2016 stellte der Gesamtverband der Deutschen
Versicherungswirtschaft (GDV) eine
Studie der „Unfallforschung der Versicherer
(UDV)“ vor, deren wesentliche Ergebnisse
auch sogleich von den Medien wiedergegeben
wurden. In der Regel ohne viel über
das Berichtete nachzudenken, es gar kritisch
zu hinterfragen, sondern schlicht die Pressemitteilung
umzuschreiben. Zumal diese
mit „Unfallrisiko Straßenbahn“ eine schöne,
da alarmierende Überschrift besaß. Der RBB
schlagzeilte auf seiner Website denn auch
sogleich: „In Berlin gibt es viele schwere
Straßenbahnunfälle“.
„Erstmals für Deutschland wurden Straßenbahnunfälle
so umfassend untersucht“,
verkündete der GDV weiter. 4100 Tramunfälle
aus 58 deutschen Städten im Zeitraum
2009 bis 2011 habe man analysiert. „Das
kommt einer Vollerhebung gleich.“ Löbliches
Ziel dieses Vorhabens: „herauszufinden,
wie, wo und wann die verschiedenen
Verkehrsteilnehmer in Unfälle mit Straßenbahnen
verwickelt sind, welche Folgen diese
Unfälle haben und welche Maßnahmen
dagegen helfen können.“
Bei ihrer Forschung fanden die Wissenschaftler
Erstaunliches heraus: „Schon wegen
des hohen Gewichts der Fahrzeuge und
dem anderen Bremsverhalten sind Kollisionen
mit Straßenbahnen insgesamt deutlich
schwerer als mit Autos oder Bussen. Zur Beurteilung
der Sicherheit wurde das Unfallgeschehen
in Relation zur Fahrleistung und
zur Beförderungsleistung gesetzt. Bezogen
auf die Fahrleistung sind Unfälle mit Straßenbahnen
achtmal so schwer wie Unfälle
mit Pkw, bezogen auf die Beförderungsleistung
allerdings nur ein Fünftel so schwer.
Wird jedoch nur die Anzahl der Getöteten
betrachtet, dann ist die Straßenbahn auch
hinsichtlich Beförderungsleistung nicht besser
als der Pkw und hinsichtlich Fahrleistung
sogar 35-mal unsicherer.“
Ja, die fröhliche Wissenschaft! Man braucht
ja nicht unbedingt darauf hinzuweisen, dass
das Risiko, zu Schaden zu kommen, für Benutzer
einer Straßenbahn sehr gering ist, ganz
anders als bei den Benutzern eines Pkws.
An anderer Stelle heißt es in der Pressemitteilung
zwar auch: „Etwa drei Viertel der
getöteten Verkehrsteilnehmer bei Unfällen
mit Straßenbahnen sind Fußgänger, rund
16 Prozent Radfahrer. Fußgänger stellen
mit 37 Prozent auch den weitaus größten
Anteil der Schwerverletzten dar, gefolgt von
Insassen in Pkw (28 Prozent) sowie Radfahrern
(15 Prozent).“ Und wieder woanders:
„Bei den wenigsten Unfällen (16 Prozent)
ist die Straßenbahn Hauptverursacher, die
meisten werden durch Pkw verursacht (45
Prozent), überwiegend an Kreuzungen oder
Einmündungen. Fußgänger verursachen
etwa jeden fünften Straßenbahnunfall mit
Personenschaden (22 Prozent).“
Dennoch geht es hier nicht etwa um das
„Unfallrisiko Autofahrer“ oder das „Unfallrisiko
Fußgänger“. Obwohl viele von Letzteren
auch häufig, wenn die Ampel für sie grün
zeigt, einfach die Straße überqueren, ohne
sich darauf vorzubereiten, jederzeit vor Autofahrern
zur Seite zu springen. Oder, zumindest
in Berlin noch sehr viel wahrscheinlicher,
vor Radfahrern.
Dass die Tram das Problem ist, zeigt auch
der Umstand, dass von der UDV „zur Beurteilung
der Sicherheit das Unfallgeschehen
in Relation zur Fahrleistung und zur Beförderungsleistung
gesetzt“ wurde. Zur Fahr- und
Beförderungsleistung der Straßenbahn,
wohlbemerkt, sowie zur Länge ihres Streckennetzes
in der jeweiligen Stadt und zu
deren Einwohnerzahl. Wie viele Autos unterwegs
waren, spielte keine Rolle.
Aber man kennt das ja: In den USA sterben
dauernd mehr Menschen als in Luxemburg,
was zeigt, wie ungesund das Leben in Amerika
ist. Und wenn alle Frauen nach Einbruch
der Dunkelheit nicht mehr das Haus verließen,
könnte keine einzige von ihnen überfallen
werden. Auch auf vielen – insbesondere
beschrankten – Bahnübergängen ist ja ein
wesentliches Problem, dass die Züge völlig
überraschend an absolut unvorhersehbaren
Stellen auftauchen – und dann den Autofahrern,
die auf den Gleisen stehen, noch nicht
einmal ausweichen wollen.
Hier besteht dringender Handlungsbedarf!
Zum Beispiel könnte für Züge ein
Zwangsstopp vor jeder niveaugleichen
Kreuzung mit einer Straße eingeführt werden.
Weiterfahrt jeweils nur nach dreißigsekündiger
Wartezeit und im Schritttempo.
Denkbar wären auch Vorrichtungen, mit deren
Hilfe Züge die Schienen verlassen und
um Hindernisse herumfahren können. Automatisch,
auf Anweisung ihres Radars.
Die UDV ist nämlich dank ihrer umfangreichen
Forschung zu überraschenden Empfehlungen
gelangt, wie sich Zahl und Schwere
der Unfälle mit Trams reduzieren ließen:
Straßenbahnstreckenführung in Seitenlage,
eigene Bahnkörper, sorgfältige Planung von
Kreuzungs- und Einmündungsbereichen
mit klaren und sicheren Abbiege- und Überquerungsmöglichkeiten
oder gesonderte
Ampelphasen für Straßenbahnen.
Und neue Aufgaben warten: Erforscht
werden sollte beispielsweise die Möglichkeit
zur „automatische(n) Erkennung von
Konfliktsituationen durch kreuzende Verkehrsteilnehmer,
die verbunden sein könnte
mit einer automatisierten Warnung an den
Fahrer oder auch an andere Verkehrsteilnehmer
durch Klingelzeichen.“
Am sichersten wäre freilich, wenn Straßenbahnen
künftig nur noch durch Wälder
und über Felder fahren würden, möglichst
weit von jeder Besiedlung entfernt. Und was
die Studie der Versicherer skandalöserweise
verschwieg: Zu den Städten mit den geringsten
Zahlen von Straßenbahn-Unfallopfern
gehören Hamburg, Kiel und Wuppertal.
Die Meldung des GDV:
www.gdv.de/2016/09/unfallrisiko-strassenbahn
Jan Gympel
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