Planung

Pfifferling oder Fliegenpilz?
Das Pilzkonzept für die Berliner Eisenbahn (9. Teil)

In SIGNAL 6/94 dokumentierten wir die Einwendungen des Berliner Fahrgastverbandes IGEB zu den öffentlich ausgelegten Plänen für die Verkehrsanlagen im Zentralen Bereich. Von einer Reihe von Mitgliedern bei IGEB und PRO BAHN wird der Straßentunnel zwar ebenfalls abgelehnt und das Streichen der S21 kritisiert, aber insgesamt überwiegen für sie die Vorteile des Pilzkonzeptes. Dieses von der Mehrheitsposition abweichende Votum wollen wir den SIGNAL-Lesern nicht vorenthalten.

Planung bzw. Realisierung einer fahrgastfreundlichen Eisenbahnkonzeption für den Großraum Berlin

1.0 Grundkonzepte für eine künftige Netzstruktur

Für den Ausbau der Eisenbahninfrastruktur in Berlin wurden in den vergangenen etwa vier Jahren im wesentlichen zwei Grund Varianten (mit verschiedenen Abwandlungen) zur Netzstruktur entwickelt: das Ringmodell und das Achsenkreuzmodell.

1.1 Struktur des Ringmodells

Beim Ringmodell wird der Berliner Innenring zum zentralen Netzelement, den alle Fern- und Regionalzüge der Nord-Süd-Relation abschnittsweise nutzen. Der Ost-West-Verkehr verbleibt auf der Stadtbahn. Es sind bei dieser Konzeption der Neubau mehrerer dezentraler Fern- und Regionalbahnhöfe auf dem Innenring vorgesehen, und zwar in Westkreuz, Tempelhof, Ostkreuz und Gesundbrunnen. Bestandteil der Planung ist auch der Neubau eines Bahnhofs an der Klosterstraße in Spandau an den Hauptstrecken Richtung Hamburg und Hannover. Auf der Stadtbahn sind Fern- und Regionalbahnhalte in den Bahnhöfen Charlottenburg, Zoologischer Garten, Friedrichstraße, Alexanderplatz (nur Regionalbahn) und Hauptbahnhof möglich.

1.2 Struktur des Achsenkreuzmodells

Das Achsenkreuzmodell beinhaltet die Variante des "Pilzkonzeptes". Das "Pilzkonzept" ist gemeinsam von der Deutschen Reichsbahn und dem Berliner Senat als erste Ausbaustufe zum Achsenkreuzmodell entwickelt worden. Auch bei diesem Konzept verbleibt der Ost-West-Verkehr auf der Stadtbahn. Geplant ist für den Eisenbahnverkehr in der Nord-Süd-Relation eine ca. 3,4 Kilometer lange Tunnelstrecke mit Anschlüssen an den Nordring bzw. im Süden an die Hauptstrecken nach Dresden und Halle/Leipzig. Am Lehrter Bahnhof ist die Verknüpfung der Fern-, Regional- und S-Bahn auf der Stadtbahn mit dem Nord-Süd-Verkehr vorgesehen. Geplant sind weiterhin Umsteigebeziehungen zur U-Bahn- Linie 5, die vom Alexanderplatz zum Lehrter Bahnhof und später bis zum U-Bahnhof Turmstraße (Verknüpfung mit der U-Bahn-Linie 9) verlängert werden soll.

Bestandteil des "Pilzkonzeptes" ist die Errichtung weiterer Fern- und Regionalbahnhöfe, und zwar Potsdamer Platz (nur Regionalbahn), Papestraße, Gesundbrunnen und Klosterstraße (Spandau). Als Fern- und Regionalbahnhof stehen auf der Stadtbahn neben dem Lehrter Bahnhof die Bahnhöfe Charlottenburg, Zoologischer Garten und Hauptbahnhof sowie ausschließlich für den Regionalverkehr Friedrichstraße und Alexanderplatz zur Verfügung.

Das "Pilzkonzept" (Nordring und Stadtbahn bilden den Hut, die Nord-Süd-Strecke den Stiel des Pilzes) ist wegen der zeitlichen Abhängigkeit zwischen der Fertigstellung der Tunnelbauwerke im Spreeebogen und der Bebauung für den Regierungs- und Parlamentsbereich entstanden. Der Bau des Nord-Süd-Tunnels wird dabei gegenüber der ursprünglichen Ausbaureihenfolge unter Zurückstellung des südlichen Berliner Innenringes zeitlich vorgezogen. Eine spätere Ergänzung dieser vorläufig zurückgestellten Ausbaumaßnahme zum ursprünglich geplanten Achsenkreuzmodell ist aber möglich, ohne daß verlorene Investitionen zu verzeichnen sind.

2.0 Bewertung der Modelle

Im folgenden soll dargestellt werden, daß das Achsenkreuzmodell (Variante "Pilzkonzept") entscheidende Vorteile gegenüber dem Ringmodell aufweist, und zwar sowohl aus Sicht der Bahnkunden als auch im Hinblick auf die Betriebsführung.

  • Das Achsenkreuzmodell (Variante "Pilzkonzept") ermöglicht sowohl in der Ost-West-Relation als auch in der Nord-Süd-Relation eine gute Erschließung des Innenstadtbereiches. Insbesondere die Lage des Lehrter Bahnhofs ermöglicht von praktisch allen Punkten der Innenstadt kurze Zugangszeiten. Dagegen wird beim Ringmodell der Innenstadtbereich mit seinem starken Fahrgastpotential nur tangiert.
  • Im Achsenkreuzmodell (Variante "Pilzkonzept") werden der Stadtbahn die Linien des Ost-West-Verkehrs und dem Nord-Süd-Tunnel die Linien des Nord-Süd-Verkehrs zugeordnet. Von besonderer Bedeutung ist weiterhin, daß mit dem Lehrter Bahnhof eine direkte Umsteigemöglichkeit zwischen praktisch allen Linien des Fern- und Regionalverkehrs ermöglicht wird. Entscheidend dabei ist die Zubringerfünktion der Regionalbahn zur Fernbahn einerseits, andererseits die Umsteigemöglichkeit zwischen den Regionalbahnlinien. Dieses System ist übersichtlich und gewährleistet den vielfach bahnentwöhnten Reisenden eine schnelle Orientierung, von welchen Bahnhöfen die Züge der gewünschten Relation verkehren. Bedingt durch die Netzverflechtung hat das Ringmodell diesbezüglich deutliche Nachteile.
  • Der Hauptvorteil des Ringmodells ist die mögliche dezentrale Verteilung der Reisendenströme. Aber durch die Fernbahnhalte in den Bahnhöfen Gesundbrunnen, Lehrter Bahnhof (unten) und Papestraße auf der Nord-Süd-Achse analog zur Ost-West-Achse mit den Bahnhöfen Charlottenburg, Zoologischer Garten, Lehrter Bahnhof (oben) und Hauptbahnhof wird beim "Pilzkonzept" ebenfalls eine dezentrale Verteilung der Reisendenströme möglich. Der Bahnhof Spandau kann dabei an beide Achsen angeschlossen werden.
  • Durch die gestreckte Linienführung wird zumindest in der Nord-Süd-Relation eine zügige Fahrt in das bzw. aus dem Stadtgebiet speziell für den Fernverkehr ermöglicht, was sich letztlich positiv auf die Fahrzeit auswirkt.
  • Bei Realisierung des Achsenkreuzmodells (Variante "Pilzkonzept") entstehen beim Bau der Nord-Süd-Strecke vergleichsweise geringe Betriebsbeeinträchtigungen. Bedingt durch die Verschwenkung der Stadtbahntrasse im Bereich Lehrter Bahnhof in südlicher Richtung können auch hier Sperrpausen gering gehalten werden. Dagegen müßten beim Ringmodell wichtige Netzteile unter laufendem Betrieb umgebaut oder erweitert werden; z.B. die Knoten Westkreuz, Ostkreuz und Tempelhof.
  • Die baulichen Voraussetzungen für die Erstellung des Nord-Süd-Tunnels sind, bedingt durch die Baufreiheit im Trassenbereich, ideal. Durch die beiden Logistik-Zentren im Bereich der Tunnel-Endpunkte wird eine umweltschonende und kostengünstige Materialzufuhr bzw. -abfuhr ermöglicht. Die Logistik-Zentren werden dabei voraussichtlich bis zum Jahr 2002 vorgehalten. Ein späterer Bau des Tunnels und eine Beschränkung auf die Trassenfreihaltung zum jetzigen Zeitpunkt hätte später wesentlich größere baulogistische Probleme und Umweltbelastungen als heute zur Folge.

3.0 Erforderliche Nachbesserungsmaßnahmen am "Pilzkonzept" aus Kundensicht

3.1 Anbindung des Lehrter Bahnhofs in Nord-Süd-Richtung durch die S-Bahn

S-bahnhof
Blick vom Lehrter Stadtbahnhof in Richtung Friedrichstraße. Die Stadtbahn mit den Fernbahn- und S-Bahn-Gleisen wird in diesem Bereich nach Süden (auf dem Bild rechts) verschwenkt. Foto: Chr. Schultz
Baustelle
Blick über das Lenne-Dreieck nach Norden, im Hintergrund das Hochhaus der Charite. Auf dieser Freifläche soll der Schildvortrieb für den Nord-Süd-Tunnel beginnen. Foto: Chr. Schultz

Um eine optimale Verkehrsanbindung aus Sicht des Fahrgastes am Lehrter Bahnhof sicherzustellen, ist die vom Senat aus finanziellen Gründen gestrichene S-Bahn-Linie 21 vom Bahnhof Potsdamer Platz bis zum Nordring unbedingt bei Erstellung der Tunnelanlagen für die Fern- und Regionalbahn mit zu errichten. Nur durch diese Anbindung wird gewährleistet, daß eine schnelle und bequeme Nord-Süd-Anbindung mit kurzen Taktzeiten für den Fahrgast innerhalb der Stadtgrenzen zur Verfügung gestellt wird. Diese Aufgabe kann von der Regionalbahn nicht erfüllt werden.

3.2 Verzicht auf die Verlängerung der U-Bahn-Linie 5

Die vom Senat favorisierte Verlängerung der U- Bahn-Linie 5 vom Alexanderplatz zum Lehrter Bahnhof und weiter nach Moabit halten wir aus verkehrlichen sowie aus finanziellen Gründen für nicht gerechtfertigt. Darüber hinaus füngiert die Stadtbahn als hervorragende Ost-West-Anbindung zur Erschließung des Lehrter Bahnhofs. Für die weitere Erschließung sollte stattdessen eine leistungsfähige Straßenbahntrasse als sogenannte, vom Berliner Fahrgastverband IGEB vorgeschlagene "Kanzlerlinie" errichtet werden. Der größte Vorteil für den Fahrgast bestünde darin, daß diese Linie bereits zur Inbetriebnahme des neuen Lehrter Bahnhofs zur Verfügung stehen könnte und erheblich kostengünstiger als die U5 zu bauen wäre. Aus heutiger Sicht ist bereits erkennbar, daß die Fertigstellung der U-Bahn-Linie 5 zur Inbetriebnahme des Lehrter Bahnhofs keinesfalls möglich ist und der Fahrgast wieder "auf der Strecke" bleiben wird.

3.3 Nutzung des Nord-Süd-Tunnels durch den Güterverkehr

Zur weiteren wirtschaftlichen Ausnutzung des Nord-Süd-Eisenbahntunnels ist aus unserer Sicht die Abwicklung des leichten Güterzugverkehrs in der verkehrsarmen Zeit ("Nachtsprung") zu ermöglichen, soweit es die Trassierungselemente (maximale Steigungen im Tunnel von 3%) erlauben. Der Vorteil dieser Maßnahme bestünde insbesondere darin, eine Beschleunigung des Nord-Süd-Verkehrs in größerem Umfang auch für den Güterverkehr zu erreichen. Aufgrund der weit fortgeschrittenen Planungen für das "Pilzkonzept" sind Bestrebungen von verschiedenen Umweltinitiativen - auch eisenbahnfreundlichen, im Rahmen des gegenwärtig laufenden Planfeststellungsverfahrens den neuen Nord-Süd-Fern- und Regionalbahntunnel zu "kippen", als problematisch zu bewerten, da die Aufgabe dieses Projektes eine deutliche Attraktivitätssteigerung der Eisenbahninfrastruktur aufgrund der langen Planungsvorlaufzeit erheblich verzögern würde.

In der Folge dürfte die Realisierung weiterer Lückenschlüsse ebenfalls verzögert werden. Diese Tatsache ist besonders brisant, weil die Straßeninfrastruktur im Großraum Berlin kontinuierlich ausgebaut wird und der Qualitätsunterschied in der Infrastruktur beider Verkehrsträger sich immer stärker zu Lasten der Bahn entwickelt.

Arbeitskreis Fernverkehr
PRO BAHN und IGEB

aus SIGNAL 7/1994 (September 1994), Seite 17-18

 

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