Für Law-and-Order-Politiker aller Couloeur
ist die Sache klar: Auch Vergesslichkeit
verdient Strafe, ebenso wie Vorsatz und
schlichte Unkenntnis der hyperkomplexen
Tarifbestimmungen im öffentlichen
Verkehr mit zahllosen Ausnahme-, Übergangs-,
Mitnahme- und Fristenregelungen.
Alles keine Entschuldigung! Schwarzfahren
muss mit den Mitteln des Strafgesetzbuchs
geahndet werden! Und dieses
sieht für derartige Untaten gemäß § 265a
Geldstrafen und auch Gefängnisstrafen
bis zu einem Jahr vor.
„Schwarzfahrer“ füllen die
Haftanstalten
Die Berliner Justizvollzugsanstalten sind
voll – nicht mit Dieben, Betrügern oder
Mördern, sondern mit Menschen, die Haftstrafen
wegen Schwarzfahrens absitzen.
Meist sind dies Menschen, die verhängte
Geldstrafen nicht zahlen können und deshalb
in Ersatzhaft landen. Gerade für sozial
Schwache sind die Tarifsteigerungen der
letzten Jahre existenzbedrohend geworden.
Wer von den „Segnungen“ der Hartz
IV-Gesetze betroffen ist, hat oft keine 2,80
Euro für eine Einzelfahrt übrig. Und in existenzbedrohende
Lagen kann man dann
ganz schnell geraten, wenn z. B. das Jobcenter
aus Jux und Tollerei (oder um die
von der Behördenleitung vorgegebene
Sanktionsquote zu erfüllen) mal eben für
Lappalien mit einer Leistungskürzung das
Existenzminimum unterschreitet. Ist dann
etwa ein Arzttermin fällig, bleibt den Betroffenen
nur die Wahl zwischen Verzicht
oder Es-drauf-ankommen-lassen.
Für den Staat ist das Inhaftieren von
Schwarzfahrern übrigens ein ausnehmend
mieses Geschäft: Jeder Hafttag kostet
den Steuerzahler 150 Euro, und das für
Delikte, die ursprünglich einen Streitwert
von unter 5 Euro hatten. Verbrechen sehen
anders aus. Ist das alles vernünftig?
Nein, sagen Berliner Grüne und Linke
und fordern die Abschaffung der urtümlichen
obrigkeitsstaatlichen Vorschriften.
Demnach soll das Schwarzfahren eine
ganz normale Ordnungswidrigkeit werden,
die jedenfalls keine Strafen nach sich
zieht, die im schlimmsten Fall einem betroffenen
Menschen auch noch die berufliche
Existenz zerstören können.
„Falschparker“ begehen nur
Ordnungswidrigkeiten
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Solch ein Beleg wird dem erwischten „Schwarzfahrer“ während der Kontrolle ausgestellt. Der beanstandete Fahrausweis wird üblicherweise eingezogen. Archiv |
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Jeden Tag werden Menschen gefährdet und
der Verkehr behindert durch Autofahrer, die
sich um Verkehrsregeln, StVO und StVG einen
feuchten Kehricht scheren. Gegenseitige
Rücksichtnahme nach Paragraf 1? Nicht
mit mir! Falschparker stellen Haltestellen zu,
„eilige“ Eltern überfahren rote Ampeln, um
ihre Kinder in die Mandarin-Kita vier Bezirke
weiter zu bringen und gefährden dabei
Menschenleben, rücksichtslose Individualisten
blockieren Busspuren und Straßenbahngleise
und erzeugen Behinderungen
für hunderte Fahrgäste. Nach dem Willen
des Gesetzgebers sind das aber alles keine
Straftaten, sondern lässliche Ordnungswidrigkeiten.
Das Falschparken gibt es vom bundesdeutschen
Gesetzgeber sogar im Sonderangebot
für 5 bis 10 Euro, obwohl das ein
explizit sozialschädliches Verhalten ist und
damit Gehbehinderte besonders schikaniert
und Kinder gefährdet. Ist das gerecht?
In den vergangenen Jahrzehnten ist in
der Rechtsordnung eine gewaltige Schieflage
entstanden, die aus der politisch gewollten
Privilegierung des Kfz-Verkehrs
gegenüber anderen Verkehrsarten aus
den 1950er und 60er Jahren resultiert: Verstöße
gegen Regeln des Straßenverkehrs –
ob vorsätzlich oder fahrlässig – werden
milde bestraft, wenn sie überhaupt registriert
werden, beliebige Tempoüberschreitungen
werden – eher widerwillig
und nur, wenn sie tödliche Konsequenzen
haben – als Straftaten gewertet.
Jegliche Verstöße im öffentlichen Personenverkehr
werden dagegen blitzschnell
zu Angelegenheiten der Strafgerichte
und haben im schlechtesten Fall erhebliche
Konsequenzen. Dafür muss man nicht
einmal ein klassischer Schwarzfahrer (=
kein Ticket) sein, es reicht aus, das falsche
Ticket gekauft zu haben, ein gekauftes
Ticket nicht entwertet zu haben, sich in
der Arithmetik der Tarifzonen, Waben und
Uhrzeiten geirrt zu haben, oder in einer
fremden Stadt schlicht die Gepflogenheiten
des dortigen Fahrscheinwesens
nicht zu kennen (= „Graufahrer“). Sollen
derartige Delikte weiter als Straftaten verfolgt
und geahndet werden, Staatsanwaltschaften
und Gerichte beschäftigen?
Soll „Schwarzfahren“ eine Straftat
bleiben?
„Nein“, sagen Politiker der rot-rot-grünen Koalition
in Berlin. Und der Berliner Fahrgastverband
IGEB schließt sich dieser Forderung
an. Bagatellen sollen nicht künstlich zu Straftaten
aufgeblasen werden, zumal die Strafbarkeit
des Schwarzfahrens über die Jahre
nichts an den Zahlen geändert hat: Circa
fünf Prozent der Fahrgäste fährt schwarz,
wovon es nur ein kleiner Prozentsatz „professionell“
tut. Die meisten Menschen werden
als „Graufahrer“ erwischt und dann kriminalisiert.
Da werden falsch gestempelte
Gruppentickets zu Stolperfallen, ein mitgeführtes
Fahrrad zieht ein Ermittlungsverfahren
nach sich, und eine abgelaufene oder in
der falschen Richtung (Stichwort Rückfahrt)
benutzte Zwei-Stunden-Karte kann im Wiederholungsfall
Knast bedeuten.
Schwarzfahren ist kein Kavaliersdelikt,
aber auch keine Straftat. Die Fahrgäste des
öffentlichen Verkehrs dürfen nicht länger
kriminalisiert werden. Und das ungewollte
Schwarzfahren könnte weitgehend vermieden
werden, wenn es endlich überall
bezahlbare und verständliche Tarife gäbe.
(mg)
Berliner Fahrgastverband IGEB
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