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Foto: Holger Mertens |
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Gerade einmal 6 DIN-A5-Seiten umfasste die
Beschreibung des Tarifkonzeptes im Gründungsentwurf
des VBB aus dem Jahre 1996.
Darin wurden Grundsätze wie Tarifgerechtigkeit
und die Einfachheit bzw. Erklärbarkeit
des Tarifes festgeschrieben sowie kurz die
Wabenstruktur erklärt.
Als der VBB-Tarif dann am 1. April 1999 in
Kraft trat, wurde er in einer Broschüre auf
46 Seiten (Teil A bis D) erklärt. Mit allen Anhängen
und Anlagen kam die Broschüre auf
immerhin 85 Seiten.
Diese wuchsen von Jahr zu Jahr immer
weiter an. Heute, 2017, hat der Tarif (Teil A
bis D), trotz deutlich schmalerer Schriftart,
bereits 102 Seiten – mehr als das Doppelte!.
Mit dem neuen Teil E sind es schon 116
Seiten. Und mit allen (unvollständigen)
Anhängen kommt die Broschüre auf 149
Seiten.
Darin finden sich dann solch literarisch
wertvolle Absätze wie dieser (Teil D, 4.1, Seite
85): „[… ] Einzelfahrausweise und Tageskarten
für den Stadtlinienverkehr des Ortes
mit Stadtlinienverkehr Eberswalde bzw. Einzelfahrausweise
für die Stadtlinienverkehre
der Orte mit Stadtlinienverkehr Bernau, Bad
Freienwalde oder Zepernick können nur im
Vorverkauf auch in Form von Mehrfahrtenkarten
ausgegeben werden. [… ]“
Literaturkritisch betrachtet ein Werk, das
seinen Leser sicherlich nicht unterfordert,
jedoch die selbst gesetzte Messlatte der
leichten Erfassbarkeit deutlich reißt. Umgangssprachlich
hätte man bestimmt auch
schreiben können: „Sammelkarten nur im
Vorverkauf!“, doch das hätte der Autor womöglich
als intellektuelle Beleidigung verstanden.
Irritierende Tarifregelungen
Doch nicht nur das Geschriebene stellt ein
Problem dar, sondern im besonderen Maße
auch das nicht Geschriebene. So gibt es im
Regionalverkehr beispielsweise zwei Arten
von Fahrradkarten: die aus dem VBB-Regelwerk
und die aus dem DB-Regelwerk. Wer
selbst mit einem DB-Ticket unterwegs ist,
muss zwingend ein DB-Fahrradticket kaufen,
denn dann ist ein VBB-Fahrradticket
ungültig. Umgekehrt gilt dasselbe. Diese
Regelung ist genauso unnötig wie albern.
Oder hat Ihnen schon mal die Supermarktkassiererin
verboten, Miracoli-Spaghetti gemeinsam
mit Bertolli-Pastasoße zu kaufen,
weil das ja zwei verschiedene Marken sind,
die man nicht zusammen essen darf?
Als 2004 aus dem 2-Stunden-Ticket ein
Einzelfahrschein wurde, bei dem fortan
„Rück- und Rundfahrten“ ausgeschlossen
waren, wurde die Definition, was „Rückund
Rundfahrten“ eigentlich sind, bewusst
schwammig gehalten:
„[… ] Rückfahrten sind Fahrten in Richtung
auf den Ausgangspunkt auf derselben Strecke,
die bei der Hinfahrt benutzt wurde. Rundfahrten
sind Fahrten, die auf einem anderen Weg
- zum Ausgangspunkt,
- zu einem diesem nahegelegenen Punkt
oder
- zu einem Fahrtziel, das mit der Hinfahrt hätte
erreicht werden können,
führen. [… ]“ (Teil B, 5.3.1, Seite 49)
Doch wie nahe muss ein dem „Ausgangspunkt
naheliegender Punkt“ liegen, um als
„naheliegend“ zu gelten? Ist Berlin Friedrichstraße
nahe genug am Alexanderplatz? Oder
nur der Hackesche Markt? Oder gar der Zoo?
Die Fälle, in denen Verkehrsbetrieb, Kontrollpersonal
und Kunde dies unterschiedlich
interpretiert haben, sind unzählbar. Wer als
Verkehrsunternehmen dann seine Rechtsposition
ausnutzt und sich daran bereichert,
steht moralisch auf der gleichen Ebene wie
Hütchenspieler, Kaffeefahrtbetreiber und
Trickbetrüger.
Versprochene Tarifreform blieb aus
Bereits 2007 hatte die damalige Berliner
Stadtentwicklungssenatorin Ingeborg Junge-
Reyer diesen Missstand angemahnt und
wollte bis zu einer Tarifreform keine einzige
Tariferhöhung mehr genehmigen (siehe
SIGNAL
3/2017, Seite 16-17). Bereits ein Jahr
später hatte jeder Beteiligte dieses Ultimatum
bereits wieder „vergessen“. Schade.
Statt reformiert zu werden, stieg der Tarif
von Jahr zu Jahr – es sei denn, Wahlen
standen an. Das sorgt allerdings dafür, dass
sich immer mehr Gruppen die teuren Standardtickets
nicht mehr leisten können und
einen Ausgleich bzw. einen eigenen Sondertarif
fordern. Das ist der eine Grund, weswegen
sich der Tarif unaufhörlich aufbläht
und sich die Tarifstufen wie Ungeziefer vermehren.
Der andere Grund ist die Gier, aus
jeder Nutzerschicht das Maximale an Erlös
herauszuquetschen. So hält man beispielsweise
Fahrradfahrer für etwas zahlungsbereiter
als Eltern, ergo teilt man das zuvor für
alle geltende Ermäßigungsticket in ein Ermäßigungsticket
und ein Fahrradticket auf.
Das Fahrradticket ist dann 10 oder 20 Cent
teurer als das Ermäßigungsticket, und schon
ist eine komplett neue Tarifstufe geschaffen,
für die es wieder Einzeltickets, Kurzstrecken,
Tageskarten etc gibt. Und damit nicht genug!
Inzwischen gibt es für fast jedes touristische
Ziel Sondertickets mit Sonderbestimmungen
und Sonderpreisen, die mal teurer,
mal günstiger als die Standardtickets sind, je
nachdem, wie die anvisierte Käuferschicht
nach unterschiedlich haarsträubenden Gesichtspunkten
finanziell eingeordnet wird.
Gezielt gesteuert wird das alles allerdings
so gar nicht mehr. Wer schreit, kriegt seine
Extrawurst. Egal, wie sich das auf die Grundsätze
Tarifgerechtigkeit, Einfachheit und
Erklärbarkeit des VBB-Tarifs auswirkt. Potsdam
will, dass die Kurzstrecke künftig bei
sich eine oder zwei Stationen weniger weit
gilt? Bitte sehr!
VBB ohne Bereichsleiter Tarif
Das wirkt nicht nur kopflos, das ist es auch.
Nachdem vor über anderthalb Jahren (2015)
herauskam, dass der VBB seine Kunden über
die Datenschutzproblematik ihrer elektronischen
Fahrcard nachweislich falsch und
manipulativ informiert hat, verließ kurz darauf
der damalige Leiter des Bereiches „Tarif
und Vertrieb“, Matthias Stoffregen, den VBB.
Seitdem ist die Position unbesetzt.
Nochmal: Seit über anderthalb Jahren hat
das Unternehmen, welches hauptsächlich
dafür gegründet wurde und dessen Hauptaufgabe
es ist, den gemeinsamen Fahrscheintarif
in Berlin und Brandenburg zu
verwalten, keinen Bereichsleiter, also keinen
Verantwortlichen für eben diese Aufgabe!
Kein Wunder also dass alle Überlegungen
zum Tarif inzwischen von außerhalb des VBB
kommen. Dabei gehen die Vorstellungen
weit auseinander und sind auch häufig von
Partikularinteressen vorangetrieben.
Von links kommt das sogenannte „Bürgerticket“.
Heißt: Alle Bewohner zahlen ähnlich
wie beim Rundfunk zwanghaft in einen Topf
ein und dürfen dafür im Gegenzug den ÖPNV
kostenlos nutzen. Das Konzept hat mindestens
zwei ganz offensichtliche Schwachstellen:
Der öffentliche Nahverkehr ist bereits
etwa zur Hälfte steuerfinanziert. Finanziert
man die andere Hälfte über eine extra zu
verwaltende Umlage, hat man zwei Verwaltungsstrukturen
geschaffen, die beide das
Gleiche machen. Die andere Schwachstelle
ist eine ökologisch-ökonomische: Hat jeder
Bewohner der Stadt zwanghaft für sein Ticket
bezahlt, steigt der Nutzerwillen. Und
zwar vor allem bei denen, die bisher viel
ökologischer als mit Bahnen und Bussen
unterwegs waren: Radfahrer und Fußgänger.
Gleichzeitig wären öffentliche Verkehrsmittel
als noch weniger wertig betrachtet,
die Grenze zum öffentlichen Straßenraum
verschwindet und auch die Möglichkeit der
Durchsetzung des Anspruchs der Nutzer auf
ein verlässliches, qualitatives Verkehrsmittel.
Die Nutzer zahlen immer – egal wie schlecht
und runtergekommen der ÖPNV wird.
Gefahr durch
entfernungsabhängigen Tarif
Die Wirtschaftsseite und digitale Bohème
hingegen, welche ihre überteuerten und
veralteten Techniklösungen verkaufen
wollen, sehen den Heilsbringer im entfernungs-
und mondphasenabhängigen Elektroniktarif
mit oder ohne Zugangsschranken,
wo jeder Kunde nach seiner eigenen ganz
persönlichen Zahlungsfähigkeit geschröpft
werden kann. Der Kunde kauft die Katze im
Sack, denn was die Fahrt kostet, ist bestenfalls
nachträglich zu erfahren. Beschriehen
wird dies als besonders gerecht, vor allem
von den Personen, die es sich leisten können
in der Innenstadt nahe ihres Arbeitsplatzes
zu wohnen und es als besonders
ungerecht empfinden, dass die Menschen,
die sie kurz zuvor noch aus der Innenstadt
weggentrifiziert haben und die nun weite
Pendelstrecken zu ihrem Arbeitsplatz zurücklegen
müssen und dabei viel Lebenszeit
verschwenden, kaum mehr bezahlen, als sie
selbst.
Dasselbe Argument wird auch gern verwendet,
um die teuren Berliner Fahrpreise
zu rechtfertigen und immer weiter an der
Preisschraube zu drehen. Schließlich bekäme
man ja als Kunde viel mehr geboten,
als in München, Frankfurt oder Wien. So
eine schön lange Strecke von Köpenick bis
nach Spandau wäre in diesen Städten gar
nicht abgedeckt, weil deren Stadtgebiet
ja viel kleiner ist. Nur: Der Berliner hat sich
die Größe seiner Stadt nicht ausgesucht.
Er fährt genau wie der Münchner oder der
Wiener zur Arbeit, zum Einkaufen, zur Oma
oder zu Freizeiteinrichtungen. Warum er es
als besonderen Vorteil anzusehen hat, dafür
besonders viele Kilometer und Zeit aufwenden
zu müssen, bleibt dahingestellt. Das als
„Tarifgerechtigkeit“ zu definieren, wäre aber
mindestens zynisch.
VBB-Tarif: Wohin?
Wohin soll der Tarif in Berlin und Brandenburg
also entwickelt werden? Nun, eine
Nutzergruppe hat sich in den letzten Jahren
einen so einfachen wie genialen Tarif erkämpft:
die Senioren. Mit dem Abo 65plus
haben sie eine Abokarte, mit der sie überall
hinfahren können. In ganz Berlin und Brandenburg.
Jederzeit. Zu einem erschwinglichen
Preis. Sie müssen nicht auf Uhrzeiten
achten, Tarifzonen, Waben oder irgendwelche
Sonderregeln. Das ist fair, trotz oder gerade
wegen der Freiwilligkeit.
Seniorenticket für alle?
Ja, warum denn nicht! Ein unschlagbar
günstiges Monatsticket, was sich jeder
leisten kann, würde gleich mehrere Sonderlösungen
überflüssig machen, den Tarif
vereinfachen und die Abozahlen drastisch
steigern. Gleichzeitig sollte ein Senat, der
sich die Förderung des ÖPNV auf die Fahnen
geschrieben hat, die Fehlentwicklung
der Ticketpreise korrigieren. Schließlich hat
sich die Beteiligung der Kosten für den ÖPNV
in den letzten 20 Jahren stark in Richtung
Nutzerfinanzierung verschoben.
Der Nutzeranteil (Fahrgeldeinnahmen)
lag in Berlin im Jahr 2007 bei schlechter
Haushaltslage bei etwa 50 Prozent. Im europäischen
Vergleich war das schon damals
ein ziemlich schlechter Schnitt. In Barcelona
waren die Nutzer hingegen zu 44 Prozent
beteiligt, Madrid zu 40 Prozent, Amsterdam
und Paris zu je 39 Prozent und in Brüssel sogar
nur zu 32 Prozent.
Trotzdem hat sich das Verhältnis seitdem
in Berlin weiter verschlechtert. Inzwischen
tragen die Berliner Kunden fast zwei Drittel
der Kosten direkt über ihre Fahrgelder.
Der Steuerzahler hingegen nur noch knapp
über einem Drittel. Damit sind Fahrpreissteigerungen
im Tarifgebiet Berlin schon länger
nicht mehr gerechtfertigt.
Mehr noch: Dieses Missverhältnis muss
schnellstmöglich korrigiert werden. Ein
preislich deutlich reduziertes Aboticket für
alle wäre ein guter Anfang. Dringend folgen
müsste eine drastische Ausholzung der Tariffallen
und Sonderregeln, die ungerechtfertigte
Schwarzfahrerfälle bei Kunden provozieren,
die eigentlich ein Ticket bezahlt
haben.
Fazit
Unkontrolliert wuchernde Tarifstufen und
zu viele Partikularinteressen haben den
sinnvollen VBB-Tarif nach und nach in ein undurchschaubares
Etwas verwandelt. Kopflos
verrannte man sich in Sonderkonditionen
und Ausnahmen sowie in eine veraltete
teure E-Ticket-Lösung. Das steht im krassen
Gegensatz zu den bei Gründung verordneten
Grundsätzen der Tarifgerechtigkeit, Einfachheit
und Erklärbarkeit. Um den Gemeinschaftstarif
für beide Länder zukunftssicher
zu machen, ist es nun notwendig, zu diesen
Grundsätzen zurückzukehren. Ein einfacher,
niedriger Tarif für alle könnte dies wiederherstellen.
Dazu bedarf es aber Mut, alte
Zöpfe abzuschneiden und Weitsicht, was
gesellschaftlich sinnvoll und vertretbar ist.
Wer sich dieser Herausforderung stellt, das
Tarifsystem im Sinne der Gemeinschaft und
der Fahrgäste zu reformieren, wird sicherlich
zunächst zur unbeliebtesten Person der hiesigen
Verkehrsbranche. (hm)
Berliner Fahrgastverband IGEB
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