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Es gibt kein anderes Bundesland, dass durch
Direktzuweisungen an Verkehrsunternehmen
Sozialtarife im Nahverkehr subventioniert.
Aus diesem Grund ist die Streichung des bisherigen
Zuschusses an BVG und S-Bahn angesichts
der Klage des Landes Berlin vor dem
Bundesverfassungsgericht richtig. Warum sollten
die anderen Länder zur Überwindung der
Haushaltsnotlage Berlins etwas zahlen, was
sie selbst nicht haben? Allerdings gibt es in
anderen Bundesländern auf der Kommunalebene
unterschiedliche Verfahren, um den
Schwächsten der Gesellschaft die Teilnahme
am öffentlichen Leben zu ermöglichen. Stuttgart
und Frankfurt gewähren Zuschüsse an die
Verkehrsbetriebe, in anderen Städten bieten
die ansässigen Verkehrsunternehmen freiwillig
ermäßigte Sozialtarife an. In vielen Städten
gibt es Bündnisse von Unternehmen, Verwaltungen
und öffentlichen Einrichtungen zur
Bereitstellung eines Sozialpasses, der in der
Regel Ermäßigungen bei den Fahrpreisen enthält.
In Berlin gibt es nach Auffassung der Koalition
Rahmenbedingungen, die ein Sozialticket
ohne Zuschüsse an die Verkehrsunternehmen
rechtfertigen. Diese liegen insbesondere in
der hohen Akzeptanz des ÖPNV.
Für die Sozialhilfe Empfangenden änderte
sich die Situation seit Beginn des Jahres nicht
wesentlich. Sie müssen, wie vorher auch, dem
Sozialamt darlegen, warum der in der Sozialhilfe
enthaltene Betrag von zurzeit
20,40 Euro für die Sicherung ihrer Mobilität
nicht ausreicht. Auf Grundlage der bundesgesetzlichen
Regelungen erstatten die Sozialämter
nach wie vor die Fahrkosten für Wege zum
Arbeitsplatz, zur Ausbildungsstätte, zum Arzt,
zur Pflege von Familienmitgliedern und anderes
mehr. Kein Grund, der vorher den Erwerb
des Sozialtickets rechtfertigte, ist hinfällig
geworden. Allerdings wurde bei den Beratungen
des Abgeordnetenhauses deutlich, dass
die Bezirke ihren Ermessensspielraum unterschiedlich
auslegen. Es war sehr auffällig,
dass in CDU-geführten Bezirken ein sehr restriktives
Herangehen bevorzugt wird, in PDS- und
SPD-geführten Bezirken hingegen der
Rechtsanspruch der Sozialhilfe Empfangenden
stärker betont wurde.
Die Verkehrsunternehmen BVG und S-Bahn
nutzten die Ankündigung der Streichung der
bisherigen Zuschüsse, um nicht nur die Kalkulationsgrundlage
des bisherigen Sozialtickets
über den Haufen zu werfen, sondern auch
gleich die zuschussfreien Arbeitslosenhilfe- und
Seniorentickets zu streichen. Von diesem
Schritt war die Sozialverwaltung, die seit September
2003 Gespräche über eine Ersatzregelung
für das Sozialticket ohne Zuschüsse führte,
überrascht worden.
Die Verkehrsunternehmen machen eine
einfache Rechnung auf. Sie behaupten, dass
diejenigen, die bisher die verbilligten Monatstickets
erwarben, nunmehr auf die teuren
Standard-Tickets oder auf Tageskarten und
Einzelfahrscheine ausweichen. Da aber die
Verkehrsunternehmen nicht sehrviel über ihre
eigenen Kunden wissen, wissen sie auch
nicht, wie viele das tun werden. Bis heute
sind die angeblichen Verluste der Verkehrsunternehmen
durch die verschiedenen Sozialtarife
durch nichts untersetzt als der bloßen Behauptung,
diese Kunden würden sonst den
vollen Preis bezahlen. Und weil die Wege in
Berlin unter Umständen ziemlich lang sind
und weil die Betreffenden bestenfalls das
Fahrrad benutzen würden, aber nur in den
seltensten Fällen die Alternative Auto haben,
rechnen die Verkehrsunternehmen mit Mehreinnahmen
durch „Zwangsfahrgäste".
Was die Berliner Verkehrsunternehmen im
Gegensatz zu anderen nicht akzeptieren wollen,
ist die schlichte Tatsache, dass es um Kunden
geht. Es geht um Kunden mit einem deutlich
niedrigeren Einkommensniveau. Es geht
um Kunden mit einem anderen Mobilitätsverhalten,
als es der Standardkunde mit festem
Arbeitsplatz und planbaren Wegen hat. Es gibt
in der großen Gruppe der sozial Benachteiligten
eine Menge Leute, die nicht ihren Bedarf
beim Sozialamt einklagen wollen oder können,
aber dennoch den OPNV nutzen würden,
wenn die Preise für sie erschwinglich wären.
Jedes wirtschaftlich agierende Unternehmen
mit einem wie auch immer gearteten Angebot
an Kunden hat ein unternehmerisches
Interesse, Kunden aus verschiedenen Einkommensschichten
anzusprechen. Einzelhändler,
Kinos, selbst Fitness-Studios haben längst
Angebote für Menschen mit niedrigem Einkommen
und gute Erfahrungen dabei gemacht.
Andere Verkehrsverbünde erzielen zum
Beispiel mit einfachen, nicht bezuschussten
Seniorentickets für jedermann erhebliche
Fahrgastgewinne. Doch die Berliner Verkehrsunternehmen
verzichten eher auf diese Kundenklientel.
Sie hoffen auf „Zwangskundschaft"
derjenigen, die keine Alternative haben
und verzichten auf die, die ggf. auf Mobilität
verzichten. ...
Regelrecht perfide wird die Situation für
den Steuerzahler durch den Wegfall der Sozialkarte.
Bisher erhielten die Verkehrsunternehmen
durch den Landeszuschuss den Differenzbetrag
aus dem Eigenanteil der Sozialhilfe
Empfangenden bis zur Kalkulationsgrenze der
Unternehmen von 39 Euro, also pro Ticket
18,60 Euro. Jetzt bekommen sie nach den bundesgesetzlichen
Regelungen der Sozialhilfe
die Differenz zum Standard-Monatsticket,
also 38,10 Euro (ab 1 .April 43,60 Euro).... Hinzu
kommen Einnahmen aus Einzelfahrscheinen
für diejenigen Sozialhilfe Empfangenden,
die nach der Sozialhilfegesetzgebung kein
Monatsticket beanspruchen dürfen. Diese
Mehreinnahmen für die Verkehrsunternehmen
sind Mehrausgaben aus dem Landeshaushalt.
Das weiß auch Herr Sarrazin, der einerseits
als Finanzsenator auf sparsame Landesausgaben
drängt, andererseits als Aufsichtsratsvorsitzender
der BVG auf Mehreinnahmen.
So haben wir eine Reihe von Merkwürdigkeiten:
- Das Land ist gezwungen, den bisherigen
Zuschuss zu streichen um gleichzeitig Mehrausgaben
zu tätigen.
- BVG und S-Bahn bejammern den Verlust einer
gesicherten Einnahme und freuen sich
klammheimlich über gesicherte Mehreinnahmen
pro Person.
- Mehr Fahrgäste sind möglich und überlebenswichtig
für die Verkehrsunternehmen,
dennoch verzichten sie großzügig auf ganze
Bevölkerungsgruppen als Kunden.
Das Abgeordnetenhaus kann eine Menge beschließen.
Es hat nur leider nicht die Definitionsgewalt
über die Nahverkehrstarife. Was
Politik aber tun muss und kann, ist, den Beteiligten
ihre Verantwortung deutlich zu machen,
gerade dann, wenn BVG und S-Bahn im
Auftrage des Landes durch Steuergelder finanzierte
Verkehrsdienstleistungen erbringen.
Deshalb erhebt die PDS die Forderung, dass
die Verkehrsunternehmen die Erarbeitung eines
Fahrscheinangebots für sozial benachteiligte
Menschen vorantreiben. Ein einfaches
Kriterium zur Bestimmung des Berechtigtenkreises
wäre nach Vorschlag der Sozialsenatorin
die Befreiung von den Rundfunkgebühren.
Jutta Matuschek
Verkehrspolitische Sprecherin der PDS-Fraktion im Abgeordnetenhaus von Berlin
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