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In seiner Laudatio führte der Senator aus: „Im Jahr
1973 machte sich ein junger Mann mit Namen Gerhard
Curth aus Oberbayern auf nach West-Berlin: Damals
durch die Mauer geteilt und vom restlichen Bundesgebiet
getrennt wie eine Insel. Wollte der junge Bayer
diese Stadt einmal hinter sich lassen und zurück in
seine Heimat reisen, so musste er dafür die Transit- und
Interzonenzüge der Deutschen Reichsbahn nutzen.
Die Zahl der Fahrten war begrenzt, die Züge oft
überfüllt. Reisezeit, Reisequalität und die Zustände
im Bahntransit generell waren so schlecht, dass sie
dem Enkel eines Reichsbahners, der schon in jungen
Jahren von der Eisenbahn fasziniert war, unhaltbar
schienen. Und er beschloss, sie zu ändern.
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Berlins Senator für Stadtentwicklung und Umwelt überreicht dem IGEB-Ehrenmitglied Gerhard J. Curth (links) am 30. März 2016 die Verleihungsurkunde, auf der zu lesen ist: „In Anerkennung der um Volk und Staat erworbenen besonderen Verdienste verleihe ich Herrn Gerhard Curth, Berlin das Verdienstkreuz am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland. Berlin, den 15. Dezember 2015. Der Bundespräsident J. Gauck“ Foto: Thomas Billik |
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1980 gründeten Sie, Herr Gerhard Curth, die „Interessensgemeinschaft
Eisenbahn, Nahverkehr und
Fahrgastbelange Berlin e.V.“, kurz IGEB, Deutschlands
ersten Fahrgastverband […]. Umgehend, intensiv und
mit hohem diplomatischem Geschick setzten Sie sich
für Verbesserungen im Eisenbahntransitverkehr ein.
Über inoffizielle Gespräche mit in West-Berlin tätigen
leitenden Reichsbahnern gelang es Ihnen, die Kundenbelange
an die entscheidenden Stellen der Reichbahnverwaltung
in Ost-Berlin zu lancieren. Die Einführung
von Speisewagen, ein schrittweiser Ausbau des D-Zugverkehrs
sowie die Einrichtung von mehreren Kundenzentren
der Deutschen Reichsbahn (Ost) in Berlin
(West) sind auch auf Ihr Wirken hin zurückzuführen.
Das Engagement der IGEB unter Leitung von Herrn
Curth beschränkte sich jedoch nicht nur auf den Transitverkehr.
Die Verkehrsplanung jener Zeit hatte sich
dem Leitbild der autogerechten Stadt verschrieben.
Der West-Berliner Senat plante tangentiale Ringstraßen,
der Ost-Berliner Magistrat radiale Achsen, und
beide Stadthälften behandelten den öffentlichen
Nahverkehr, vor allem den Schienenverkehr, eher
stiefmütterlich. Sie, Gerhard Curth, glaubten den Verheißungen
des angeblich modernen Automobilzeitalters
nicht, und Sie bewiesen damit bewundernswerte
Weitsicht. Vehement setzten Sie sich für Verbesserungen
der S-Bahn in Berlin ein, und das mitten im politischen
Hexenkessel der Frontstadt des Kalten Krieges.
Die von der Deutschen Reichsbahn der DDR betriebene
S-Bahn war ein Fremdkörper in West-Berlin.
Spätestens seit dem S-Bahn Boykott 1961 hatten lange
Jahre des Niedergangs eingesetzt. Bewusst auch
unterstützt durch planerische Maßnahmen, wie den
parallelen Ausbau von Bus- und U-Bahn-Strecken,
wurden der S-Bahn die Fahrgäste und damit die Fahrgelder
abgezogen. Als Konsequenz investierte die
Reichsbahn nicht in das West-Netz, setzte Kosteneinsparungen
auch beim Personal durch, nahm Strecken
außer Betrieb und ließ den Wagenpark veralten und
Anlagen verfallen. Die Situation verschärfte sich mit
dem Streik der Reichsbahner in West-Berlin im September
1980 und den nachfolgenden verheerenden
Kürzungen im West-Berliner S-Bahn-Verkehr.
Für die gerade gegründete IGEB und für Sie, Herr
Curth, stellte diese Situation eine große Herausforderung
dar. Es war offensichtlich, dass eine generelle
Lösung für den Weiterbetrieb der S-Bahn gefunden
werden musste. Politisch jedoch war diese Situation
hochbelastet, eine Annährung der Verantwortlichen
aus Ost und West schien unmöglich, selbst das Nachdenken
über die Rolle und Zukunft der Schienenverkehre,
die einstmals Struktur und Bild der Stadt geprägt
hatten, schien mit einem Tabu belegt: ein Tabu,
dass Sie durchbrachen.
Ihr ganzes persönliches Engagement setzten Sie
daran, eine Lösung zu finden. Entgegen der Widerstände
und Warnungen aus Ost und West suchten Sie
den Dialog mit den alliierten Vertretern, übernahmen
die Vorklärung mit dem für Berlin zuständigen sowjetischen
Attaché und bewirkten die Gründung der
S-Bahn-Kommission durch den damaligen Regierenden
Bürgermeister West-Berlins, Hans-Jochen Vogel.
Der Rest ist Geschichte. Im Januar 1984 übernahm
die BVG den Betrieb der S-Bahn von der Deutschen
Reichsbahn, es folgten die schrittweise Reaktivierung
und Sanierung von Strecken und S-Bahnhöfen, neue
Züge wurden ab 1986 ausgeliefert. Der Niedergang
der S-Bahn war gestoppt, und dies wiederum ist die
Voraussetzung dafür gewesen, dass die Schiene nach
dem Fall der Mauer und der Verknüpfung der Netze
erneut zu einem starken Verkehrsträger in Berlin und
der Region geworden ist.
Ihr unermüdlicher Einsatz, Ihr offenes Zugehen
auf Entscheidungsträger auf beiden Seiten der
Mauer machten Sie allerdings in höchstem Maße
„verdächtig“. Für die Machthaber auf beiden Seiten
war es wohl unglaublich, dass jemand sich ganz
praktisch und lösungsorientiert für die Sache der
S-Bahn einsetzen konnte, ohne dabei ideologische
Zielstellungen zu verfolgen. Der Westen vermutete
kommunistische Umtriebe, der Osten hingegen den
Versuch, den real existierenden Sozialismus auszuspionieren,
und er reagierte seinerseits mit Spionage.
Das Ministerium für Staatssicherheit der DDR ließ Sie
über Jahre hinweg beobachten. Nach vier Jahren intensiver
„Operativer Personenkontrolle“ musste jedoch
selbst die Stasi eingestehen, dass es Ihnen nicht
darum ging, Untergrundtätigkeiten gegenüber der
DDR nachzugehen, sondern dass Sie sich tatsächlich
mit hoher Motivation und viel Kraft ausschließlich für
die Belange der Fahrgäste in Ihrer Wahlheimat Berlin
einsetzten. […]
Ein wesentlicher Schwerpunkt Ihrer Arbeit hat zudem
stets darin bestanden, in der Öffentlichkeit für
Transparenz und einen Bewusstseinswandel in Sachen
Eisenbahn zu werben. Bereits im Oktober 1980
gründeten Sie die Zeitschrift der IGEB, die „Signal“.
Die erste Fahrgastzeitschrift Deutschlands, der Sie
bis 2012 als Chefredakteur vorstanden, beeinflusst
die Meinungsbildung in Fachkreisen bis heute. In der
„Signal“ formuliert die IGEB Kritik und eigene Vorschläge,
Hinweise und Informationen, Alltagsgeschehen
und strategische Konzepte. Und diese, das kann ich
Ihnen als langjähriger Adressat und Leser versichern,
werden auch heute von den Akteuren des Berliner
Verkehrsgeschehens sehr aufmerksam gelesen.
Wegbegleiter beschreiben Sie, Herrn Curth, als einen
offenen Menschen, der auf andere zugeht, sich
von Titeln und Funktionen nicht beeindrucken lässt,
der die von ihm vertretenden Anliegen mit großem
rhetorischem Geschick vorbringt, und der in der Zusammenarbeit
auf Kooperation setzt.
In diesem Sinne haben Sie auch die IGEB geprägt,
die als ehrenamtlicher und gemeinnütziger Verein
hoch professionell agiert und sich damit als Bindeglied
zwischen Fahrgästen, Verkehrsunternehmen
und der Berliner Verwaltung etabliert hat. Dass der
Berliner Fahrgastverband IGEB heute in verschiedenen
Gremien beim VBB, der BVG und auch in der Senatsverwaltung
für Stadtentwicklung und Umwelt als
Teilnehmer am Runden Tisch des StEP Verkehr sitzt,
legt darüber Zeugnis ab.
Sehr geehrter Herr Gerhard Curth, ich möchte diese
Gelegenheit nutzen, Ihnen für Ihre Verdienste um den
Berliner Schienenverkehr auch persönlich zu danken.
Für Ihr großes Engagement in politisch schwierigen
Zeiten, für Ihren unermüdlichen Einsatz für die
Belange der Fahrgäste, und für Ihre bis heute ungebrochene
Begeisterung und uneigennützige Arbeit
für die Allgemeinheit und für die Zukunft des Schienenverkehrs
verleihe ich Ihnen hiermit den Verdienstorden
der Bundesrepublik Deutschland.“
Berliner Fahrgastverband IGEB
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