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Berlin gewanderte Ausstellung über die "Renaissance der Bahnhöfe" werde im
"Dresdener Bahnhof" stattfinden, erklärte die Deutsche Bahn AG im Frühjahr
vollmundig. Und da Journalisten - zumal in Berlin - im allgemeinen wenig
Ahnung haben, alles unreflektiert nachplappern, was man ihnen vorsetzt, und
eifrig voneinander abschreiben, geistert der "Dresdener Bahnhof" an der
Luckenwalder Straße seither durch die Medien und wird immer wieder als
Schauplatz verschiedenster Veranstaltungen genannt.
So gab die Bahn mit ihrer vermeintlichen Entdeckung nicht nur ein Beispiel
dafür, wie man Fehlinformationen über die Stadtgeschichte in die Welt setzt,
die schnell nicht mehr aus selbiger zu schaffen sind; sie gab auch jenen
recht, die die angebliche "Renaissance der Bahnhöfe" nur für eine gewandelte
Form der Verschandelung und Zerstörung der historischen Bausubstanz halten,
denn offenkundig kennt sich die DB AG nicht mit
der Historie ihrer Gebäude aus: Den Dresdener Bahnhof gibt es seit mehr
als 110 Jahren nicht mehr.
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Der provisorische Dresdener Bahnhof in Berlin. Zeichnungen aus: Berliner Verkehrsblätter, Heft 6-7/1975, Seite 107 |
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Nie von diesem Bahnhof gehört zu haben, stellt keine Bildungslücke dar, denn
er existierte nur kurz und in provisorischer Form. 1872 waren nach langem Hin
und Her von Preußen und Sachsen die Konzessionen zum Bau einer
Direktverbindung zwischen ihren Hauptstädten erteilt worden. "Ausschlaggebend
für die Entscheidung war die Möglichkeit, das Monopol der Berlin-Anhaltischen
Eisenbahn im Verkehr zwischen Berlin und Dresden zu brechen. Ferner hatte die
Eisenbahn in dem gerade beendeten Krieg gegen Frankreich ihre außerordentliche
militärische Wichtigkeit bewiesen, so daß eine gesonderte Strecke in Richtung
Dresden ohne Mitbenutzung der bereits stärker belasteten Anhalter und
Görlitzer Bahn auch aus dieser Sicht vorteilhaft erschien", schreibt
Peter Bley in den "Berliner Verkehrsblättern" Nr. 6-7/1975. Freilich wurde
laut "Berlin und seine Bauten" (Berlin 1877) mit der 174,3 Kilometer langen
Strecke über Dobrilugk (heute Doberlug) nur eine Abkürzung von 15,6
Kilometern gegenüber der bisherigen Verbindung erreicht. Hinzu kam, daß sich
die Berlin-Dresdener Eisenbahn im Gefolge des Gründerkrachs von 1873
rasch zu einem "Alptraum ihrer Aktionäre" (Bley) entwickelte.
"Erhebliche Schwierigkeiten" (Bley) habe es auch bei der Suche nach einem
Bahnhofsgelände in Berlin gegeben. Ins Auge gefaßt wurden Standorte am
Halleschen Tor, am Wassertorplatz und östlich des Urbanhafens; schließlich
erwarb man vom Militärfiskus - im Rahmen der Vereinbarung über den parallelen
Bau der Militärbahn - das Gelände an der Luckenwalder Straße. Die Arbeiten
für die Station wurden laut Bley im Mai 1873 begonnen. Nachdem schon die
Strecke nur "in einfachster Weise erbaut" wurde ("Berlin und seine Bauten",
Berlin 1896), entstand angesichts der leeren Kassen nur ein provisorischer
Personenbahnhof - wie auch am anderen Ende der Strecke in
Dresden-Friedrichstadt. In dem 1984 erschienenen Band "Fernverkehr" der
jüngsten Ausgabe von "Berlin und seine Bauten" ist er wie folgt beschrieben:
"Dreigleisiger Kopfbahnhof mit zwei Seitenbahnsteigen (das 3. Gleis ohne
eigenen Bahnsteig); seitlich (Westseite) angeordnetes ... Empfangsgebäude:
langgestreckter eingesch. Holzfachwerkbau über massivem Sockel, gereihte
hochrechteckige Fenster, Satteldach; Mittelrisalit mit drei Portalen,
flacher Giebel und Uhrtürmchen; zwei 2-gesch. Seitenrisalite mit
flachem Giebel."
Wie Bley schreibt, sei "in unmittelbarer Nähe ... bereits der provisorische
Personenbahnhof der Berlin-Anhaltischen Eisenbahn vorgesehen [gewesen], der
anläßlich des vollständigen Neubaues des Anhalter Bahnhofs dessen Verkehr
übernehmen sollte (Inbetriebnahme des provisorischen Bahnhofs am 9. November
1874). ... In seiner äußeren Gestaltung paßte sich das ausgeführte
Empfangsgebäude der Berlin-Dresdener Eisenbahn dem des provisorischen
Bahnhofs der Berlin-Anhaltischen Eisenbahn an, allerdings war der
provisorische Anhalter Bahnhof größer." Wohl auf Grund einer Verwechslung
dieser beiden Anlagen nennt Alfred Gottwaldt in seinem Buch "Berliner
Fernbahnhöfe" (Düsseldorf 1982) als
Eröffnungstermin des Dresdener Bahnhofs den November 1874 und behauptet,
dieser habe als Ausweichstation während des Neubaus am Askanischen Platz
gedient. Andernorts wird nämlich durchweg die Inbetriebnahme der Dresdener
Bahn samt ihres Berliner "Kopfs" erst auf den 17. Juni 1875 datiert.
Daß "Berlin und seine Bauten" von 1984 den 17. Juli nennt,
dürfte ein Druckfehler sein.
In der 1896er Ausgabe dieser Schrift ist zu lesen, daß schon 1876
Verhandlungen mit dem preußischen Staat zwecks Übernahme der Dresdener Bahn
stattgefunden hätten, am 5. Februar 1877 sei dann vereinbart worden, daß
deren Verwaltung und Betrieb ab 1. Oktober jenes Jahres von der finanziell
kränkelnden AG "auf ewige Zeiten" an den Staat übergingen. Für fast ein
Jahr diente der Dresdener Bahnhof 1879/80 als Endpunkt der neuen Wetzlarer
Bahn. Doch nachdem die Anhalter Bahn 1882 ebenfalls verstaatlicht worden
war, lag es praktisch auf der Hand, den "Personen-, Gepäck- und Eilgutverkehr"
(Bley) der Dresdener Bahn in den neuen Anhalter Bahnhof zu leiten, jenen
legendären Stationspalast, an dessen Stelle, anders als noch beim Abriß
in den fünfziger Jahren verkündet, die Bahn eben keinen Nachfolgebau
setzen will - so viel zur "Renaissance" der großen Bahnhöfe.
Ein geplanter "richtiger" Dresdener Bahnhof mit fünf Gleisen entstand
folglich nicht. Das westlich des dafür reservierten Areals gelegene
Provisorium wurde laut Bley mit dem Fahrplanwechsel am 15. Oktober 1882
geschlossen: "Die provisorischen Bauten für den Personenverkehr
wurden verkauft und bis Anfang 1884 abgetragen; das Gelände fand
für Lagerplätze mit Gleisanschluß Verwendung."
Rund dreißig Jahre später wurde dann auf dem Areal des Dresdener Bahnhofs
der bis vor kurzem betriebene Postbahnhof errichtet, dessen Zukunft unklar
ist und der jetzt sporadisch Ausstellungen und anderen Veranstaltungen
dient. Zwar könnte man die Bezeichnung "Dresdener Bahnhof einfach auf
ihn übertragen, wie es jetzt geschehen ist. Aber das ist in etwa so,
als würde man das Staatsratsgebäude als Stadtschloß bezeichnen,
weil es ja einem ähnlichen Zweck diente und ganz in der Nähe des
historischen Namengebers liegt.
Jan Gympel
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