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(... Mai 1928) Inzwischen habe ich meine Illusionen über die Berliner
U-Bahn verloren. Nachdem der Automat den Fahrschein ausgeworfen hatte, den
ich von beiden Seiten betrachtete und dann an Alice ("Nehmen Sie ihn,
ich verliere ihn nur") weitergab, widmete ich mich der Erkundung des
Bahnsteigs. Er strahlte in makelloser Reinheit, wie eine deutsche Küche.
Milchige Lampen hingen an der Decke
aufgereiht, marschierten wie Soldaten der Reichswehr aus der Tiefe der Halle
zwischen achteckigen, gekachelten Säulen und Feldern. An den Wänden, an farbig
abgesetzten Stellen, hingen Plakate mit purzelbaumschlagenden Clowns,
Tänzerinnen, Köchen mit lächerlichen Mützen und einer beinlosen, runden
Figur. Unter der Decke hing an einer silbernen Kette ein riesiger roter
Bleistift, auf dem "Faber" stand ... Also, woher kam meine Ernüchterung?
Ja, die U-Bahn war mir immer viel majestätischer und grandioser
erschienen, als sie tatsächlich war. Was soll ich machen? Nur was
man mit eigenen Augen gesehen hat, ist real.
Alice nahm die Fahrkarte nicht. "Mit diesem Fahrschein", erklärte sie,
"können Sie überall hin fahren. Ich fahre nur eine Station. Ich
muß ganz schnell in die Fabrik".
Die verschiedenenfarbigen Gummiwülste der anhaltenden Waggons schmatzten
wie Uppen. Hinter uns schloß sich die Tür von selbst. Nur noch eine
Sekunde war hinter den Fenstern der rote Bleistift der Marke "Faber"
zu sehen. Danach huschten nurnoch die grauen Wände des Tunnels vorbei.
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Warankin und sein RomanWladimir Walentinowitsch Warankin wurde am 12. November 1902 in Nishni Nowgorod als Kind eines Unteroffiziers geboren. Nach dem Tod seines Vaters im Jahre 1921 mußte er für die Familie sorgen und arbeitete als Bibliothekar. Er studierte in Moskau, war Institutsleiter und wurde im Frühjahr 1938 verhaftet und der Spionage beschuldigt. Er wurde im Oktober 1938 verurteilt und sofort erschossen. Das Urteil wurde 1957 aufgehoben, da die Verurteilung jeder Grundlage entbehrte. Warankin war aktiv im sowjetischen Esperanto-Verband tätig gewesen. Die Esperanto-Bewegung war wegen ihres internationalen Charakters in der Stalin-Ära in den Verdacht geraten, subversiv tätig zu sein, und Warankin war bei weitem nicht der einzige aus diesen Kreisen, der als Spion angeklagt und hingerichtet wurde... Die Erstausgabe des in Esperanto geschriebenen Romans erschien 1933 im Verlag “Ekrelo” in Berlin, der im gleichen Jahr seine Tätigkeit nach Amsterdam verlegte, um dem Zugriff der Nazis zu entgehen. Damit breitete sich für fast fünf Jahrzehnte der Mantel des Vergessens über die Person Warankin und seinen Roman “Metropoliteno”. Erst 1977 erscheint die zweite Ausgabe im Verlag Stafeto in Kopenhagen; die russischen Leser müssen bis 1992 auf die dritte Ausgabe des Verlages Sezonoj in Jekatarinenburg warten. Die SIGNAL-Redaktion dank Herrn Schnell für Auswahl, Übersetzung und Kommentierung der Auszüge. |
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( ... Juni 1928) In Moskau gibt es beim Kasaner Bahnhof einen steinernen
Viadukt, der über den Kalantschoskaja-Platz führt. Du fährst mit der Tram und
siehst über dir auf dem Viadukt ein grünes Band von Wagen, aus deren
geöffneten Fenstern neugierige Köpfe schauen. Dann hörst du, ob du willst
oder nicht, das eiserne Brausen über den Köpfen und beginnst über städtische
Hochbahnen nachzudenken. Ich dachte immer wieder an diesen Viadukt, wenn
ich in den elektrischen Wagen auf den hochgelegten Streckenabschnitten der
U-Bahn, die zwischen den Tunnels lagen, fuhr. Das ist ein Anachronismus. Man
baut keine oberirdischen Strecken mehr in Berlin. Sie sind unpraktisch,
stören den Straßenverkehr und machen Lärm. Nun zieht man es vor, ins
Innere der Erde vorzustoßen. Wie ein Chirurg schneidet man den Bauch
auf und holt die Innereien heraus.
Der Professor der Chirurgie ist hier der Ingenieur Berg. Der Student, der
bewundernd die geschickte Arbeit der Hände des Professors beobachtet, ist
niemand anderes als ich. Ich gehe hinter einer Plattform her, die auf
Schienen fährt und auf der ein riesiges metallenes Dreieck in den Himmel
ragt. Die Plattform bewegt sich einige Meter, hält an und mit einem traurig
pfeifenden Geräusch senkt sich von oben ein schweres Stahlelement herab.
"Uhhsii", sagt das Stahlelement. Ein senkrechter eiserner Pfeiler, der bei
der Plattform in den Boden eingelassen wird, verschwindet in der Erde. Ein
Arbeiter, der auf einem Brett steht, das im Himmel zwischen der Basis und
der Spitze des Dreiecks hängt, schreit etwas. Berg steht und sagt: "Sicher,
das ist der unangenehmste Teil unserer Arbeit Man muß erst die Pfähle
einrammen und die Bohlenwände aufbauen. Nur unter ihrem Schutz können
wir die Gräben ausheben. Andernfalls würden wir stören, und man würde
uns behindern."
Ich schreibe rasch einige Zahlen in mein Notizbuch. Berg schaut mir
über die Schultern und sagt scherzend: "Sie irren, lieber Kollege.
Hier besteht die Oberfläche nicht aus Ton, sondern aus Sand. Die
Rechnung muß anders sein." Ich werde rot und streiche durch, was
ich geschrieben habe.
Seit dem Tag, an dem der Direktor der Baufirma, nachdem er mich aufmerksam
in seinem Büro angehört hatte, einen Brief an Ingenieur Berg geschrieben
hatte, kümmerte er sich sehr aufmerksam um mich. Ich konnte mich nicht
über mangelnde Aufmerksamkeit beklagen. Berg zeigt mir alle Skizzen,
Pläne, Berechnungen und die Finanzierung. Er ermöglichte es mir, mich
mit der Geschichte der U-Bahn in Berlin und den ersten Ideen zu
beschäftigen. Er erklärte mir alles, wenn mir bei der einen oder
anderen Einzelheit etwas unverständlich war.
Nun gehe ich hinter dem stählernen Dreieck durch eine endlose Reihe
von den Boden versenkten Pfeilern, gehe im SchcR der Bohlenwände und lehne
mich, als ich mit den Füßen im weichen Boden versinke, an die Wand der
weiten Höhle. Aus ihr dringt der Duft eines frischgepflügten Feldes.
Seltsame Gedankenverbindungen kommen mir in den Sinn. Vor meinen Augen
erscheinen Furchen in schwarzer Erde und ein Pferdchen, das unwillig
einen Pflug zieht. Berg kommt heran ...
... Nun gehen wir den dunklen Gang des künftigen Tunnels hinunter.
Entlang der niedrigen weißen Mauern steht eine endlose Reihe von hölzernen
Stützen. In ihnen liegen Bretter. Auf den Brettern stehen Arbeiter in
Segeltuchjacken. Sie arbeiten an der Isolierung der Wände. Durch die
offene Decke strahlt die Sonne. Vermutlich ist es hier im Winter
nicht so schön", sage ich. "Macht nichts", lacht Berg, "die
Arbeiter müssen mit jedem Wetter zurechtkommen, wenn sie
ihren Lohn haben wollen."
Ich sehe ihn erschreckt an. "Unter diesem Gesichtspunkt ist die Pariser
Bauweise zweifellos vorteilhafter, da man unter der Erde und nicht unter
freiem Himmel arbeitet Besonders unter den Moskauer Verhältnissen",
füge ich hinzu.
Berg schaut unzufrieden. Ich werfe einen Blick in ein enges, helles
Loch am Ende des Tunnels. Hier liegen stählerne Schienen und gleiten
hunderte elektrische Wagen vorbei. Auf dem Gehsteig erscheinen Gitter,
wie man sie zum Abdecken der Kanalisation benutzt. Daraus dringt ein
Brausen wie aus der Hölle an die Oberfläche ...
Berg will mich wahrscheinlich aufziehen. Jede Bagatelle erscheint mir
ungeheuer wichtig. Mit weit aufgerissenen Augen und voller Aufmerksamkeit
nehme ich die Erklärung des kleinsten Details auf. Aber Berg weiß, was er
tut. Je überzeugender er dem sowjetischen Ingenieur die Vorteile der
Berliner Bauweise demonstrieren kann, desto sicherer wird es, daß sein
Unternehmen die Konzession für den Bau der Moskauer Metro bekommt.
Täuschen Sie sich deicht, Herr Berg?
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Hier könnte Warankin gearbeitet haben: Die damals geplante U-Bahnanlage Alexanderplatz. Aus: Elektrotechnische Zeitschrift, 1928 |
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Einmal sind wir bei den Gesprächen auf ein anderes Thema gekommen. Ich
wurde dann aufmerksamer. Berg ist nicht nur ein erfahrener Gesprächspartner.
Er ist gebildet, versteht die politischen Probleme. Seine politischen
Positionen? Sagte er nicht einmal, er glaube nicht an den sowjetischen
Sozialismus? "Die UdSSR wird aufgrund der internationalen Widersprüche
untergehen. Der Bauer wird dem Arbeiter an den Kragen gehen ... Aber
warum ... bekämpfen Sie die Religion? Damit machen Sie sich nur die
Landbevölkerung zum Feind!"
Sicher, Berg ist Mitglied der Sozialdemokratischen Partei! Er möchte
nicht, daß die Kapitalisten die Bolschewiki daran hindern, ihr Experiment
durchzuführen. Den Sozialismus bauen sie sicher nicht auf, aber Berg
zieht daraus nicht den Schluß, daß man intervenieren solle.
(.. Februar 1929) Ich weiß nicht, wielange ich nicht mehr zur Feder gegriffen
habe. Ehrend der letzten Monate hatte ich eine Menge Arbeit beim Bau der
U-Bahn. Berg meint, daß meine Aufgabe nun erfüllt sei. Aber das paßt mir
nicht. Gestern hat er zu mir gesagt: "Sie haben sich jetzt mit eigenen
Augen davon überzeugen können, daß wir billiger bauen als die
Franzosen." "Ungefähr eineinhalb Millionen Rubel. Aber ..."
Mein "Aber" ärgerte ihn: "Was heißt hier 'aber?'"
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CII-Zug im U-Bahnhof Leinestraße. Züge dieses Typs und des Nachfolgetyps CIII waren technisches Vorbild für die Züge der Moskauer Metro. Ein Teil der Berliner Züge ging nach Ende des Zweiten Weltkriegs als Reparation in die Sowjetunion. Foto: Sammlung J. Kubig |
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Ich blicke auf den aufgerissenen Gehweg, auf den aufgeworfenen feuchten
Aushub, auf die schweren Loren, die an den hölzernen Bohlenwänden
entlangfuhren. Berg hatte einen Regenmantel an. Der Mantel war naß, aber der
Anzug darunter blieb trocken. Das konnte man von den Arbeitern nicht sagen.
Wir gingen auf dem Fundament des künftigen Tunnels, und der Regen strömte
ungehindert aus dem grauen Himmel durch die Zwischenräume der Querstreben
herunter. Ich stellte mir vor, wie es in Moskau während der Winterkälte sein
würde. Tatsache, das wäre nicht zweckmäßig. Aber bei der Pariser Bauweise
würde man nur an zwei oder drei Stellen in der Mjasnizka Schächte ausheben.
Von dort aus könnte man von beheizten Gängen aus mit dem Angriff auf
den Untergrund beginnen. Außerdem hat die Pariser Metro weite, hohe
Gewölbe, während hier alles niedrig und gedrückt ist.
Berg nennt mich einen Philanthropen: "Das sozialistische Vaterland!
Sorge um die Arbeit! Dafür wollen Sie einige Millionen verschwenden?"
Ich mag nicht darüber mit ihm streiten.
( ... Februar 1929) Beim Bau der U-Bahn gibt es wieder Schwierigkeiten.
Der kürzlich ausgebrochene Streik ist beendet, doch das Unternehmen hat
nachgeben müssen. Aber Berg hat sich offensichtlich nur für einen neuen
Angriff zurückgezogen. In der letzten Zeit war er seltsam unfreundlich
und aggressiv gegenüber den Arbeitern. Wenn das so weitergeht, wird
ein Sturm über uns hereinbrechen.
( ...März 1929) Heute stellten wir um 12 Uhr die Arbeiten am Bau der
neuen U- Bahn ein. Zwei Tage zuvor hatte Berg drei
Arbeiter hinausgeworfen, die gegen die neue Arbeitsordnung protestiert
hatten. Das tut seine Wirkung. Gestern morgen herrschte unter den
Bauarbeitern Aufregung. Am Abend schloß die Polizei das Büro der linken
Gewerkschaft der Bauarbeiter und versiegelte es.
Und heute ist die Gegend voll von Polizisten mit Schutzhelmen in
voller Bewaffnung. Berg erklärte, daß er keinen Schritt
zurückweichen werde ...
* * * *
Warankin ist fasziniert von der glitzernden Welt der Metropole am Ende
der 20er Jahre. Gleichzeitig gehört sein Herz der Kommunistischen
Weltbewegung. Sein Ideal sind die aufrechten, sauberen, durch Sport gestählten
Arbeiter, die eine neue Welt aufbauen werden. Sie stehen in krassem Gegensatz
zu den korrupten und intriganten Vorgesetzten in seiner Moskauer Dienststelle,
die erst jahrelang den verkehrstechnisch notwendigen Bau der Metro verschleppt
haben und dann bei der Vergabe der Konzession an eine ausländische Firma
“absahnen” wollen. Als einflußreiche Parteifunktionäre gelingt es ihnen,
ihre Kritiker unter dem Vorwand ideologischer Abweichung auszuschalten.
Warankin hat den unseligen Einfluß Stalins auf die deutschen und die
sowjetischen Kommunisten klar erkannt und zu einem spannenden
Roman verarbeitet.
Der sowjetische Ingenieur muß im April 1929 Berlin verlassen und fährt
mit dem Dampfer “Preußen” von Stettin nach Leningrad.
Die harte Frostperiode des Winters 1928/29, ein Streik der Bauarbeiter und
Finanzschwierigkeiten zwingen zur vorübergehenden Einstellung der
U-Bahn-Bauarbeiten. Aber das Unternehmen ist sich sicher, die Konzession
für Moskau in der Tasche zu haben und braucht den aufmüpfigen
sowjetischen Ingenieur nicht mehr.
Die Linie D geht am 10. April 1930 zwischen Neanderstraße (heute
Heinrich-Heine-Straße) und Gesundbrunnen und die Linie E am 21. Dezember
1930 zwischen Alexanderplatz und Friedrichsfelde in Betrieb.
Inwieweit Warankin auf eigene Erlebnisse zurückgreifen konnte, was er mit
eigenen Augen gesehehen hat und wo er sich auf Berichte anderer stützt, ist
schwer zu sagen, da nach seiner Hinrichtung alle Aufzeinungen vernichtet
wurden. Einige charakistische Ungenauigkeiten lassen vermuten, daß er
mehr aus der Erinnerung als aus Archiven geschöpft hat.
Roland Schnell, Berlin-Friedrichshain
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