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Ursprünglich für Frühling geplant, wurden die ersten vier Niederflurzüge
von AEG Hennigsdorf Ende August an die BVG ausgeliefert. Da das
"Präsentationswochenende" schon vorbereitet war, mußte die BVG mit den
gerade ausgelieferten Zügen den Sprung ins kalte Wasser wagen. Positiv zu
werten ist die Art und Weise der Präsentation. Ein kleines Straßenfest an
der Eberswalder Straße, Infobroschüren über die neuen Züge und die Berliner
Straßenbahn allgemein sowie ein ganzes Wochenende Freifahrt waren die
Rahmenbedingungen, mit denen die neue Berliner Straßenbahn-Ära eingeläutet
wurde. Die Fahrgäste auf der modernisierten Vorzeige-Strecke der Linie 20
mußten dann jedoch zur Kenntnis nehmen, daß auch moderne Züge nicht schneller
vorankommen als die alten, wenn Politiker das nicht wollen. Nur an fünf von
ca. 20 Ampeln hat die Tram Vorrang. Und auf dem südlichen, noch nicht
sanierten Streckenabschnitt der Linie 20 mußte z.T. Schrittempo gefahren
werden. Dies hat auch Verkehrssenator Haase bei der Eröffnungsfahrt
festgestellt und deshalb bei seiner Rede anläßlich der Eröffnung der
11. Schienenverkehrs-Wochen seine Unzufriedenheit über diese Tatsache
geäußert.
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Foto: Ivo Köhler |
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Regen Zuspruch hatten die Neubaufahrzeuge am ersten Einsatztag, hier an der Haltestelle in der Eberswalder Straße, wo die Fahrgäste allerdings nach wie vor "ungeschützt" auf die Fahrbahn aussteigen müssen. Unten: Endlich können auch in Berlin Rollstuhlfahrer mit der Straßenbahn fahren. Ob jedoch der technisch aufwendige und zumindest bei den Niederflurbussen sehr reparaturanfällige Lift eine geeignete Lösung dafür ist, muß die Praxis erst noch zeigen. Foto: Ivo Köhler |
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Nach diesem geglückten Präsentationswochenende blieben die Züge aber
erstmal im Depot. Sie mußten durchgesehen werden und sollten dann zunächst
vor allem für die Fahrerschulung ein gesetzt werden. Aber leider wiederholte
sich, was schon am ersten Einsatztag passierte: Mehrfach entgleisten die
Züge auf der Zufahrtsstrecke zum Betriebshof Marzahn, was den dringenden
Sanierungsbedarf bei vielen Straßenbahngleisen verdeutlicht. Ob, wie
befürchtet wird, auch konstruktive Mängel an den neuen Zügen vorliegen,
wollen BVG und AEG kurzfristig klären.
Von den Fahrgästen wurden die neuen Züge schon allein wegen ihrer
komfortablen Einstiegsverhältnisse
und den im Vergleich zu Reko- und Tatra-Zügen besseren Fahreigenschaften
positi aufgenommen. Ein Urteil aber kann erst nach dem Eignungstest im
normalen Fahrgastbetrieb erfolgen. Bis Ende 1995 sollen die insgesamt 60
Züge der bestellten 1. Serie ausgeliefert werden. Aber vor Bestellung einer
zweiten, vertraglich bereits optierten Serie sind schon jetzt einige
Anmerkungen notwendig.
Während der ebenfalls dreiteilige Bremer Prototyp des GT6N immerhin 67
Sitzplätze aufweist (das vierteilige Serienfahrzeug hat 85 Sitzplätze),
hat die Berliner Variante nur noch 58 Sitzplätze. Davon fallen vier bei
Benutzung der Rollstuhl- bzw. Kinderwagenplätze auch noch weg, und die
volle Besetzung der "4er-Abteile" über den Radkästen ist wohl nur bis
Schuhgröße 37 möglich!
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Eine Fahrzeug-Alternative für Berlin. Sie bieten zwar nur 70% Niederfluranteil, sind dafür aber pro Sitzplatz fast 50% (I) preiswerter, die ebenfalls 2,3 m breiten Zwei(l)richtungsfahrzeuge für Erfurt. Foto: Matthias Horth |
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Und auch unter Kosten-Nutzen-Gesichtspunkten muß über das Berliner Fahrzeug
diskutiert werden: Weil Städte wie Bochum und Erfurt Duewag-Zwei(!)
richtungsfahrzeuge mit deutlich höherer Sitzplatzkapazität (bis zu 72!) für
erheblich weniger Geld anschafften und Bremen die pro Sitzplatz gerechnet
sehr viel günstigere, viertelteilige Variante des AEG-Fahrzeugs bauen ließ,
wird eines deutlich: Berlin leistet sich (mal wieder) die unter
Kosten-Nutzen-Gesichtspunkten teuerste Lösung. Trotz Großserie hat Berlin
bei Anschaffungskosten von ca. 3,5 Mio DM pro Zug mit einem Preis je
Sitzplatz von über 60.000 DM die Nase weit "vorn". Zum Vergleich: Die von
Erfurt angeschafften (und wegen identischer Außenabmessungen auch in
Berlin einsetzbaren Zweirichtungswagen) kommen auf einen "Sitzplatz-Preis"
von ca. 42.000 DM!
Aber unabhängig davon, wie teuer die vertraglich optierte und dringend
benötigte 2. Serie mit weiteren 60 Fahrzeugen nun tatsächlich wird: Der
Berliner Senat weigert sich, der BVG die nötigen Finanzmittel zur Verfügung
zu stellen und drängt die BVG in eine verhängnisvolle Verschuldungsspirale.
Dies lehnt das für Finanzen zuständige BVG-Vorstandsmitglied Joachim Niklas
jedoch aus naheliegenden Gründen ab. Die Zukunft der Berliner Tram ist also
trotz aller offiziellen Bekundungen weiterhin ungewiß... IGEB
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