Gäbe es im Guinness-Buch der Rekorde eine Rubrik für geplatzte
Eröffnungstermine von Bahnstrecken, die Kremmener Bahn hätte beste Aussichten
auf einen Eintrag. Die Liste der "Luftnummern" ist lang. Schon im April 1991
befürwortete der Staatssekretär in der Verkehrsverwaltung, Ingo Schmitt (CDU),
die rasche Wiederinbetriebnahme des Abschnitts Schönholz - Tegel und versprach
sie Anfang 1992 konkret zum Jahresende. Dann war von Frühjahr und Herbst 1994
die Rede, tatsächlich fuhren hier erst ab 28. Mai 1995 wieder planmäßig
S-Bahn-Züge. Zu diesem Zeitpunkt zeichnete sich für das Teilstück bis
Hennigsdorf nur äußerst vage eine Wiederinbetriebnahme für das Jahr 1998 ab.
Dabei gab es auch für den Lückenschluß ins Umland zuvor schon mehrere Termine,
die sich allesamt als leere Versprechungen herausgestellt hatten.
Erinnert sei an den leidigen Expertenstreit
"Gleichstrom contra Wechselstrom" oder "S-Bahn contra Regionalbahn". Weil
hochfliegende Pläne einer von der Landesentwicklungsgesellschaft Brandenburg
und der Deutschen Bahn AG gebildeten Projektgruppe zunächst einen elektrisch
betriebenen, 160 km/h schnellen RegionalExpress zwischen Berlin und Neuruppin
vorsahen, wollte die DB AG die Strecke bis Hennigsdorf gar nicht erst wieder
für die S-Bahn herrichten. Die S 25 Schönholz - Tegel wurde zwar auf
politischen Druck hin realisiert, erhielt als Provisorium aber nur eine
fünfjährige Betriebserlaubnis - mit der Option, die Stromschiene wieder
abzubauen und stattdessen eine (Wechselstrom-)Oberleitung zu spannen.
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Endlich! Mehr als ein Jahr nach dem Haaseschen Wahlkampf-Spatenstich haben die Bauarbeiten zur Wiederinbetriebnahme der Kremmener Bahn im Oktober 1996 tatsächlich begonnen. Foto: Marc Heller |
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Als Interimslösung für den Abschnitt zwischen Tegel und Hennigsdorf stand
1993/94 noch die sogenannte Duo-S-Bahn zur Debatte. Mit zusätzlichem
Dieselantrieb ausgerüstete Gleichstromzüge
sollten auf der mit einfachsten Mitteln wieder aufzubauenden, vorerst nicht
zu elektrifizierenden Strecke verkehren. Doch der mit viel Vorschußlorbeeren
bedachte Prototyp bewährte sich nicht. Die DB AG bzw. die S-Bahn Berlin GmbH
schoben das vom AEG-Werk Hennigsdorf auf eigene Rechnung gebaute
"Zwitterfahrzeug" rasch wieder aufs Abstellgleis, ein wohl durchaus noch
entwicklungsfähiges Konzept landete in der Schublade.
Mitte 1994 schien der Systemstreit, jedenfalls was die Kremmener Bahn
betrifft, überraschenderweise ausgestanden. Eine von der Berliner
Verkehrs-Consulting GmbH (BVC) erarbeitete Studie favorisierte klar den
Wiederaufbau der S-Bahn bis Hennigsdorf. Den 20-Minuten-Takt unterstellt
prognostizierten ihr die Gutachter ein weit höheres Fahrgastaufkommen als den
Regionalzügen. Daraufhin einigten sich die DB AG sowie die Länder Berlin und
Brandenburg auf die Reaktivierung als Gleichstromstrecke. Trotzdem brachte
eine von Geschäftsleuten, Gewerbetreibenden und Bauherren im Raum Velten
gebildete Interessengruppe abermals die Wechselstrom-Variante ins Spiel.
Der erneuten Verunsicherung bereitete dann der unbeirrt pro S-Bahn
votierende Abschlußbericht der BVC 1995 ein Ende.
"Erster Spatenstich" - eine Wahlkampflüge
Zwei Monate vor den Abgeordnetenhauswahlen setzte der damalige Verkehrssenator
Herwig Haase am 14. August 1995 medienwirksam den ersten Spatenstich für den
Wiederaufbau. Er sprang damit freilich nur auf einen Zug, den die
Planungsgesellschaft Bahnbau Deutsche Einheit (PBDE) ins Rollen gebracht
hatte. Mit freigewordenen Arbeitskapazitäten wollte diese nun das
S-Bahn-Projekt voranbringen. Einträchtig avisierten die Regierungen von Berlin
und Brandenburg, PBDE, DB AG und S-Bahn GmbH die Wiederinbetriebnahme des
Teilstücks Tegel - Heiligensee bereits für Mai 1996, die der Reststrecke bis
Hennigsdorf für Dezember desselben Jahres. Welch sensationelle Wende nach
langem Eiertanz!
Doch nach dem spektakulären Spatenstich geschah erstmal so gut wie nichts
mehr. Angeblich blockierte jetzt das Eisenbahn-Bundesamt (EBA) die nach dem
Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz (GVFG) beantragten Investitionsmittel.
Ganz als ob der Senat alle seine Hausaufgaben stets zügig erledigt hätte und
beim verlogenen Spatenstich Opfer, nicht Täter war, versuchte Staatssekretär
Ingo Schmitt im Landespressedienst vom 13. Dezember 1995 scheinheilig, den
Bonner Bürokraten den "schwarzen Peter" zuzuschieben. Gegen den
Blockadevorwurf verwahrte sich das EBA unter anderem mit dem Hinweis auf
unvollständige Planungsunterlagen. Auch zeigte sich, daß die DB AG den
Finanzierungsantrag erst im Oktober, also nach den vollmundigen Ankündigungen,
beim EBA eingereicht hatte. Mit schon allein deshalb absurd kurfristigen
Terminzusagen wurden die Bürger aus wahltaktischen Gründen schlicht
verschaukelt.
Oktober 1996: der (Rück-)Bau beginnt
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Kremmener Bahn, Blick Richtung Hennigsdorf. Das Foto zeigt den unterbrochenen Bahndamm im Bereich des ehemaligen Mauerstreifens. Foto: Marc Heller (3/97) |
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Im März 1996 gab das Bundesverkehrsministerium endlich grünes Licht für das
Projekt und Unterzeichnete mit der DB AG eine entsprechende
Finanzierungsvereinbarung. Die Bautrupps rückten trotzdem nicht an. Noch
fehlten bauaufsichtliche Genehmigungen, vor allem für den Abriß marode
gewordener Brücken. Auch am Jahrestag der Wahlkampflüge war entlang der
Trasse kaum etwas von Bauarbeiten zu sehen. Seltsamerweise ließ
Verkehrssenator Jürgen Klemann die Gelegenheit aus, wenigstens jetzt - als
IGEB, Bündnis 90/Grüne und die Reinickendorfer SPD an das traurige Jubiläum
erinnerten - den sich nun abzeichnenden Baubeginn konkret anzukündigen. Oder
hielt er sich ganz bewußt zurück, um an einem weniger verfänglichen Termin
glaubwürdiger zu erscheinen? Erst einige Tage später kündigte Klemann
bauvorbereitende Maßnahmen verbindlich ab 21. Oktober 1996 an.
Alle Fäden laufen inzwischen bei der "DB Projekt Knoten Berlin GmbH" zusammen,
die ihrerseits die PBDE mit Planung und Bauleitung beauftragt hat. Im
Abschnitt Tegel - Heiligensee haben die ausführenden Firmen Ende Oktober mit
Rodungsarbeiten, dem Gleisabbau und Brückenabriß begonnen. Mittlerweile sind
Schienen, Schwellen und Stromschienen fastauf gesamter Streckenlänge
beseitigt. Rückbau heißt das in der Eisenbahnersprache. Komplett abgebrochen
ist die Brücke über die Hennigsdorfer Straße, andernorts sind die Überbauten
entfernt, die Widerlager teilweise noch belassen. Derzeit wird der Schotter
abgetragen und zum Waschen dem Siebwerk zugeführt.
Die Baumaßnahmen im Überblick
Einem Faltblatt der PBDE ist zu entnehmen, was an der Strecke im einzelnen
geplant ist. Wir geben den Inhalt, in einigen Punkten jedoch unsererseits
um Anmerkungen ergänzt, hier sinngemäß wieder.
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Erste Arbeiten am S-Bf Schulzendorf (bei Tegel). Foto: Marc Heller (3/97) |
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Bahndamm und Gleise: Zur Sicherung der Tragfähigkeit wird auf der Dammkrone
eine 80 Zentimeter starke, verunreinigte und von Wurzeln durchsetzte
Erdschicht ausgetauscht. Parallel zum westlich des Hermsdorfer Dammes von der
Feinstraße nach Hamburg genutzten alten Streckenstück verläuft die Trasse etwa
1.200 Meter weit künftig auf einem schon in den dreißiger Jahren für
Gütergleise aufgeschütteten Bahndamm. Der im ehemaligen Grenzstreifen
abgetragene Damm entsteht auf 300 Metern Länge neu.
Die Gleise werden mit Betonschwellen im Schotterbett verlegt. Nur 1,6 von
insgesamt 8,5 Streckenkilometern sowie die Bahnhöfe Schulzendorf und
Heiligensee erhalten vorerst zwei Gleise, ansonsten wird der zweigleisige
Ausbau lediglich vorbereitet.
Bahnhöfe: Die Stationen Schulzendorf, Heiligensee und Hennigsdorf werden
grundsaniert, wobei die Bahnsteigdächer und Gebäude in Schulzendorf sowie
Heiligensee denkmalgerecht wieder herzustellen sind. Freigelegt und gegen
Feuchtigkeit isoliert werden die Zugangstunnel. Alle Stationen einschließlich
Tegel erhalten behindertengerechte Aufzüge, Videoanlagen zur Zugabfertigung,
Informations- und Notrufsäulen. In Hennigsdorf wird der Bahnsteig Richtung
Süden verlängert.
Brücken: Acht zwischen Tegel und Hennigsdorf vorhandene Brückenüberbauten
werden abgetragen und erneuert. Einschließlich der Stützmauern völlig neu
entsteht die Brücke über den Forstweg am Hermsdorfer Damm, hier gibt es in
Zukunft auch eine Lärmschutzwand. In Hennigsdorf wird die S-Bahn die Havel
auf einer für zwei Gleise vorbereiteten, neuen Stabbogenbrücke überqueren.
Deren Spannweite berücksichtigt den Ausbau der Oder-Havel-Wasserstraße.
Daß Für die Havelbrücke noch nicht einmal das Planfeststellungsverfahren
eingeleitet ist, verschweigt das Faltblatt wohlweislich. Bis vor kurzem kam
hier auch ein eingleisiges Provisorium mit der ursprünglichen
Durchfahrtsbreite in Betracht. Nun sind hier Vorleistungen Für ein ökonomisch
wie ökologisch fragwürdiges Wasserstraßenprojekt (den Ausbau der Havel Für
Europaschiffe der 2000-Tonnen-Klasse bzw. für Schubverbände bis 3500 Tonnen)
zu erbringen. Die daraus resultierenden Vorgaben müssen nun unter großem
Zeitdruck in die Pläne eingearbeitet werden.
Bahnübergang Gorkistraße: Eine neue Schrankenanlage - verbunden mit einer
neuen Ampel an der Kreuzung Gorki-/Buddestraße - wird den Bahnübergang
sichern. So weit, so knapp im Faltblatt der Planungsgesellschaft. Was diese
Lösung für die Tegeler bedeutet, erläuterten PBDE-Mitarbeiter Thomas Schubert
und Henry Hasselbach im Februar den Reinickendorfer Bezirksverordneten: Im
20-Minuten-Rhythmus bleiben die Schranken jeweils für vier bis fünf
Minuten geschlossen, und die Ampeln sind auf rot geschaltet. Was eine Brücke
plus der dafür notwendigen Trassierung kostet, hat die Bahn Hasselbach zufolge
nicht untersucht, denn "bestellt ist die Wiederherstellung der S-Bahn auf
dem Stand von 1961".
Die von örtlichen Bürgerinitiativen und vom Bezirk Reinickendorf gewünschte
Höherlegung des Bahndamms scheiterte an der ungelösten Kostenfrage (allein
die Brücke erfordert schätzungsweise 30 Millionen DM). Den Vorschlag aus der
Berliner Verkehrsverwaltung, unterstützt von PBDE und BVG, die Gorkistraße für
den Durchgangsverkehr mit Ausnahme von Bussen, Taxis und Fahrrädern zu
schließen, lehnte das Reinickendorfer Bezirksamt ab. Es begründete seine
Haltung damit, daß dann Waidmannsluster Damm und Ziekowstraße hoffnungslos
überlastet würden. Ohne dies an dieser Stelle näher auszuführen, bleibt
festzuhalten, daß durch die unnachgiebige Haltung des Bezirkes die Baukosten
für die Übergangssicherung höher ausfallen werden und eine Begrenzung der
Schließzeiten auf ein Minimum verhindert wurde. Leidtragende sind die BVG und
ihre Busfahrgäste, da die Fahrplaneinhaltung bei den Linien 120, 124,125
und 222 erheblich erschwert wird und kostenträchtige zusätzliche
Fahrzeugumläufe kaum zu vermeiden sein dürften.
Stromversorgung: Zwischen Tegel und Heiligensee werden zwei 30-kV-Kabel
verlegt. Der Stromschienenspeisung dienen das erweiterte Unterwerk Tegel
und ein neues Unterwerk in Heiligensee.
Kosten- und Zeitrahmen
Der mit 355 Millionen DM veranschlagte Wiederaufbau der S-Bahn-Strecke wird
vom Bund im Rahmen des Lückenschlußprogramms bezahlt und als Teil eines vom
Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz (GVFG) abgedeckten Maßnahmenkatalogs
betrachtet. Verbesserungen für den Fahrgast, etwa den Einbau von Aufzügen und
Fahrtreppen, müssen aber die Länder Berlin bzw. Brandenburg zahlen.
Zusätzliche Stationen oder Bahnhofsverlegungen finanziert der Bund jetzt
ebenfalls nicht. So bleibt im Bereich Heiligensee ein lagegünstigerer Bahnhof
"Am Dachsbau" ebenso Zukunftsmusik wie eine vom Land Berlin gewünschte neue
Station "Borsigwalde" an der Holzhäuser Straße.
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Foto: Marc Heller (3/97) |
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Ende 1998 soll der Verkehr zwischen Tegel und Hennigsdorf im 20-Minuten-Takt
aufgenommen werden, eine Zwischenetappe bis Heiligensee ist nicht mehr
geplant. Wann die gesamte Strecke von Schönholz bis Hennigsdorf ihren
baulichen Endzustand erreicht, steht in den Sternen. Den Begriff
"zweigleisiger Endausbau" hat die PBDE
übrigens in Bezug auf die Gesamtstrecke vermieden. Vielleicht fährt ja
parallel zur S-Bahn auf einem dritten Gleis (?) irgendwann einmal doch der
Prignitz-Express aus der Berliner Innenstadt bis nach Neuruppin. In den
nächsten Monaten müssen sich die Bauleute jedenfalls gewaltig sputen, um
wenigstens das jetzt gesteckte Ziel zu erreichen. Bauleiter Thomas Schubert
von der PBDE mußte im Februar bereits Verzögerungen einräumen, den
Wiederinbetriebnahmetermin will er dennoch halten und gibt sich optimistisch:
"Zu Weihnachten 1998 fährt die S-Bahn nach Hennigsdorf".
Diese Zuversicht würden wir gerne teilen. Allein der Glaube an Terminzusagen
beim Bahnbau in und rund um Berlin ist uns fast so abhanden gekommen wie der
Glaube an den Weihnachtsmann. Skeptisch stimmt obendrein, daß dem
Eisenbahn-Bundesamt auch heute noch nicht alle Planungsunterlagen vorliegen.
Übrigens hatte der frühere PBDE-Chef Siegfried Mängel bereits die S-Bahn zum
Nikolaustag 1996 versprochen. Hoffentlich behält der jetzt speziell für die
Kremmener Bahn zuständige Bauleiter eher recht.
IGEB
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