Straßenbahn im Westen

Mainz kann es besser als Berlin

Zum Fahrplanwechsel am 11. Dezember 2016 wurde das Straßenbahnnetz der rheinland- pfälzischen Landeshauptstadt um rund 50 Prozent erweitert. Im Gegensatz zu den meisten Bauprojekten in Berlin (außer Ostkreuz) verlief diese Erweiterung aber fast vollständig nach Plan – nicht nur hinsichtlich des Streckenneubaus, sondern auch bei der Beschaffung neuer Fahrzeuge und der Ausbildung des zusätzlichen Personals.

Schon in den letzten zwei Jahren vor der Eröffnung der sogenannten Mainzelbahn wurden die erforderlichen Fahrpersonale angeworben und ausgebildet. In dieser Zeit erreichte ein Hilferuf aus Berlin die Stadt Mainz.

In Berlin waren, auch mit Zustimmung des seinerzeitigen Senats als verantwortlichem Aufgabenträger, in den letzten Jahren alle Reserven der BVG in den Bereichen Infrastruktur, Wagenpark und Personal wegrationalisiert worden. Immer, wenn in der Öffentlichkeit Forderungen nach einer Ausweitung des ÖPNV laut wurden, sind sie mit eben diesen „Argumenten“ und natürlich mit der Standardformel, dafür sei kein Geld da, abgelehnt worden. Selbst so kleine Maßnahmen wie Zusatzzüge bei U-Bahn oder Straßenbahn an einzelnen Abenden für Großveranstaltungen oder die gegenseitige Aushilfe S-Bahn/BVG bei baubedingten Streckensperrungen durch zeitweilige Taktverdichtungen wurden abgelehnt.

Gleise
Am 28. November 2016 wurden mit den verschiedenen Fahrzeugtypen (im Vordergrund Variobahn) die ersten Testfahrten durchgeführt. Foto: Reinhard Halbritter

Nach 2010 zeichnete sich aber ab, dass Berlin wächst, und darum wurde vom Senat vor vier Jahren das Programm „Wachsende Stadt“ beschlossen, das zu einer Kehrtwende bei der ÖPNV-Angebotspolitik führte. Die BVG freute sich auf die voraussehbaren Mehrleistungen, die der Senat bestellen und bezahlen würde – allerdings zu früh. Sie hatte keine Reserven mehr, die sich bis zur Ausbildung neuer Mitarbeiter und der Auslieferung neuer Fahrzeuge mobilisieren ließen. Im Gegenteil. Schon die ersten eingegangenen Verpflichtungen im Bereich Straßenbahn führten 2015 zur „Fahrerkrise“, auf deren Höhepunkt so viele Fahrten ausfielen, dass in Abstimmung mit dem Senat an bestimmten Verkehrstagen ganze Linien eingestellt werden mussten, um nicht im restlichen Netz eine Lotterie täglich wechselnden Versagens zu veranstalten.

Das Fahrzeugproblem war durch einen glücklichen Umstand nicht ganz so drückend, denn gerade hatte die Lieferung neuer Flexity-Wagen begonnen, die eigentlich nur zum Ersatz der Tatrabahnen und nicht zu einer Leistungsausweitung gedacht waren. Aber dies ließ sich durch das Ziehen der zusätzlich vereinbarten Lieferoptionen ändern.

Fahrpersonal zu finden, war in der Hartz-IV-Hauptstadt Berlin aber schwierig. Denn wer die vom arbeitsmedizinischen Dienst geforderten Eigenschaften hat und die notwendige technische Bildung besitzt, ist nicht darauf angewiesen, sein Geld an allen sieben Wochentagen mit Schichtarbeit rund um die Uhr zu verdienen. Wenn diese Arbeitsplätze nicht mit wesentlich besseren Bedingungen verknüpft sind (und dabei geht es um mehr als Geld), dann werden die Probleme der BVG und auch der S-Bahn nicht dauerhaft zu lösen sein.

Die BVG benötigte also kurzfristig Fahrer, die nicht zu viel Zeit für die Schulung auf den hier eingesetzten Wagentypen benötigen. Da war es hilfreich, dass in Berlin als erste Generation von Niederflurfahrzeugen (GT6N) ein Wagentyp läuft, der es zu deutschlandweiter Verbreitung geschafft hat. Auch Mainz hatte sich für diesen Typ entschieden und konnte dadurch Berlin schnell helfen. Insgesamt 16 Kollegen (darunter auch drei Fahrlehrer) waren für ein Jahr auf dem Betriebshof Marzahn zu Hause und bedienten viele Kurse der Linie 16.

Gleise
Vier Monate vor der Streckeneröffnung waren die ersten Haltestellen fertig, hier die Station Wiesenstraße in Marienborn – noch ohne Oberleitung – am 16. August 2016. Foto: Reinhard Halbritter

In Mainz hatte man also trotz der Netzerweiterung um rund die Hälfte rechtzeitig und genügend Personal und konnte so der BVG helfen. Demgegenüber gab es in Berlin mit einer prozentual kaum messbaren und erheblich verspäteten Erweiterung zum Hauptbahnhof zu wenig Fahrpersonal – ein Fall von Missmanagement.

Der Berliner Fahrgastverband IGEB gratuliert den Mainzern und ihren Verkehrsbetrieben zu der gut geplanten neuen Straßenbahn und hofft, dass in Zukunft auch die Netzerweiterungen in Berlin ähnlich professionell erfolgen. Der neue rot-rotgrüne Senat hat eine stärkere Förderung des öffentlichen Verkehrs versprochen und nun zusammen mit der BVG fünf Jahre Zeit zu zeigen, dass es hier genauso gut klappen kann wie in Mainz. (af)

IGEB Stadtverkehr

aus SIGNAL 1/2017 (März 2017), Seite 22

 

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