Reise & Bericht

Die Schmalspurbahn nach Jindrichuv Hradec

Im tschechischen Kursbuch 2002/2003 gibt es noch zwei Schmalspurbahnen.

Eine von ihnen ist die hier beschriebene Strecke. Jindrichuv Hradec ist eine historische Stadt in Südböhmen, bekannt durch ihr weiträumiges Rennaisanceschloß und ihre malerische Lage in einer für Touristen attraktiven Landschaft mit Wäldern, Bergen und Teichen. Hier ist der Sitz des umfangreichen tschechischen Schmalspurbahnsystems, das seit seiner Entstehung nahezu unverändert geblieben ist. Die Stadt ist die Mitte dieses Systems, von dem eine Strecke nach Süden, die andere nach Norden führt. Die ältere Südstrecke, die über 33 Kilometer nach Nova Bystrice an der österreichischen Grenze führt, wurde am 1. November 1897 eröffnet. Neun Jahre später, am 24.12.1906 wurde die 46 km lange Nordstrecke nach Obratan eröffnet. Beide Strecken haben eine Spurweite von 760 mm, was damals die normale österreichische Schmalspur war.

Der Schmalspurbahnhof in Jindrichuv Hradec (im folgenden „JH" genannt) liegt neben dem CD-Bahnhof an der eletrifizierten Hauptbahn Veseli nad Luznici - Jihlava. Von hier führen beide Schmalspurstrecken gemeinsam in einem Dreischienengleis auf dem Gleis der Hauptbahn in Richtung Osten. Etwa zwei Kilomter stadtauswärts zweigen die beiden Strecken ab.

An der Strecke nach Nova Bystrice befinden sich zwei Kreuzungsbahnhöfe, zwei Ladestellen sowie drei weitere Haltepunkte. An der Strecke nach Obratan gibt es sechs Kreuzungsbahnhöfe, zwei Stationen mit Ladestellen sowie weitere acht Haltepunkte. Es wird ohne Signale und Bahnhofspersonal nach vereinfachtem Nebenbahnbetrieb gefahren; das Kreuzen der Züge und die Weichenstellung erfolgen durch die Zugführer. Lediglich in JH werden die Aus- und Einfahrten auf die Hauptstrecke vom Fahrdienstleiter in JH durch Lichtsignale geregelt.

Der Lokschuppen und der Sitz des Zugleiters befinden sich in JH, ein weiterer Lokschuppen in Kamenice nad Lipou. Beide Bahnstrecken wurden als Privatbahnen gegründet, den Betrieb übernahmen jedoch von Anfang an die österreichischen Staatsbahnen. Erst 1924 wurden beide Bahnen verstaatlicht und den Tschechischen Staatsbahnen (CSD) zugeordnet.

Die Verkehrsleistungen auf dem Nordabschnitt blieben in hundert Jahren seiner Existenz nahezu konstant. Auf dem Südabschnitt wurde 1902 eine Verbindungsbahn zur österreichischen Schmalspurbahn Gmünd - Litschau projektiert, die aber nie zustande kam. Während des zweiten Weltkrieges kam die gesamte Bahnstrecke zusammen mit den österreichischen Anschlußgebieten zur Reichsbahndirektion Wien. In Folge der Aussiedlung der deutschen Bevölkerung aus diesem Gebiet nach Ende des Krieges wurde der Personenverkehr auf der Südstrecke 1949 eingestellt. Erst 1957 wurde dieser Streckenteil als Pioniereisenbahn wieder in Betrieb genommen. Ein halbes Jahr später wurde dieser Abschnitt wieder als reguläre Bahn betrieben. Dadurch konnte sich diese als „Tschechisches Kanada" - wegen der vielen Seen - bezeichnete Landschaft schnell zu einem beliebten Ausflugsund Wandergebiet entwickeln. Allerdings wurde auch dieses Gebiet in den achtziger Jahren durch das strenge Grenzregime zum nahen Österreich beeinträchtigt. Gegenwärtig verkehren in der Saison 4 Zugpaare, zusätzlich in den Ferienmonaten montags, sonnabends und sonntags ein Dampfzugpaar mit historischen Wagen..Ganzjährig verkehren zwei Zugpaare am Nachmittag, dazu auf einer Teilstrecke ein Frühzug.. Alle Züge sind in der Regel gut besetzt.

Auf dem Nordabschnitt, der überwiegend mit Diesel-Triebwagen bedient wird, fahren ganzjährig auf der gesamten Strecke 8 Zugpaare; hinzu kommen 3 Zugpaare auf Teilstrecken. Bemerkenswert ist, daß der erste Zug bereits früh 3.47 Uhr in JH abfährt und abends der Letzte 22.58 Uhr! Auf diesem Abschnitt gibt es kaum saisonbedingte Schwankungen. Er dient hauptsächlich dem Berufsverkehr und der Verbindung zwischen den einzelnen Orten der Region.

Auf beiden Abschnitten findet auch Güterverkehr statt, überwiegend mit Normalspurwagen auf Rollböcken. Im Jahre 1996 wurden 2800 Wagen transportiert, 1990 waren es noch 12310.

Der Fahrzeugpark beider Bahnabschnitte bestand bei Aufnahme des Betriebes überwiegend aus Lokomotiv- und Wagenstandardreihen öffentlicher Schmalspurbahnen in Litauen vor dem ersten Weltkrieg. So gab es 6 Lokomotiven der Baureihe „U" (U 37.0 CSD), zahlreiche zweiachsige Personen- und Güterwagen sowie bereits seit Aufnahme des Verkehrs auch Rollböcke. Durch die Wirren des ersten Weltkrieges verschwanden zahlreiche Fahrzeuge, Anfang der zwanziger Jahre kamen andere hinzu. Vier ehemals serbische Lokomotiven der Bauart „Maltet" wurden damals als Baureihe U 47 eingesetzt. Bereits 1929 lieferte das Werk Tatra Koprivnice die ersten Diesel-Triebwagen der Baureihe M 11.0. Damit konnten die Fahrzeiten bis auf ein Drittel verkürzt und neue Haltepunkte in Betrieb genommen werden. Aus dem gleichen Werk kamen bis 1948 weitere fünf größere - vierachsige - und leistungsstärkere Triebwagen, die als Baureihe M 21.0 eingestellt wurden. Gleichzeitig wurden zur Ablösung der Dampftraktion im Güterverkehr Diesellokomotiven der Baureihe T 47.0 beschafft. Damit konnte die Dampftraktion eingestellt und der gesamte Fahrzeugpark mit Druckluftbremse ausgerüstet werden. Mit diesen Lokomotiven wird gegenwärtig die gesamte Last des Normalverkehrs auf beiden Streckenabschnitten bewältigt. Heute werden diese Loks als Baureihe 705.9 bezeichnet; sie sind die ältesten Diesellokomotiven auf tschechischem Gebiet.

Für den Personenverkehr wurden bis Ende der sechziger Jahre die ursprünglich vorhandenen alten Wagen genutzt. Ab 1966 lieferte das Werk Tatra Smichov neue vierachsige Wagen vom Typ „Balm", die bis heute - und auch künftig - eingesetzt werden. Neu sind übrigens auch Rollböcke, die in den Jahren 1987 bis 90 im Waggonwerk Poprad rekonstruiert wurden.

Einige der alten Personenwagen wurden in den letzten 10 Jahren gerettet und modernisiert, so daß sie jetzt für planmäßige Nostalgiefahrten zur Verfügung stehen. Außerdem kehrte 1992 aus dem Prager Technik-Museum die Mallet-Lok U 47.001 nach 30 Jahren Stillstand mit eigener Kraft nach JH zurück und befördert seit 1993 die erwähnten Nostalgiezüge. Allerdings wurde sie im Juli 2003 dabei in Doppeltraktion von einer Diesellok unterstützt.

Es ist zu hoffen, daß diesen tschechischen Schmalspurbahnen die Zukunft offen steht und mancher Leser unserer Zeitschrift die Gelegenheit nutzt, ihnen einen Besuch abzustatten.

DBV International

aus SIGNAL 1/2004 (Februar/März 2004), Seite 41-42

 

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