Ihr Schreiben mit dem oben genannten
Bezug vom 8. November 2004
[2.12.2004] Sehr geehrter Herr Steger,
Frau Senatorin Dr. Knake-Wemer hat den
von Ihnen unterschriebenen Brief des „Berliner
Arbeitskreis Sozialticket" (nachzulesen in
SIGNAL 6/2004 ) gelesen und mich gebeten,
Ihnen zu antworten.
Zum kommenden Jahr werden die Verkehrsbetriebe
ein neues Tarifangebot für Bezieher
und Bezieherinnen von Arbeitslosengeld II,
Sozialhilfe, Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz
und Grundsicherung im
Alter einführen - die Monatskarte für 32 Euro.
Der Preis liegt bei rund der Hälfte das Preises
der normalen Umweltkarte und niedriger als
das frühere Tarifangebot der Verkehrsbetriebe
für Seniorinnen und Senioren.
Der Preis des neuen Sozialtickets beruht auf
der begründeten Prognose, daß dieses Tarifangebot
sich selbst tragen kann und ohne zusätzliche
Zahlungen aus dem Landeshaushalt
möglich sein wird. Im Laufe das Jahres 2005
wird eine begleitende Marktforschung ermitteln,
wie sich das Nutzer- und Kundenverhalten
mit dem Sozialticket entwickelt. Es wird
sich zeigen, ob die Annahme eintrifft, daß der
halbierte Preis zu einer vermehrten Nachfrage
und somit Kostendeckung führt.
Das neue Sozialticket ist im Übrigen nicht
vergleichbar mit dem früheren Tarifangebot
für sozialhilfeberechtigte Berliner und Berlinerinnen.
Nach dem Bundessozialhilfegesetz
besteht derzeit ein Rechtsanspruch auf die
notwendigen Kosten der Mobilität. Eine Zeit
lang wurde dieser Rechtsanspruch durch einen
pauschalen Landeszuschuß befriedigt: Bei
einem Eigenanteil von 20,40 Euro (Mobilitätsanteil
im Regelsatz) wurde bei einem Kauf des
Tickets die Differenz bis zur Kostendeckung
durch einen Zuschuß des Landes an die BVG
gedeckt. Nach der Abschaffung dieses Landeszuschusses
werden derzeit die notwendigen
Mobilitätskosten nach dem Bundessozialhilfegesetz
bei individuellem Nachweis erstattet.
Auf jeden Fall erfüllte das Land hier eine bundesgesetzliche
Vorschrift und vermied durch
die Umstellung den verfassungsrechtlich und
verfassungsgerichtlich relevanten Vorwurf,
als Haushaltsnotlage-Land mehr zu zahlen als
gesetzlich erwartet wird.
Im Gegensatz zum Bundessozialhilfegesetz
hat dar Bundesgesetzgeber für das ALG II
keinen vergleichbaren Rechtsanspruch auf
Mobilität vorgesehen. Damit wird die Rechtsgrundlage
für die bisherige Kostenübernahme
für erwerbsfähige Soziahilfeberechtigte durch
das Land Berlin entfallen. Ein solcher Rechtsanspruch
war von der rotgrünen Bundesregierung
bereits im Entwurf des Gesetzes nicht gewollt
und wurde auch nachträglich nicht von
der Bundesrats-Mehrheit hineinverhandelt.
Frau Dr. Knake-Wemer hat sich mehrfach für
eine bundesgesetzliche Regelung des Mobilitätsanspruches
ausgesprochen.
Das Land Berlin ist, nicht zuletzt angesichts
der Haushaltsnotlage, nicht in der Lage, einen
vollständigen und „freiwilligen" Ausgleich
für die bundesgesetzliche Abschaffung des
Mobilitätsanspruches im BSHG zu leisten und
so als einziges Bundesland die Absichten von
SPD und BÜNDNIS 90/GRÜNEN vollständig zu
konterkarieren. Das wäre angesichts der Klage
in Karlsruhe auch politisch verantwortungslos.
Mit dem in den Verhandlungen mit der BVG
erreichten Sozialticket beschreitet Berlin einen
Weg, der gleichwohl die Gewähr bietet, die
Mobilitätsmöglichkeiten von ALG II- und anderen
Sozialleistungsbezieherlnnen deutlich
zu erhöhen.
Mit dem Tarifangebot der BVG steht Berlin
auch im Vergleich mit anderen Städten nicht
schlecht da. München bezuschußt monatlich
zehn Tageskarten für Sozialhilfeberechtigte
und Einkommensschwache mit 50 Prozent;
in Leipzig können Rentnerinnen, Sozialhilfeberechtigte
und Asylbewerberinnen ein 10-Uhr-Ticket erwerben.
In Stuttgart kostet ein
Sozialticket derzeit 33,50 Euro und wird mit
15,50 Euro von der Stadt bezuschußt. In Hamburg
und Bremen gibt es keine Zuschüsse von
Stadt oder Land.
Ihrer Behauptung, eine Sozialkarte für
32 Euro sei kein Ticket, welches den Betroffenen
helfe, sich zu bewerben, ihre Kinder
in die Kitas zu bringen und sich aktiv am sozialen,
kulturellen und politischen Leben zu
beteiligen, kann nur entschieden widersprochen
werden. Eine Monatskarte zum halben
Preis stellt eine deutliche Mobilitätshilfe dar.
Für den Preis von 16 Einzelfahrscheinen ist
für einen ganzen Monat nahezu unbegrenzte
Mobilität mit öffentlichen Verkehrsbetrieben
in der Stadt möglich.
Es ist richtig, daß 32 Euro gut zehn Euro
mehr sind als in dem bis Jahresende geltenden
Regelsatz an Mobilitätskosten enthalten
sind. Andererseits machen 32 Euro etwa fünf
Prozent des Einkommens aus, welches ein
statistisch durchschnittlicher alleinstehender
ALG Il-Bezieher ab Januar voraussichtlich erhalten
wird (Regelsatz plus Wohnkosten, hier
mit 650 Euro angenommen). Ein alleinstehender
Geringverdiener mit einem Monatseinkommen
von rund 900 Euro wendet etwa acht
Prozent seines Einkommens laut Einkommensund
Verbrauchstichprobe für Mobilität auf,
bzw. würde in Berlin für gleiche Mobilitätsmöglichkeiten
über ein Jobticket 5,2 Prozent
seines Einkommens aufbringen müssen, für
eine Umweltkarte 7,1 Prozent. Das Sozialtikket
führt damit, und mehr sollen diese Zahlen
nicht belegen, zu keiner übermäßigen Belastung
ausgerechnet von Arbeitslosen.
Sowohl hinsichtlich der politischen Verantwortung
für die Abschaffung des Mobilitätsanspruches
aus dem BSHG im neuen ALG II als
auch hinsichtlich der tatsächlichen relativen
Belastung kann ich weder Ihrer Argumentation
noch Ihrem Urteil, es handele sich bei dem
Sozialticket für 32 Euro um den „Bankrott einer
Sozialpolitik", folgen.
Ob das neue Sozialticket der Anfang einer
neuen Tarifpolitik der Verkehrsbetriebe ist,
werden die Erfahrungen des kommenden
Jahres zeigen. Auf jeden Fall ist das Sozialtikket
eine sozial und politisch verantwortliche
Reaktion des rot-roten Senats auf die rot-grüne
Umgestaltung und oft auch Kürzung der
Einkommen von Langzeitarbeitslosen.
Mit freundlichen Grüßen
Dipl.-Soz. Wiss. Matthias W. Birkwald
Persönlicher Referent der Senatorin
[IGEB] Es ist das gute Recht des SPD/PDS-Senats,
auf die äußeren Zwänge durch bundesgesetzliche
Regelungen und auf schlechtere
Bedingungen für Fahrgäste in anderen Städten
hinzuweisen und in diesem Zusammenhang
das in Berlin Erreichte als Erfolg darzustellen.
Mehr konnte die Sozialsenatorin unter
diesen Umständen derzeit vielleicht wirklich
nicht herausholen.
Eine Schieflage bekommt das Schreiben
allerdings bei der Wertung der Belastbarkeit
der Betroffenen. Wenn hier mit Prozenten
gearbeitet wird, ist das unseriös und unsensibel.
Wenn ein 1300 Euro (netto) verdienender
Arbeitnehmer 5 Prozent seines Einkommens
für die 64 Euro teure Monatskarte ausgibt,
schränkt ihn das viel weniger ein, als wenn
ein ALG Il-Bezieher 32 Euro monatlich zahlen
muß. Deshalb wäre es glaubwürdiger gewesen
zu sagen, wir wissen, daß 32 Euro zu viel
sind, konnten aber nicht mehr erreichen.
Zusätzlich verliert die Senatssozialverwaltung
an Glaubwürdigkeit, seitdem bekannt
ist, daß der Preis von 32 Euro bereits zum
1. August 2005 als Folge der allgemeinen
VBB-Tariferhöhung auf 33,50 Euro monatlich
angehoben wird. Das ist eine Folge der starren
Koppelung „Normaltarif" mal 0,5 ist „ Sozialtarif"
Daß es eine solche starre Koppelung
gibt, wird weder in dem oben abgedruckten
Schreiben gesagt noch war es zum Beispiel
den Abgeordneten der SPD/PDS-Koalition
bekannt.
Senatsverwaltung für Gesundheit, Soziales und Verbraucherschutz
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