Schon 1991, als die noch junge Landesregierung Brandenburgs begann, ein
raumordnerisches Leitbild für das größte ostdeutsche Bundesland aufzustellen,
war ein zukünftiges Problem deutlich erkennbar: Der gesamten Region zwischen
Berlin und der nordwestlichen Landesgrenze fehlt es an geeigneten Mittel- oder
gar Oberzentren, die als Katalysator für die regionale Entwicklung und
Standortalternative zur Bundeshauptstadt Berlin auftreten können. Die
Ferneisenbahnen, die Hamburger und die Nordbahn, verliefen am südlichen und
östlichen Rand, und erst spät entstand ein Klein- und Privatbahnnetz, vor allem durch die Ruppiner Eisenbahn AG (Paulinenaue - Neuruppin, Kremmen - Meyenburg, Neustadt/Dosse - Löwenberg)
und die Prignitzer Eisenbahn AG (Wittenberge - Wittstock - Buschhof).
So kam es, daß der Landesentwicklungsplan des Landes Brandenburg die Stadt
Neuruppin als "Mittelzentrum mit Teilfunktionen eines Oberzentrums" einstufte
und daß das neue Bahnkonzept des Landes Brandenburg, seit 1994 als "Zielnetz
2000" bestätigt, dieser Vorgabe mit einer visionären Planung entsprach. Die
bisherige Nebenbahn von Pritzwalk über Wittstock und Neuruppin nach Kremmen
sollte durch die zu schließende Schienenlücke auf der Kremmener Bahn nach
Berlin geführt und bis Ende des Jahrzehnts zu einer schnellen Regional
Express-Strecke ausgebaut werden. Erste euphorische Planungen sahen eine
Höchstgeschwindigkeit von 160 km/h und eine Elektrifizierung zwischen
Neuruppin und Berlin vor. Die Züge der neuen RE 4 sollten im Stundentakt
von Pritzwalk kommend und ab Neuruppin zu einem Halbstundentakt verdichtet
durch den Berliner Tiergartentunnel und dann in den Süden Brandenburgs eilen.
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Idyllische Kleinbahnatmosphäre im Bf Neuruppin. Mit dem Prignitz Express soll für die Stadt ein neues Bahnzeitalter anbrechen. Foto: Marc Heller |
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Erst die Ergebnisse des Streckenkonzeptes hinsichtlich des notwendigen
Investitionsbedarfes ließ die Köpfe kühler denken. Allein mit 540 Mio DM
sollte der Abschnitt Berlin - Neuruppin zu Buche schlagen. Der Bund machte
finanzielle Beteiligungen grundsätzlich vom Ausgang eines standardisierten
Bewertungsverfahrens abhängig, das wohl kaum einen solchen Quantensprung
erlaubte. Auch der Vorschlag, die Bahninvestition mit den Verkaufserlösen
für die umfangreichen Konversionsflächen in und um Neuruppin zu begleichen,
entlockte demjenigen, der den Zustand dieser Flächen und der dort stehenden
Gebäude kannte, höchstens ein müdes Lächeln. Zusätzlich sorgte die verbissene
Diskussion um die Art der Elektrifizierung und den Parallelverkehr zur
S-Bahn auf der Kremmener Bahn innerhalb der DB AG und zwischen den
Landesregierungen Berlins und Brandenburgs für ein jahrelanges Hinauszögern
der Entscheidung für den in jedem Fall notwendigen Lückenschluß.
Als Folge der Rat- und Entscheidungslosigkeit geschah nach Verkündung der
Planungen zunächst fast gar nichts. Erst als sich die Kommunen entlang der
Bahn durch die falschen Versprechen getäuscht sahen, nahmen sie das Heft in
die Hand und gründeten im Frühjahr 1995 den "Initiativkreis
Nord-West-Brandenburg". um sich gegenüber den Landkreisen und der
Landesregierung Gehör zu verschaffen. Parallel dazu entwickelte die
Berliner Beratungsfirma ETC ein Rahmenkonzept für eine direkte
Schienenanbindung der Prignitz an Berlin. Bisherige Planungen wurden damit
hinfällig (offiziell: "ergänzt"). Das Projekt hieß jetzt wohlklingend
"Prignitz-Express" und ist als RegionalExpress 6 in den SPNV-Plan des Landes
eingestellt worden.
Die Streckenführung reicht im Gegensatz zum RE 4 nunmehr von Berlin bis
Wittenberge. Damit ist die wichtige Bahnverbindung zwischen Pritzwalk und
Perleberg - im Zielnetz 2000 fehlend und vom Bahnkunden-Verband kritisiert -
wieder in den offiziellen Planungen enthalten. Auch die bisherige Stichlinie
der RE 2 von Wittenberge nach Perleberg geht im "Prignitz-Express" auf. Das
Konzept sieht den Ausbau der gesamten Strecke auf 120 km/h und ohne
Elektrifizierung vor. Von Hennigsdorf bis Wittenberge sind immerhin noch
Investitionen von 279 Mio DM veranschlagt. Die Finanzierung ist weiterhin
nicht geklärt. Lediglich 39 Mio DM stellt der Bund bis 1998 aus dem Fond für
den Nachholbedarf beim Bahnausbau in den neuen Bundesländern (§ 22 Deutsche
Bahn Gründungsgesetz) bereit, um den Abschnitt Velten - Neuruppin als
sogenannte Musterstrecke zu sanieren. Das Geld ist so knapp, daß dafür sogar
Mittel vom schon vereinbarten Streckenausbau von Angermünde nach Schwedt
verbraucht werden.
Bereits zum 17.12.1995 erfolgte die Einstellung des Schienenverkehres und die
Einrichtung des RE-Busses vom Bahnhof Berlin Zoologischer Garten über den
S-Bahnhof Tegel nach Neuruppin. Diesen Bus benutzen nach DB-Angaben ca.
400 Fahrgäste täglich. Aufgrund der regulären Fahrzeit von 75 Minuten und
dem Komfort der BEX-Reisebusse wurden frühzeitig Stimmen
laut, auf den Bahnausbau ganz verzichten zu können. Doch die Staugefahr auf
der Autobahn und im Berliner Stadtgebiet sowie die fehlende Verbindung
zwischen Neuruppin und der Region Kremmen/Velten/Hennigsdorf sprechen
eindeutig für die Bahn. Außerdem können sich Land und DB AG keinen weiteren
Rückzieher gegenüber den Kommunen und Bürgern leisten.
Die Bauarbeiten zwischen Velten und Neuruppin sollen nun in diesem Herbst
beginnen, ein nach DB-Vorstellungen "idealisierter Inbetriebnahmetermin" -
was auch immer dies heißen mag - ist für September 1998 vorgesehen. Dieses
Datum ist recht vage, da betont wird, daß die Eröffnung nur mit der
gleichzeitigen Verlängerung der S-Bahn nach Hennigsdorf sinnvoll ist.
Dort rechnet man inzwischen frühestens Ende 1998 mit den ersten Zügen.
Der Baubeginn auf den übrigen Abschnitten von Neuruppin bis Wittenberge hängt
ausschließlich von weiteren Mittelfreigaben durch den Bund sowie von
zusätzlichen Landesmitteln ab, vor allem aus dem Regionalisierungstopf.
Es ist allerdings abzusehen, daß die geplanten Gesamlinvestitionen kaum
zu finanzieren sind, vielmehr sind am Ausbaustandard weilere Abstriche zu
machen. Dabei ist eine Anhebung der Streckengeschwindigkeit zwischen
Wittenberge und Wittstock von 50 auf 80 km/h schon heute keine Frage der
Kosten, sondern der Betriebsvorschriften. Aufgrund der früheren strategischen
Bedeutung der Strecke läßt der Oberbau höhere Geschwindigkeiten zu. Auch
die Bahnübergänge sind an den entscheidenden Stellen gesichert.
Unklar ist weiterhin die Einbindung des "Prignitz-Express" nach Berlin.
Technisch sollte der zuerst vorgesehen Mischbetrieb von S-Bahn und
dieselbetriebenen Regionalzügen zwischen Hennigsdorf und Schönholz kein
Problem darstellen, zumal der Lückenschluß nach Hennigsdorf nun doch
zweigleisig erfolgen soll.
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Der Prignitz-Express soll den abseits aller großen Fernbahnstrecken liegenden Nordwestraum Brandenburgs mit schnellen Zügen erschließen. Zeichnung: punkt 3, August 1996 |
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Als Endpunkt für den "Prignitz-Express" bot sich natürlich der innerstädtische
Fembahnhof Berlin-Gesundbrunnen an. Hindernis ist auch diesmal die
Finanzierung: Der Bund hat die genehmigten Mittel von rund 400 Mio DM nur für
den S-Bahn-Ausbau bereitgestellt, um sich damit dem Netz und Verkehrsangebot
von 1961 anzunähern. Ein paralleler Regionalverkehr bestand damals nicht.
Sollte dieser kommen, müßte der Bund für diesen nach einer besonderen Klausel
im Regionalisierungsgesetz auch die Betriebskosten den Ländern zur Verfügung
stellen. Die Position des Bundes machte sich nun auch das Land Berlin zueigen,
um die S-Bahn-Finanzierung nicht zu gefährden und den ungeliebten
Regionalverkehr abzuwehren.
Damit geschieht genau das, was die Väter des früheren RE4 und des heutigen
"Prignitz-Express" vermeiden wollen: Kurz vor der Stadtgrenze muß vom
schnellen RegionalExpress auf die S-Bahn umgestiegen werden. Dem teuren
Streckenausbau steht ein eher unattraktiver, weil dessen Vorteile nicht
ausschöpfender Regionalverkehr gegenüber. Jede alternative Führung nach
Berlin - mit Kopfmachen in Hennigsdorf und dann über Berlin-Spandau oder
den nördlichen Außenring - ist sowohl von der Fahrzeit als auch der
Qualität der Anbindung ungünstiger.
Der vor fünf Jahren aufgestiegene Adler ist nunmehr als Taube gelandet. Die
ursprüngliche Vision, vom Lehrter Bahnhof in 50 Minuten die Stadt Neuruppin
als noblen Vorort Berlins per Bahn zu erreichen und die Prignitz schnell und
direkt Berlin nahezubringen, ist einem kleinlichen Streit um frühere Zusagen,
Paragraphen und Kompetenzen gewichen. Die hochgeflogenen Pläne sind tief
gefallen.
Trotzdem - das Projekt ist heute wichtiger denn je. Es darf weder zerredet
noch geschönt dargestellt werden. Auch wenn sich die Ausbaustufen zeitlich
strecken und um jede zugesagte Million gekämpft werden muß - das Ziel der
Anbindung einer dann chancenreichen Region darf nicht aus den Augen
verloren werden.
Deutscher Bahnkunden-Verband
Landesverband Brandenburg
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