge sahen eben oft auch deutlich anders aus als das, was im Westen vor allem an Unter- oder Überführungen gelegentlich kurz gespensterhaft zum Vorschein kam.

Alte S-Bahn
Einfahrt Bahnhof Treptower Park. Foto: Frank Lammers

Ich weiß nicht, ob vor dem Sommer 1990, als der durchgehende Ost-West-Verkehr wiederaufgenommen wurde, jemals ein modernisierter Zug in den ummauerten Teil der Stadt gelangt ist; vermutlich hütete die Reichsbahn ihre - relativ - neuesten Fahrzeuge fast so ängstlich wie die BVG es lange Zeit bei der U-Bahn getan hatte. Zwar war im Falle der S-Bahn nicht unbedingt eine „Entführung" durch die andere Seite zu befürchten, dafür aber das Vandalismusrisiko ziemlich groß - aus politischen Gründen, wegen einer gewissen allgemeinen Verwahrlosung des öffentlichen Raums (nicht umsonst wurden nach der Übernahme der West-Berliner S-Bahn in BVG-Regie schnell Tischchen, Mülleimer und Armlehnen abgebaut) und natürlich wegen der wenigen Fahrgäste auf den allermeisten Strecken.

Jedenfalls prägte das, was am Ende als Baureihe 477 firmierte, ganz wesentlich das Gesicht der Ost-Berliner S-Bahn. Und es war, zumindest für Westler, ein etwas fremdes Gesicht. Schließlich haben bzw. hatten Berliner

Schnellbahnfahrzeuge traditionell dreigeteilte Stirnseiten. Dies verlieh ihnen etwas Menschliches, weil das mittlere Fenster eher wie eine Nase anmutete als wie ein drittes Auge. Weshalb wiederum die nur zwei „Augen" der BR 477—Stirnseiten fast bedrohlich wirken. Ein Effekt, der noch verstärkt wird durch die verhältnismäßig große Aussparung in der Frontverkleidung hinter der Kupplung, die an ein Maul mit nach unten gezogenen Mundwinkeln erinnert. (Bei der Baureihe 476, den später in ganz ähnlicher Weise modernisierten „Stadtbahnwagen", fiel die Öffnung noch größer aus.) Um Assoziationen an ein menschliches Gesicht hervorzurufen, stehen die beiden Fenster zu eng beieinander. Und sie sind viel zu groß. Die dreigeteilten Stirnfronten gucken - fröhlich, melancholisch oder auch sachlich. Die zweigeteilten Stirnfronten der Baureihe 477 scheinen dagegen zu glotzen und wecken bestenfalls Erinnerungen an all diese unsäglichen japanischen Zeichentrickfiguren, deren Gesichter, dank eines bis ins Groteske übersteigerten Kindchenschemas, auch zum Großteil aus riesigen Glubschaugen bestehen. Mittlerweile freilich erscheint das Glotzen der 477er als Zwischenstufe zur neuesten Mode im Bahnwagendesign: Man betrachte die „Taucherbrille" der jüngsten Berliner S-Bahn-Baureihe 481 oder die ungegliedert wirkende Stirnseite der „H"-Züge bei der U-Bahn. An Augen oder Gesichter kann man bei ihnen nicht mehr denken. Eher scheint ihre Formgebung inspiriert von der einstmals als „Kommißbrote" verspotteten Baureihe 472 der Hamburger S-Bahn, welche sich inzwischen als wegweisend entpuppt - schließlich findet man derlei einfach abgeschnitten wirkende, indifferent gestaltete Stirnseiten heute bei den Fahrzeugen vieler Verkehrsunternehmen.

Alte und neuere S-Bahn nebeneinander
Foto: IGEB
S-Bahn am Bahnsteig
Foto: IGEB

Für den Westler neu und ungewohnt waren darüber hinaus die schrillen Klingeln und die roten Lampen, welche das Schließen (genauer: Zuknallen) der Türen ankündigten - auf der anderen Seite der Mauer kamen derlei „akustisch-optische Warnanlagen" erst (und zwar sehr langsam) im Laufe der achtziger Jahre auf. Einen Vorgeschmack auf die Schnellbahnfahrzeuge der Zukunft gab die Baureihe 477 schließlich auch im Inneren - oder vielmehr gaben es jene Wagen, die später unter dieser Bezeichnung subsummiert wurden, denn die Modernisierung des Interieurs startete schon Mitte der sechziger Jahre. Womit man ästhetisch der im Westen verhätschelten U-Bahn übrigens um Jahre voraus war: Dort begann der Abschied vom alten Leitbild der Innenraumgestaltung bei öffentlichen Verkehrsmitteln - jenem der „Wohnlichkeit" - erst mit den ab 1973 in Dienst gestellten Zügen der Bauart „F". Um den seither meist favorisierten Eindruck von Kühle und Sauberkeit zu erzeugen, besaßen sie hellgraue Wandverkleidungen und mittelblaue Sitze. Ganz ähnlich sahen die modernisierten S-Bahn-Züge aus, bei denen das feine hellgraue Muster auf dem weißen, blanken Sprelacart freilich sofort an Muttis schicke neue Einbauküche denken ließ.

Allerdings hatte das „zeitgemäße" Innere mindestens einen kleinen Schönheitsfehler: Auch bei den in den Sixties modernsten U-Bahn-Wagen - dem Typ „D" bzw. „DL", dessen letzte Vertreter jetzt praktisch zeitgleich mit der Baureihe 477 ausrangiert werden - war ausgiebig mit Abdeckleisten gearbeitet worden; aber diese waren wenigstens alle aus eloxiertem Aluminium, das seinerzeit schwer in Mode war. Bei der S-Bahn hingegen sah man viele Holzleisten. Auch sonst wirkte weiterhin vieles eckig und kantig, allem voran die Fenster. Unübersehbar handelte es sich eben nicht nur bei der als „Nieten-Reko" gehänselten Baureihe 476 um einen Mix aus alt und neu, und nur sehr wenig war da zu verspüren von jener schnittigen Eleganz, die gerade in den Nachkriegsjahrzehnten Fahrzeuge - ob nun Busse, Bahnen oder Autos - prägte. Zudem klangen auch die modernisierten Züge für den Nicht-Fachmann noch immer weitgehend wie die alten. Und auch bei ihnen ging gerne mal das Licht aus, wobei die schönen neuen Leuchtstoffröhren natürlich sogar noch einen Moment länger brauchten als simple Glühbirnen, um wieder zu strahlen.

So wirkten die erneuerten S-Bahn-Züge auf den West-Berliner einerseits zwar ungewohnt modern, anderseits aber auch mit dem Makel des Notbehelfs behaftet: Richtig neue Wagen konnte man sich „drüben" offenkundig nicht leisten. Und dies, obwohl die S-Bahn doch im Osten ein so wichtiges Verkehrsmittel war. Wie anders schaute da doch „unsere" U-Bahn aus! Deren Netz im übrigen unermüdlich erweitert wurde. Derweil man es im Osten gerade mal auf eine mickrige Station gebracht hatte. Und dafür auch noch vier Jahre benötigt. Und noch immer die Uraltfahrzeuge herumfuhren. Oder umgebaute S-Bahnen. Und dann diese Reko-Straßenbahnen, die nur etwas für Hardcore-Fans waren. Und diese Autos. Und und und.

S-Bahn am Bahnsteig
Zug der Linie S3 bei der Ausfahrt aus dem Bahnhof Kaulsdorf. Foto: Frank Lammers

Ja, auch beim Anblick der Baureihe 477 konnte sich der West-Berliner mal wieder so richtig schön überlegen fühlen. Dabei hatte er diese Wagen eigentlich erst möglich gemacht und dem Osten ganz ungewollt geholfen: Bekanntlich standen durch den Boykott im Westen plötzlich viel mehr Züge zur Verfügung, als benötigt wurden - statt sich mit Neubauten abzumühen (deren Prototypen sich im übrigen bei der S- wie bei der U-Bahn als unzulänglich erwiesen hatten), konnte man die alten Gefährte nach und nach umbauen. Und den Neubau auf jene besseren Zeiten verschieben, welche der Planwirtschaft nach der marxistischen Glaubenslehre ja immer kurz bevor standen. Dieser Logik folgend begann die großangelegte Modernisierung Mitte der siebziger Jahre, welche neben anderem die neuen, zweifenstrigen Stirnwände brachte, ausgerechnet bei den jüngsten Fahrzeugen man glaubte offenkundig, dank Neulieferungen bald auf die ältesten Wagen verzichten zu können. So gingen denn in der Baureihe 477 die in den Dreißigern und frühen Vierzigern entstandenen S-Bahnen wie die „Bankier-" und die „Olympiazüge" fast vollständig auf. Die letzten paar nicht umgebauten Viertelzüge wurden 1991 ausrangiert, bezeichnenderweise so gut wie unbemerkt. Denn dies ist vielleicht der ärgerlichste Aspekt an der Baureihe 477: Ihretwegen sind die eleganteren, vom damals hochmodischen Stromliniendesign angehauchten Wagen schon relativ früh von den Schienen und damit offenkundig auch aus dem Bewußtsein verschwunden. Demgegenüber konnten von den älteren, bulligeren „Stadtbahnern" erheblich mehr Exemplare bis zur Ausmusterung in erkennbarer Form überdauern. Nicht zuletzt bestritten sie ja einen großteil des von der Reichsbahn zunehmend widerwillig aufrechterhaltenen Verkehrs in West-Berlin. Und bestimmten dort dann noch jahrelang das Bild der S-Bahn, da die BVG zur Betriebsübernahme 1984 praktisch nur solche Uraltfahrzeuge erhalten hatte.

Ihre kontinuierliche Präsenz ist vermutlich der Grund, weshalb vor sieben Jahren die Ausmusterung der „Stadtbahner" mit viel Rummel und noch größeren Gefühlen begangen wurde - derweil das Lebewohl für die Baureihe 477 viel gedämpfter auszufallen scheint. Dabei bedeutet es den endgültigen Abschied von der „alten" Berliner S-Bahn, jenem Nahverkehrsmittel, das wie kein anderes von der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts geprägt wurde, unter ihr litt und dies an vielen Stellen unmittelbar erfahrbar machte. Noch einmal könnte man auch darüber nachdenken, was sich daraus hätte machen lassen - wenn man die Stationen behutsamer renoviert und wenigstens einen Teil der legendären alten Fahrzeuge für einen Museumsbetrieb behalten hätte, statt sie schnöde zu verschrotten. Von nun an bleiben uns nur noch in unterschiedlichen Tönen brummende und summende Motoren, Mikrochipgefiepse, oft schmuddelige Plastikverkleidungen und (bei den nun den Wagenpark dominierenden Zügen der Baureihe 481) insbesondere im Sommer der Geruch nach vollen Windeln.

Jan Gympel

aus SIGNAL 5/2003 (November/Dezember 2003), Seite 19-21

 

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