Aktuell

Lückenschließungen bei der Berliner S-Bahn

Antwort der Bundesregierung vom Februar 1994 auf die Kleine Anfrage des Abgeordneten Dr. Klaus-Dieter Feige (Bündnis 90/Die Grünen) zur "Schließung der Schienenlücken im S-Bahn-Netz innerhalb Berlins und zwischen Berlin und Brandenburg".

Ist der Bundesregierung bekannt, daß am 23. Mai 1990 die erste innerdeutsche Schienenlücke zwischen Ahrenshausen und Eichenberg geschlossen wurde, der im November 1990 die 24 km lange Werratal-Bahn (inklusive der denkmalgeschützten 12-Felder-Brücke), im November 1991 die Lücke zwischen Coburg und Neustadt (inklusive Elektrifizierung) und die zwischen Meirichstadt und Rentwertshausen für die Verbindung Berlin - Stuttgart - Rom folgten? Wenn ja, wie war das möglich? Welche günstigen Umstände vielten dabei eine große Rolle? Welche Schwierigkeiten mußten überbrückt werden?

Ja. Mit dem am 3. Mai 1990 beschlossenen Lückenschlußprogramm wurden entsprechende Maßnahmen festgelegt, mit denen die Verbindungen der Eisenbahnnetze der ehemaligen Deutschen Bundesbahn und Deutschen Reichsbahn schnellstmöglichst verbessert werden sollten und unterbrochene Verbindungen der Berliner S-Bahn wieder aufgenommen werden konnten. Dazu gehörten auch die in der Frage genannten Schienenverbindungen.

Dem Lückenschluß Eichenberg - Ahrenshausen kommt eine besondere Rolle zu, da es sich hierbei um eine Sofortmaßnahme handelte, bei der zunächst nur eine eingeschränkte Funktionsfähigkeit hergestellt wurde. Der weitere Ausbau - u.a. zweigleisig und elektrifiziert - wird auf dem Standard des Gesamtnetzes erfolgen und die üblichen Realisierungszeiten für eine Regelstrecke benötigen.

Die Umsetzung der damaligen Lückenschlußentscheidung geschah zunächst provisorisch unter Berücksichtigung der vorhandenen Gegebenheiten. Die Einbeziehung von teilweise noch vorhandener Infrastruktur begünstigte die schnelle Wiederherstellung der Befahrbarkeit. Der Regelstandard für Eisenbahnstrecken wird jetzt im Rahmen der laufenden Ausbauarbeiten in vollem Umfang hergestellt.

Wie bewertet die Bundesregierung - vor allem auf dem Hintergrund, daß sich der Senat von Berlin gerne als Motor der Deutschen Einheit begreift - die Tatsache, daß die erste innerstädtische Schienenlücke in Berlin erst dreieinhalb Jahre nach der ersten innerdeutschen Schienenlücke geschlossen wurde, wenn vom Einbau einer Weiche am S-Bahnhof Friedrichstraße abgesehen werden kann, - vor allem auf dem Hintergrund, daß es sich lediglich um eine Lücke von 800 m für den S-Bahn- Verkehr zwischen Wannsee und Potsdam handelte?

Vollring S-Bahn
"Vollring über Ostkreuz", fotografiert 1993. Doch bis dieser Traum Wirklichkeit wird, werden noch viele Jahre vergehen. Sämtliche Lückenschlüsse "sollen im Jahr 2000 abgeschlossen sein", verspricht die Bundesregierung. Es ist zu befürchten, daß auch der so dringliche Ring nicht vor diesem Jahr geschlossen wird. Foto: Mario Lange

Unmittelbar nach dem Beschluß des Lückenschlußprogramms im Mai 1990 wurde mit den Planungen und ersten Baumaßnahmen für die wichtigsten Lückenschlüsse im geteilten Berliner S-Bahn-Netz begonnen. Nach der Wiederherstellung des durchgängigen Betriebes auf der Stadtbahn im Juli 1990 und der Inbetriebnahme der zunächst provisorischen Verknüpfung an der Station Bornholmer Straße im August 1991 wurde im März 1992 - das war 22 Monate nach dem Lückenschluß zwischen Ahrenshausen und Eichenberg - der Nord-Süd-S-Bahn-Tunnel zwischen Anhalter Bahnhof und Humboldthain (5,0 km) nach einer umfassenden Grunderneuerung mit Beseitigung von Kriegsschäden nach zeitweiliger Totalsperrung wiedereröffnet. Es folgten:

  • April 1992: Wannsee-Potsdam Stadt (9,0 km);
  • Mai '92: Frohnau - Hohen Neuendorf (4,0 km);
  • Aug. '92: Lichtenrade - Blankenfelde (5,7 km);
  • Dez. '93: Baumschulenweg - Neukölln (3,3 km) gemeinsam mit der Wiederinbetriebnahme des Südrings von Neukölln bis Westend (17,6 km).

Die Bauzeiten ergeben sich insbesondere daraus, daß die Maßnahmen des Lückenschlußprogrammes der S-Bahn von Charakter und Umfang einem Neubau gleichkommen, für den es keinen entsprechenden Planungsvorlauf gab. Neben dem Wiederaufbau abgetragener Bahndämme und Gleise im ehemaligen Grenzbereich mußten die infolge des 30-jährigen Verfalles weitgehend unbrauchbar gewordenen Brückenbauwerke, Gleise, Signal- und Fernmeldeanlagen, die Bahnstromversorgung sowie Stationsanlagen auf den gesamten stillgelegten Streckenabschnitten vollständig neu errichtet werden.

Ist die Bundesregierung bestrebt, nachdem sie seit dem 1. Januar 1994 wieder die Verantwortung für das gesamte S-Bahn-Netz in Berlin und Brandenburg trägt, für die Wiederherstellung des gesamten S-Bahn-Netzes im Status quo ante 1961 den schnellen Fährbetrieb und damit das Tempo bei der Schließung der ersten innerdeutschen Schienenlücken oder das Schneckentempo auf kostspieligem Niveau des Berliner Senats zur Grundlage zu machen? Wenn ja, für welche Position entscheidet sich warum die Bundesregierung? Welche Zeitvorstellungen hat sie im Hinblick auf Planungsvorlauf Baubeginn, Wiederinbetriebnahmedaten bzw. Nichtwiederinbetriebnahme der einzelnen S-Bahn-Strecken, und welchen Kostenrahmen legt sie dabei zugrunde?

Gemeinsames Ziel der Bundesregierung, des Senats von Berlin, des Landes Brandenburg und der Deutschen Bahn AG ist es, die durch die Grenzziehung entstandenen Lücken zu schließen und das bis 1961 betriebene Netz der S-Bahn Berlin wiederherzustellen. Entsprechend wird das 1990 beschlossene Lückenschlußprogramm konsequent umgesetzt.

Gegenwärtig liegen von dem rd. 375 km umfassenden Gesamtnetz noch rd. 90 km still. Die Schließung der einzelnen Schienenlücken muß einerseits in engem Zusammenhang mit der Wiederherstellung der stilliegenden Streckenabschnitte, der Regionalbahnplanung und den Baumaßnahmen am Fernbahnnetz gesehen werden. Zum anderen ist im Rahmen des verfügbaren Finanzrahmens eine Prioritätenreihung vorzunehmen, die die wirtschaftlichen, funktionalen, logistischen und städtebaulichen Belange der einzelnen Projekte berücksichtigt. Die unter diesen Bedingungen und unter dem Aspekt der Bahnreform von der Deutschen Bahn AG zu den noch bestehenden Lücken durchzuführenden Untersuchungen und mit den Ländern Berlin und Brandenburg vorzunehmenden Abstimmungen sind noch nicht abgeschlossen, so daß konkrete Angaben zu Bauzeiten, Investitionskosten und Inbetriebnahmeterminen derzeit nicht gemacht werden können.

Ist der Bundesregierung bekannt, daß der Hauptausschuß des Berliner Abgeordnetenhauses für die S-Bahn-Verbindung Westend - Jungfernheide einen Betrag von 40 Mio DM im Haushalt 1993 verankert hat? Wie ist gegenwärtige Stand der Planung? Was sind die Ursachen dafür, daß auch vier Jahre nach dem Fall der Mauer noch nicht einmal mit den notwendigen Bauarbeiten dafür begonnen wurde, welche Baumaßnahmen sind dafür notwendig (bitte einzeln auflisten, inkl. der Kosten), und wann ist mit einer Inbetriebnahme dieses Streckenabschnittes zu rechnen?

Welche Bau- und Planungsmaßnahmen sind notwendig, um den Nordring von Schönhauser Allee bis Westend vollständig wieder in Betrieb zu nehmen? Mit welchen Kosten wird dabei gerechnet, wann soll mit den Baumaßnahmen begonnen werden, und für wann ist die Inbetriebnahme - auch in einzelnen Teilabschnitten - vorgesehen?

Die Fragen werden wegen ihres engen inhaltlichen Zusammenhanges gemeinsam beantwortet.

Die S-Bahn-Strecke von Westend bis Jungfernheide ist Bestandteil des geplanten Wiederaufbaues des S-Bahn-Nordringes von Westend bis Schönhauser Allee einschließlich der Verknüpfung mit der Nord-Süd-S-Bahn im Bereich Gesundbrunnen - Bornholmer Straße. Die Rahmenplanung sieht den zweigleisigen Wiederaufbau des Bahnkörpers, der Brückenbauwerke, des Oberbaues der Stromversorgung, des Signalsystems sowie der Stationsanlagen im gesamten Streckenverlauf vor. Teilweise soll eine Neutrassierung zur Verbesserung der Umsteigebeziehungen zwischen Ring- und Nord-Süd-S-Bahn erfolgen.

Bis zum 31. Dezember 1993 lag die Zuständigkeit für die Planung und Finanzierung des Abschnittes von Westend bis Gesundbrunnen beim Senat von Berlin. Die Baumaßnahmen des Senats konzentrierten sich zunächst unter Berücksichtigung der verfügbaren Mittel auf den verkehrswichtigen Südring zwischen Westend und Baumschulenweg, der am 17. Dezember 1993 in Betrieb genommen worden ist. Mit Beginn des Jahres 1994 sind Planungskompetenz und Baulast für den S-Bahn-Ring vollständig auf die Deutsche Bahn AG übergegangen.

Busservice angebot
Ausschnitt aus der Werbung eines großen Möbelhauses Ende 1993. Selbst der großflächige Einzelhandel im Berliner Umland will (oder kann?) offensichtlich nicht allein von der Autokundschaft leben. Auch nördlich Berlins zeigt sich immer deutlicher, wie wichtig für viele Unternehmen der Anschluß an das Berliner S-Bahn-Netz ist. Firmen im Umfeld der Kremmener Bahn wollen deshalb den S-Bahn-Wiederaufbau nördlich von Tegel als Vorleistung erbringen. Mehr zur Kremmener Bahn in SIGNAL 4/94.

Entsprechend der Rahmenplanung der Bahn werden die Gesamtkosten der S-Bahn-Maßnahmen im o.g. Bereich gegenwärtig mit rd. 770 Mio. DM v eranschlagt. Sämtliche Maßnahmen sollen im Jahre 2000 abgeschlossen sein. Das Vorhaben wird mit Bundesfinanzhilfen nach dem Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz aus dem ÖPNV-Bundesprogramm gefördert.

Die Deutsche Reichsbahn hat bisher auf Grundlage baureifer Planungen im Bereich Nordkreuz Zuwendungen für Maßnahmen mit Gesamtkosten in Höhe von rd. 44 Mio. DM beantragt. Das Land Berlin hat für Teilmaßnahmen im Bereich Gesundbrunnen - Schönhauser Allee, die bis zum 31. Dezember 1993 in seiner Baulast lagen, im Jahre 1993 Finanzierungsanträge mit Gesamtkosten in Höhe von 2,2 Mio. DM vorgelegt.

Haushaltsplanungen des Berliner Senats für im Jahre 1993 im Abschnitt Westend - Jungfernheide vorgesehene Maßnahmen sind der Bundesregierung nicht bekannt.

Die Planungen der DB AG sind für die einzelnen Streckenabschnitte des Nordringes noch nicht abgeschlossen. Zu den genauen Kosten von Teilstrecken und deren Inbetriebnahmeterminen kann deshalb hier noch nichts gesagt werden.

****

[IGEB] Wer immer wieder erlebt, wie der Berliner Senat ausweichend und unvollständig auf Anfragen der Berliner Abgeordneten reagiert, ist von den recht umfangreichen Ausführungen der Bundesregierung zunächst einmal angenehm überrascht. Weder angenehm noch überraschend sind dagegen die Inhalte. Viereinhalb Jahre nach dem Sturz der Mauer sind für die Wiedehnbetriebnahme der vielen noch stilliegenden S-Bahn-Strecken konkrete Angaben weder zu Bauzeiten noch zu Investitionskosten oder gar Wiederinbetriebnahmeterminen möglich. Ein Skandal! Aber nicht der einzige. Immer wieder hat der Berliner Fahrgastverband IGEB beklagt, daß es in Berlin nicht am Geld fehlt, sondern an fähigen Senatoren, die in der Lage sind, das zur Verfügung stehende Geld sachgerecht auszugeben. Wie berechtigt dieser Vorwurf ist, wurde nun leider ein weiteres Mal bestätigt: Von den für 1993 bereitgestellten 40 Mio DM für den Nordring, hat der Berliner Senat laut Antwort der Bundesregierung lediglich 2,2 Mio verbauen können. Die Senatoren Haase und Nagel haben also "gute" Gründe dafür, daß sie den Berliner Abgeordneten oft unvollständig oder ausweichend antworten. Und wir haben gute Gründe anzunehmen, daß der Verlust der 38 Mio nicht der einzige im Jahr '93 war. Weitere Kleine Anfragen zu großen Schlampereien sind also nötig. Nur Mut, Herr Feige!

Bundesregierung

aus SIGNAL 2-03/1994 (April 1994), Seite 19-20

 

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