 |
Noch einmal stand die Kastanienallee in
den Schlagzeilen, nachdem deren Umbau
anfangs für großen Widerstand sorgte,
dann aber recht geräuscharm über die
Bühne ging. Bürgersteige wurden saniert,
Parkbuchten angelegt und ein Radweg
markiert, der Radfahrer sicher neben dem
Straßenbahngleis fahren lässt. Das schaffte
zwangsläufig einen neuen Konfliktpunkt in
den Haltestellenbereichen, denn dort wird
der Radweg, wie von der IGEB befürwortet,
vorne über das Haltestellenkap geführt. Genau
dort setzte der Rechtsstreit an, der am
29. September 2014 vor der 11. Kammer des
Berliner Verwaltungsgerichts verhandelt
wurde.
Die Verkehrslenkung Berlin (VLB) hatte
im Bereich der Kaphaltestellen eine Benutzungspflicht
für den Radweg angeordnet,
obwohl dieser nicht die vorgeschriebene
Mindestbreite von 1,5 Metern aufweist. Begründet
wurde dies mit einer besonderen
Gefahrenlage durch den Straßenbahnverkehr.
Beim Halt einer Straßenbahn müsse
ein Radfahrer, der nicht über das Kap fahren
wolle, zum Überholen auf den Fahrstreifen
der Gegenrichtung ausweichen und dabei
mehrere Schienen spitzwinklig überfahren,
was die Sturzgefahr erhöhe und eine Unfallgefahr
mit dem Gegenverkehr birgt. Dabei
sei ein solcher Überholvorgang gar nicht
legal, während auf dem Kap mit Schrittgeschwindigkeit
an der Bahn vorbeigefahren
werden dürfe.
Das Gericht wollte dieser Begründung
nicht folgen und sah keine besonderen örtlichen
Verhältnisse, die eine solche Anordnung
rechtfertigen. Vielmehr kann die bauliche
Gestaltung eine Gefahr durch plötzlich
auf den Radweg tretende Personen begründen,
wodurch kein schnelles Befahren des
Kaps möglich ist. In dem Fall bietet die Nutzung
des Fahrstreifens unter der gegebenen
Vorsicht ein schnelles Vorankommen. Der
etwa alle 5 Minuten auftretende Halt einer
Straßenbahn führt sowieso dazu, dass Fahrzeugführer
hinter der Bahn warten müssten,
so sie sich verkehrsgerecht verhalten. „Sofern
Radfahrer sich bewusst verkehrswidrig
verhalten und sehenden Auges das offenkundige
erhebliche Verletzungsrisiko durch
Unfälle mit dem Gegenverkehr in Kauf nehmen,
indem sie links der Straßenbahn in den
Gegenverkehr wechseln, handelt es sich dabei
um keine das allgemeine Risiko übersteigende
Gefahr. Denn Radfahrer, die sich rücksichtslos
und grob verkehrswidrig verhalten, sind überall
im Straßenverkehr erheblichen Gefahren
ausgesetzt.”, urteilt das Gericht. Und weiter:
„Die Verkehrslenkung hat in ihrem Ermessen
nicht ausreichend gewürdigt,
dass bereits die Geeignetheit
der Maßnahme
zweifelhaft ist. Denn wenn
sie davon ausgeht, dass eine
Gefahrenlage durch sich
grob verkehrswidrig verhaltende
Radfahrer besteht,
fehlt es an jeder Erwägung
dazu, weshalb sich solche
Radfahrer durch eine weitere
Verkehrsregelung von
einer ohnehin bereits verbotenen
Fahrweise abhalten
lassen sollten.“ – dem ist
nichts hinzuzufügen.
 |
Dieses Schild verpflichtete zur Radwegnutzung. Das Gerichtsurteil erlaubt den Radfahrern nun aber auch die Fahrbahnnutzung. Um Vorbeifahrten an einer haltenden Straßenbahn durch andere Verkehrsteilnehmer zu unterbinden, schlägt das Gericht eine durchgezogene Linie in Straßenmitte vor. Foto: Tom Gerlich |
|
Wirklich interessant wird
es bei der Frage, warum die
VLB kein milderes Mittel,
etwa die Markierung einer
durchgehenden weiße
Linie, angeordnet hat. Sie
argumentierte entlarvend
in der mündlichen Verhandlung,
dies würde den
Parksuchverkehr und die
Nutzung gegenüberliegender
Ein- und Ausfahrten
übermäßig behindern.
Dies zeigt, wie rückwärtsgewandt
die VLB trotz aller gegenteiligen
Behauptungen noch immer agiert. Hierzu
stellt das Gericht fest: „[…] Es fehlte dann jede
Begründung, weshalb dem ohnehin nur eingeschränkt
zulässigen Wenden auf der Fahrbahn
[…], um einen Parkplatz zu suchen, und der
ungehinderten Benutzung von Grundstückseinfahrten
der Vorrang gegenüber den Belangen
des fließenden Radverkehrs zukommen soll,
zumal diese Beschränkung des motorisierten
Verkehrs nur auf den Bereich der Haltestellenkaps
begrenzt wäre und vor oder nach den Haltestellen
unter Beachtung von § 9 Abs. 5 StVO
gewendet werden dürfte. Im Übrigen stellte sich
vom Ansatz der Verkehrslenkung ausgehend,
die Benutzung der Gegenfahrbahn durch Radfahrer
bei haltender Tram zu verhindern, die
Frage, ob die von der Behörde angenommene
Gefährlichkeit eines solchen Manövers nicht
auch in ähnlichem Maße auf ein Vorbeifahren
durch Kraftfahrzeuge zuträfe.“ Eine schallende
Ohrfeige für die VLB! Denn das Problem
der Verkehrsgefährdung durch an haltenden
Bahnen vorbeifahrende Kfz nimmt mit dem
Neubau von Kaphaltestellen zu. Das Verwaltungsgericht
liefert der BVG also eine Steilvorlage,
um endlich effektiv die bisher von der
VLB verweigerten Überholverbote mit Verweis
auf dieses Urteil einzufordern und nötigenfalls
selbst den Rechtsweg zu beschreiten.
Fazit
Das Urteil könnte eine Grundsatzwirkung
für den Umgang mit Kaphaltestellen in
Berlin haben. Das Verwaltungsgericht hat
die Führung des Radweges über das Haltestellenkap
nicht beanstandet, sondern
stellt klar, dass es Radfahrern freigestellt
sein muss, ob sie (langsam) über das Kap
fahren oder auf die Fahrbahn wechseln,
um (schnell) an der Haltestelle vorbeifahren
zu können, ohne mit wartenden
Fahrgästen in Konflikt zu geraten. Zudem
wirft das Gericht die Frage auf, warum im
Bereich der Kaphaltestellen die Nutzung
der Gegenfahrbahn nicht für alle Verkehrsteilnehmer
mit einer durchgezogenen
Linie unterbunden wird, um riskantes
Vorbeifahren zu verhindern. Die IGEB begrüßt
dieses Urteil und hofft, dass bei der
VLB schnellstens ein Umdenken einsetzt,
um die Gefahren an Haltestellen endlich
wirksam zu reduzieren. (s. SIGNAL 5/2014)
(ge)
Die Meldung der Senatsverwaltung
„Keine Radwegbenutzungspflicht in der
Kastanienallee“
mit Link zum Urteil:
www.berlin.de/sen/justiz/gerichte/vg/presse/archiv/20141029.1425.399878.html
IGEB Stadtverkehr
|