Berlin

BVG plant Neugestaltung ihres Angebots

Im Frühherbst 2003 begannen bei der BVG die Arbeiten an dem Projekt Angebotsoptimierung, mit dem sich die BVG eine größere Neugestaltung von Netz und Fahrplan-Angebot vorgenommen hat. Das Vorhaben ist Teil des „Lenkrad” genannten Sanierungsprogramms für die BVG, das unter dem seit 2002 amtierenden neuen Vorstandsvorsitzenden, Herrn Graf von Arnim, aufgelegt wurde.

Das Projekt Angebotsoptimierung unterscheidet sich von der Mehrzahl der Lenkrad - Vorhaben dadurch, dass es auch Erlössteigerungen zum Ziel hat. Dass die Angebotsoptimierung gleichzeitig auch Kostensenkungen erzielen soll, zeigt den ehrgeizigen Anspruch des Vorhabens. Das Projekt gliedert sich im Wesentlichen in die drei Teile Analysen, strategische Netzplanung und Detailplanung, wobei unter Letzterem die konkrete Neuplanung von Netz und Fahrplan verstanden wird. In diesem Artikel sollen die Ergebnisse der Analysen vorgestellt werden, ein zweiter wird im nächsten SIGNAL die Planungen vorstellen.

Analysen

Mit Analysen zu Kunden-Anforderungen an den ÖPNV, zur Wettbewerbssituation OPNV - MIV (Motorisierter Individualverkehr) in Berlin und zur Auslastung der von ihr betriebenen Verkehrsmittel erweiterte die BVG ihre Datengrundlagen, die von Experten im bundesweiten Vergleich bereits heute als gut eingeschätzt werden.

Im Bereich Marktforschung verfügt die BVG über Daten allgemeiner Art (zum Beispiel BVG-Marktmonitor) und über eine Vielzahl von SpezialUntersuchungen zu Einzelthemen wie die Bewertung von verschiedenen Expressbussen. Nun wurde der Ansatz betrieben, einerseits die allgemeinen Fragestellungen zu vertiefen und andererseits die Spezialuntersuchungen zu ergänzen, so dass insgesamt ein „rundes Bild" an für die Verkehrsplanung verwendbaren systematischen Aussagen gewonnen werden konnte. Unterstützt wurde die BVG dabei durch Roland Berger Market Research. Roland Berger war darüber hinaus mit der Begleitung weiterer Aufgaben im Vorhaben betraut, während mit der Unterstützung im ingenieurplanerischen Bereich die Berliner Firma IVU AG beauftragt ist.

Bei den für die Auslastungsanalyse zu Grunde liegenden Nachfragedaten wurden zum ersten Mal in größerem Umfang die Ergebnisse der Senatszählung 2002 verwendet, deren Zählungen sich vorher noch in der Auswertung befunden hatten. Eine Verwendung dieser Senatszählungen wurde möglich, da der Senat der BVG einen Auftrag erteilte, den gesamten Berliner ÖPNV mit den Fragestellungen des Projekts Angebotsoptimierung zu betrachten. Dieser Auftrag konnte aber noch nicht in Angriff genommen werden, da die S-Bahn GmbH bisner ihre Mitarbeit abgelehnt hat.

Bei der Wettbewerbsanalyse konnte die BVG auf die Verkehrsmodellierung des ÖPNV und des MIV zurückgreifen, die auch die Grundlage für die Ist-Modellierung zum Stadtentwicklungsplan Verkehr des Senats bildete. Die IVU AG nat bei dieser Gelegenheit im Auftrag der BVG die Modellierung auf das Jahr 2002 aktualisiert.

Analyse-Ergebnisse

Kunden-Anforderungen

Der Wunsch nach kurzen Reisezeiten steht mit über 80 Prozent der Nennungen alleinig an der Spitze bei den Kunden-Anforderungen zum ÖPNV in Berlin. Kurz ist dabei im Sinne eines günstigen Reisezeit-Verhältnisses der ÖPNV-Kunden zum MIV zu verstehen. Da hinter der Reisezeit alle anderen Faktoren völlig zurücktreten, wurde untersucht, welche der verschiedenen Komponenten der Haustür-zu Haustür-Reisezeit von den befragten am stärksten gewichtet wird. Es wurden die Prioritätssetzungen der Berliner abgefragt hinsichtlich:

  • dichtem Takt (das heißt der Zugangs- und Umsteigewartezeiten),
  • hoher Haltestellendichte (das heißt Entfernung von Wohnung/Zielen zur nächstgelegenen Haltestelle) und
  • hoher eigentlicher Fahrgeschwindigkeit des öffentlichen Verkehrsmittels.

Von einer Mehrheit der Befragten wurde dabei die höchste Priorität auf einen dichten Takt gelegt. Eine etwas geringere Anzahl der Berliner zog die hohe Haltestellendichte vor, während die mit Abstand kleinste Zahl der Befragten die eigentliche Fahrgeschwindigkeit an erste Stelle setzte. Dieses Ergebnis deckt sich mit Alltagswahrnehmungen, zum Beispiel, dass die verlorene Zeit bei einem verpassten Anschluss (also Takt) auch durch eine anschließende schnelle Fahrt zum Beispiel auf einer Busspur nicht wieder wettgemacht werden kann.

Interessant ist dieses Ergebnis insofern, als bei konkreten Netzplanungen sowohl unter den Verkehrsplanern als auch in der öffentlichen bzw. veröffentlichten Meinung Berlins die hohe Haltestellendichte als nahezu tabuisierte Gegebenheit behandelt wird. Auch der von Roland Berger durchgeführte Vergleich mit anderen Städten, ja selbst der Vergleich der beiden Stadthälften Berlins zeigt eine außerordentlich hohe Haltestellendicnte insbesondere im Westteil der Stadt.

Weniger überraschend für die Planer war eine weitgehende Akzeptanz für das Umsteigen in Berlin. Das positiv besetzte Gefühl, in einer Großstadt zu leben, zeigte hier wohl seine Wirkung. Wegen einer trotzdem vorhandenen gewissen Zahl deutlich schlechter Bewertungen für Umsteigesituationen wurde noch vertieft untersucht. Hier wird die BVG die sich im Rahmen der Angebotsoptimierung bietenden Möglichkeiten, wie verbesserte Anschlussgewährung oder Kommunikation bestehender Anschlüsse, nutzen.

Gar nicht überraschend war schließlich für die Planer die völlig fehlende Zahlungsbereitschaft der Berliner für Komfortsteigerungen, die insbesondere für den Fahrzeugkomfort abgefragt worden war. Bei diesem wie auch bei den anderen Themenkomplexen zeigten sich keine wesentlichen Unterschiede zwischen Kunden und Nichtkunden des ÖPNV.

Wettbewerbsanalyse

Karte
Verkehrströme mit Handlungsbedarf (MIV + ÖPNV über 4000 Fahrten je Werktag, ÖPNV-Anteil unter 50 Prozent). Grafik: BVG

Mit einer Wettbewerbsanalyse wurde ein auf der Verkehrsmodellierung basierender umfassender räumlicher Vergleich der Reisezeiten im ÖPNV mit denen im MIV vorgenommen. Die dabei untersuchten räumlichen Einheiten bildeten die Verkehrsdistrikte Berlins. Die Untersuchung ermittelte gezielt aufkommensstarke Nachfrageströme des MIV, die heute ein schlechtes Reisezeit-Verhältnis aus Sicht der ÖPNV-Kunden und einen niedrigen Marktanteil des ÖPNV aufweisen. Sie werden als Relationen mit Gewinnchancen hinsichtlich neuer Fahrgäste, das heißt mit Handlungsbedarf gesehen. Die Verkehrsmenge (werktägliche Fahrten MIV und ÖPNV) der in der Abbildung 1 dargestellten Relationen drückt sich in der Balkenstärke aus. Die stärksten Relationen finden sich auf der Abbildung zwischen den Ortsteilen Steglitz, Lichterfelde, Zehlendorf/Dahlem und Zehlendorf-Süd. Dort finden sich auch die Relationen mit niedrigem Marktanteil des ÖPNV, dargestellt in dunklerer Schattierung der Balken dargestellt und finden sich zum Beispiel zwischen den Ortsteilen/Verkehrsdistrikten Steglitz, Lichterfelde, und Zehlendorf/Dahlem. Relationen mit einem schlechten Reisezeit-Verhältnis für ÖPNV-Kunden sind mit weit gestrichelter Linie im Balken, zum Beispiel zwischen Neu-Tempelhof und Nord-Neukölln dargestellt.

Auf den ermittelten Relationen mit Handlungsbedarf werden Möglichkeiten für Fahrgast-Gewinne gesehen, die mit gezielten Angebotsmaßnahmen (zum Beispiel mit Express-Bussen) bei geringer Steigerung des Betriebsaufwands realisiert werden können. Die Gewinn versprechenden Relationen finden sich ganz überwiegend außerhalb des S-Bahn-Rings mit Schwerpunkten im Süden und Norden Berlins, aber auch in Spandau, Pankow und Köpenick; sie sind nicht nur tangential, sondern auch radial ausgerichtet. Eine zusätzliche feine räumliche Untersuchung zeigte, dass auch bei benachbarten Verkehrsdistrikten die Stärke der Verkehrsströme meist nicht durch Aufsummieren mehrerer kleinere Ströme entsteht, dass heisst ihr Potenzial zum Beispiel für eine Linienbildung ist ebenfalls gegeben.

Das gesamte Potenzial auf den Relationen mit Handlungsbedarf ist beachtlich. Wenn es gelingt, nur einen kleinen Teil dieses Potenzials für den ÖPNV zu gewinnen, sind Steigerungen der Fahrgast-Zahlen in Millionen-Höhe möglich. Damit bestätigte die Wettbewerbsanalyse die eingangs aufgestellte These, dass das Projekt Angebotsoptimierung für die BVG signifikante Ergebnisverbesserungen auch auf der Erlös-Seite erzielen kann. Hierzu wurde im Projekt ein konkretes Zahlengerüst erarbeitet. Im weiteren Fortgang der Arbeiten wird sich das Interesse nun auf zwei Fragen konzentrieren:

  • Inwiefern gelingt es in der Detailplanung der Linien und des Fahrplanangebotes auf den ermittelten Relationen konkrete Verbesserungen des Reisezeit-Verhältnisses auch wirklich zu realisieren?
  • Wie gut waren die getroffenen Annahmen, dass heisst wieviel Verlagerungen im Modal Split werden nach der Umsetzung der Maßnahmen wirklich erreicht?

Auslastungsanalyse

Während die Wettbewerbsanalyse also nach Gewinnpotenzialen hinsichtlich neuer Fahrgäste suchte, zielte die Auslastungsanalyse auf Sparpotenziale. Vergleiche der Auslastung zwischen den öffentlichen Verkehrsmitteln in Berlin und in anderen deutschen Städten hatten schon vor der Auflassung des Projekts Angebotsoptimierung gezeigt, dass die Auslastung bei der BVG relativ niedrig ist. Da nicht klar war, ob bei den Vergleichen immer die Rechenmethode des Verbandes Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) zu Grunde gelegen hatte, gab es eine gewisse Spannung hinsichtlich der genauen Werte bei den Verkehrsmitteln der BVG. Die Berechnung der Auslastung für das Projekt erfolgte exakt nach derVDV-Methode, das heißt Platzkilometer durch Personenkilometer ausgedrückt in Prozent. Die Stehplätze wurden mit vier Personen pro m2 Stehplatz-Fläche zu Grunde gelegt.

Die U-Bahn weist eine durchschnittliche Auslastung über Montag bis Freitag (werktags) einen Wert knapp unter 20 Prozent, über alle Tage (Montag bis Sonntag) von knapp 19 Prozent auf. Der Nachtbetrieb ist in beiden Zahlen nicht enthalten, dürfte jedoch wegen seines geringen Gesamtumfangs die Werte nicht verändern. Bei Betrachtung der einzelnen U-Bahn-Linien zeigen sich werktags gute Auslastungen auf der U 9 (fast der gesamten Linie) und der U 7 auf der Teilstrecke von S+U Neukölln bis Fehrbelliner Platz. Ebenfalls gut ausgelastet - vielleicht für den einen oder anderen überraschend - ist das Kernstück der U 6 von Mehringdamm bis Wedding.

Erwartungsgemäß sind die Linien-Enden schwach (das"heißt unter 10 Prozent) ausgelastet, auch die U 15 von Uhlandstraße bis Wittenbergplatz. Die U 4 fällt nicht in den schwachen Bereich, weil dort ein Einsatz von kurzen Zügen erfolgt, also passable Auslastungswerte bei schlechten Belastungswerten gegeben sind. Insgesamt ist bei der U-Bahn ein mehr oder weniger erwartetes Gesamtbild zu verzeichnen.

Ähnliches kann von der Straßenbahn gesagt werden. Deren Gesamtwerte liegen Montag bis Freitag bei 15 Prozent und Montag bis Sonntag bei 14 Prozent. Gute Auslastungen zeigen die Strecken/Linien auf den Hauptradialen Prenzlauer Allee, Greifswalder Straße und Landsberger Allee innerhalb des S-Bahn-Rings, aber teilweise auch bis in die Außenbereiche. Gut ausgelastete Tangentialen sind die Linie 20 und die Linien im Bereich Osloer Straße. Ebenfalls gute Werte sind auf der Allee der Kosmonauten zu verzeichnen sowie auf der Linie 50 zwischen den S-Bahnhöfen Pankow und Pankow-Heinersdorf. Schlechte Auslastungen zeigt die Straßenbahn in Bereichen des Köpenicker Netzteils und an Linienenden.

Das komplizierteste Bild weist der Unternehmensbereich Omnibus auf, bei dem die durchschnittlichen Auslastungen Montag bis Freitag zwischen 16 und 17 Prozent und Montag bis Sonntag bei etwas über 15 Prozent liegen (wieder ohne Nachtverkehr). Gute Auslastungen weisen viele Strecken/Linien auf, bei denen der Omnibus auf wichtigen Straßenachsen eine Rückgratfunktion hat, wie dem Hindenburgdamm (Linie 185), dem Mariendorfer Damm (X 76, 176), Buckower und Marienfelder Chaussee (X 11, 172), Sonnenallee (141, 241), Kochstraße/Oranienstraße (129) oder in Nordberlin der Straßenzug Ollenhauerstraße/Oranienburger Straße mit den Linien X 21, 121 und 225. Gut ausgelastet sind auch Strecken mit Rückgratfunktion und Nähe zu Schnellbahn-Linien, die in der politischen Diskussion oft mit dem Verdikt „Parallelverkehr" versehen sind. Zu nennen sind hier die Strecken Heerstraße/Kantstraße (X 34, X 49, 149), Unter den Eichen/Schloßstraße/Hauptstraße/Potsdamer Straße (unter anderem 148, 185), Hermannstraße (144), aber auch der Kurfürstendamm u.a. mit den Linien 110, 119 und 129. Darüber hinaus finden sich gute Auslastungen dort, wo Buslinien auf städtische Zentren wie die Altstadt Spandau oder den Hermannplatz zulaufen.

Schwache Auslastungen zeigen die Omnibus-Linien in vielen Randgebieten Berlins wie Frohnau, Altglienicke/Bohnsdorf oder Mahlsdorf. Besonders bemerkenswert sind die schwachen Auslastungen der Buslinien in der gesamten östlichen Innenstadt, einem Gebiet, das teilweise über die Grenzen des ehemaligen Bezirks Mitte hinaus reicht.

Insgesamt zeigt sich beim Omnibus also ein sehr Fieterogenes Bild, das für verschiedene Gebiete aucn sehr unterschiedliche Herangehensweisen zur Erhöhung der Auslastungswerte erwarten lässt. Generell liegen die Bus-Auslastungswerte im Ostteil deutlich niedriger als im Westteil der Stadt. Dies kann auf die Präsenz der Straßenbahn im Ostteil zurückgeführt werden, die hier neben den Schnellbahnen in weiten Bereichen die Rückgratfunktion besitzt, die im Westteil durch wichtige gut ausgelastete Buslinien wahrgenommen wird. Ein weiterer Teil der Differenz, darauf weist auch die im Vergleich zum Bus schlechtere Auslastung der Straßenbahn hin, dürfte aber auch dem Einbruch der ÖPNV-Nachfrage in der Mitte der 1990er Jahre geschuldet sein. Bekanntlich war damals im Ostteil der Pkw-Bestand sprunghaft angestiegen.

Tageszeiten und Wochentage weisen bei allen drei Unternehmensbereiche sehr unterschiedliche Auslastungen auf. In den Abendstunden, gegen Mitternacht und im Nachtverkehr sinken die Auslastungen deutlich. Allerdings weist die U-Bahn seit Einführung des erweiterten Wochenend-Nachtverkehrs eine deutlich gestiegene Nachfrage auf. Samstage und Sonntage liegen unter den Auslastungswerten für den durchschnittlichen Wochentag. Sie haben als Besonderheit einen sehr schlecht ausgelasteten Frühverkehr in der Zeit bis 9 bzw. 10 Uhr.

Insgesamt bestätigten sich in der Auslastungsanalyse die früher lediglich pauschal ermittelten Gesamtwerte für die drei Unternehmensbereiche auch mit den linienfeinen Daten. Selbst nach Berücksichtigung solcher Faktoren wie Lastrichtung und Unbequemlichkeit bei vier Personen pro m2 Stehplatz-Fläche ist festzustellen, dass die Auslastung der Verkehrsmittel der BVG in einem Bereich liegt, der aus der Perspektive eines angeschlagenen Unternehmens und seines Zuschussgebers nicht akzeptabel ist. Andererseits liegt in diesem Fakt aber auch eine Chance: Es existieren tatsächlich Sparpotenziale in Größenordnungen und sie sind genau identifizierbar. Wenn diese Potenziale gehoben werden können, kann die BVG aus ihnen gleichzeitig gezielte Angebotsverbesserungen zur Kundengewinnung speisen und „unterm Strich" dennoch Betriebsleistung einsparen.

Dafür ist eine umfassende Neuplanung des Netzes erforderlich über deren strategische Ansätze und konkrete Ausformung im zweiten Teil dieses Artikel sowie auf einer Veranstaltung während der Schienenverkehrs-Wochen 2004 berichtet werden wird.

BVG, Heinz Krafft-Neuhäuser, BVG-Projektleiter

aus SIGNAL 2/2004 (April/Mai 2004), Seite 16-18

 

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