International

Wende in den europäischen Verkehrsinfarkt

1,5 Millionen zusätzliche Lkw werden im Jahr 2020 auf Europas Straßen unterwegs sein. Dennoch verabschiedet sich die EU-Kommission in der Zwischenbilanz zum Weißbuch Verkehr von ihrem Ziel, mehr Verkehr auf die Schiene zu bringen.

Gäbe es einen Preis für umweltfreundliche Rhetorik, Europas Verkehrskommissar Jacques Barrot könnte sich gute Chancen auf einen ersten Platz ausrechnen. Denn an schönen Worten von Nachhaltigkeit, Umweltqualität und Umweltverträglichkeit ließ er es nicht mangeln in seiner im Juni vorgelegten Zwischenbilanz zum „Weißbuch Verkehr" - dem Strategiepapier der Europäischen Kommission für eine Verkehrspolitik bis 2010. Vor mehr als fünf Jahren hatte sich die EU-Kommission darin für eine Wende ausgesprochen, die einerseits Verkehr durch eine Entkoppelung von Wirtschafts- und Verkehrswachstum vermeiden und andererseits insbesondere den Güterfernverkehr von der Straße auf die Schiene verlagern sollte. Europa, so die Kommission im Jahr 2001, drohe ohne diese Maßnahmen der Dauerstau - mit verheerenden Folgen für Menschen und Umwelt.

Bei Jacques Barrot scheint von dem ambitionierten Ziel lediglich die grüne Wortfassade übrig geblieben zu sein. Denn in seinem Papier zielt er auf ein verkehrspolitisches laisser faire: Alles darf so bleiben wie es ist - nur bitte etwas umweltfreundlicher. Die Hoffnung auf den „grünen Lkw" und das „klimafreundliche Flugzeug" soll dabei die dringend notwendige Verkehrsverlagerung, den sogenannten modalshift, ersetzen. Statt auf umweltfreundlichere Verkehrsträger zu setzen, will sich die Kommission künftig auf Effizienzsteigerungen bei allen Verkehrsmitteln konzentrieren. Bei der Straßen-Lobby dürften die Sekt-Korken geknallt haben.

Angesichts der Prognosen, die die Kommission in ihrer Zwischenbilanz selbst aufstellt, erscheint dieser Kurswechsel wie eine bewusste Wende in den Verkehrsinfarkt. So rechnet die Brüsseler Behörde damit, dass der Güterverkehr auf der Straße zwischen 2000 und 2020 voraussichtlich um 55 Prozent anwachsen und damit 1,5 Millionen zusätzliche Lkw auf Europas Straßen schwemmen wird. Während der Güter-Anteil der Straße weiter steigt, wird die Bahn verlieren: von derzeit elf Prozent am Güterverkehrsaufkommen auf voraussichtlich acht Prozent in 15 Jahren. Doch statt rechzeitig gegenzusteuern, will Barrot den Negativtrend offenbar noch beschleunigen, indem er sich vom Vorrang für die Schiene verabschiedet.

Die bisherigen Maßnahmen hätten nicht den gewünschten Effekt pro Bahn gehabt, so die durchaus richtige Analyse der Kommission. Aber daraus die Schlussfolgerung zu ziehen, das Ziel der Verkehrsverlagerung einfach aufzugeben, ist ein schwerer Irrtum. Barrot sollte besser feststellen, warum das Ziel bisher nicht erreicht wurde. Dann würde er bemerken, dass Europas Bahnen nach wie vor einem unfairen Wettbewerb mit der Straße ausgesetzt sind. Während zum Beispiel alle Züge für jeden zurückgelegten Kilometer Trassenpreise zahlen müssen, gilt die Maut für Lkw nur ab einer bestimmten Größe und auf bestimmten Strecken. Das Phänomen des Mautausweichverkehrs auf Parallelstrecken zu Autobahnen spricht hier Bände.

Barrot hat eine neue Chance, seine grüne Rhetorik in Taten umzusetzen, wenn er 2008 Vorschläge zur Internalisierung externer Kosten im Verkehr vorlegen muss. Die Straßenmautzahlungen, die bisher weniger als die Hälfte der Kosten für die Allgemeinheit abdecken, müssen dann endlich auf ein realistisches Niveau gehoben werden. In der Schweiz hat sich gezeigt, dass so der modal shift zur Bahn zu schaffen ist.

Michael Cramer, MdEP
Verkehrspolitischer Sprecher der Fraktion Grüne/EFA im Europäischen Parlament

aus SIGNAL 5/2006 (Oktober/November 2006), Seite 27

 

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