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Es soll ja Menschen geben, die einem Ausbau
des Berliner Straßenbahnnetzes skeptisch
gegenüberstehen. Ihnen sei ein Ausflug
zum U-Bahnhof Osloer Straße empfohlen,
am Nachmittag eines x-beliebigen
Werktags: Dann ist dort selbst der Straßenbahnsteig
Richtung Virchow-Klinikum
meist mit Wartenden gut gefüllt – obwohl
es bis zur Endstation nur noch fünf Haltestellen
sind und auf dem Weg noch der
U-Bahnhof Seestraße liegt, der auch einige
Verkehrsbedürfnisse abdecken dürfte.
Wenn man zur selben Zeit in der Gegenrichtung
einen Sitzplatz bekommt, hat
man Glück: Am U-Bahnhof Osloer Straße
kommen insbesondere die Züge der M 13
schon voll an, und etwas leerer werden sie
frühestens in Weißensee.
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Am 14. Oktober 1995 kehrte über die Bösebrücke die Straßenbahn ins einstige West-Berlin zurück. Foto: Jan Gympel |
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Weshalb diese Beschreibungen? Weil
die Tramstrecke über die Osloer Straße
und die Seestraße bis heute die einzige ist,
die einige Kilometer weit in den ehemaligen
Westteil der Stadt hineinführt. Wieder
dorthin führt. Denn auf dieser Trasse verkehrten
schon einmal Züge. Bis 1964/65,
als sie im Zuge der Zerstörung des West-Berliner
Straßenbahnnetzes aufgegeben
wurde.
Man sollte in diesem Zusammenhang
unbedingt Begriffe wie „Zerstörung“
oder „Vernichtung“ verwenden, nicht so
harmlos und elegant klingende Vokabeln
wie „Abbau“, das friedlich anmutende
„Stilllegung“ oder gar das schönfärberische
„Rückbau“: Den meisten Menschen
ist kaum mehr bewusst oder auch nur
bekannt, welch ein Wahnsinn sich damals
abgespielt hat.
Vorwand Fahrgastfluss
Am Ende des Jahres 1953, in dessen Sommer
der Beschluss zur Aufgabe des Straßenbahnbetriebs
fiel, hatte das betriebsfähige West-Berliner
Netz (von dem das Ost-Berliner im
Januar 1953 abgetrennt worden war) eine
Streckenlänge von rund 267 Kilometern –
weit mehr als heute, mit rund 192 Kilometern,
in ganz Berlin existiert, weit mehr auch, als
(selbst bei günstiger Entwicklung) 2053 existieren
dürfte, wenn das hundertste Jubiläum
des Beginns der Straßenbahnschlachtung
begangen werden kann.
Die Straßenbahn fuhr mit ihren 37 Linien
nach Buckow und nach Lichtenrade, nach
Rudow und nach Lichterfelde bis an die
Stadtgrenze, sie fuhr nach Marienfelde und
Waidmannslust, nach Heiligensee und Tegelort,
zum Johannesstift und nach Hakenfelde,
durch Spandau, Grunewald, Dahlem, Reinickendorf,
Steglitz, Britz und alle Innenstadtbezirke,
auf nahezu allen großen Verkehrsadern,
und dort nicht selten auf straßenunabhängigen
Gleiskörpern.
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Auch vor 25 Jahren wurde der Einstellung des West-Berliner Straßenbahnbetriebs gedacht. Auf eine richtige Renaissance der Straßenbahn wartet man in der Hauptstadt aber bis heute, die Berliner Straßenbahnpolitik ist eher ein Trauerspiel und die Tram deshalb noch immer nicht nach Charlottenburg zurückgekehrt. Erst der aktuelle Senat hegt dafür konkrete Pläne. Fotomontage: BUND Berlin |
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Der Beschluss, dies alles, das nach den
verheerenden Kriegsschäden gerade erst
mühsam und doch in enormem Tempo wiederaufgebaut
und auch, mit der Umstellung
auf Scherenstromabnehmer, modernisiert
worden war, aufzugeben, fiel eher beiläufig:
Der BVG-Beirat stimmte zu, den im Februar
1953 gestellten und bewilligten Kreditantrag
der BVG-Direktion statt für vierzig Großraum-Straßenbahnzüge
und zwanzig Busse lieber
für 140 Doppeldecker zu verwenden. Im August
wurde diese Entscheidung noch einmal,
mit knapper Mehrheit, bestätigt. Der Senat
segnete sie im Januar 1954 ab.
Als Vorwand dienten die schlechten Erfahrungen
mit den beiden Prototypen neuer
Tramzüge. Nicht nur wurde so getan, als sollten
Prototypen gerade dazu dienen, Probleme
und Mängel im Praxisbetrieb aufzuspüren.
Geflissentlich wurde auch ignoriert, dass
zahlreiche der Schwierigkeiten daher rührten,
dass die BVG mit den neuen Zügen den Fahrgästen
ein ganz neues Verhalten anerziehen
wollte: Einstieg nur hinten, Ausstieg nur in der
Mitte und vorn, im Gänsemarsch vorbei am
Sitzschaffner (der weiterhin auch die Abfertigung
übernehmen sollte), und bitte immer
schön weiter durchtreten ins Vordere des
Großraumwagens.
Völlig überraschenderweise klappte das
nicht auf Anhieb, führte zu Verzögerungen
und Ärger und diente dann als eine wichtige
Begründung, gleich das ganze System Straßenbahn
zu beseitigen. Beim Bus hingegen
begann die BVG erst in den späten sechziger
Jahren, den Fahrgastfluss flächendeckend
einzuführen (Pendelschaffner gab es dort
noch in den Siebzigern). Bei der Tram spricht
davon heute niemand mehr.
Weltniveau auf dem Kudamm
Wie sehr es in Wahrheit einfach darum ging,
sich der Straßenbahn zu entledigen, zeigt
auch der Umstand, dass als erstes, 1954, die
Strecke auf dem Kurfürstendamm stillgelegt
wurde (dies war die Geburtsstunde der Omnibuslinien
19 und 29): Der Kalte Krieg tobte,
der einstige „Neue Westen“ rund um die
Gedächtniskirche wurde nun zur City West-Berlins
und der Kudamm avancierte von der
mondänen Luxusmeile zum Boulevard für
alle, zur Bühne der (halben) Stadt und zur
schönsten Auslage in jenem „Schaufenster
der freien Welt“, das die Westsektoren sein
sollten. Eine Straßenbahn hatte da nichts
mehr zu suchen. Ihr Gleisbereich wurde zu
Parkplätzen umgewandelt.
Die Busverbindung zum Flughafen Tempelhof,
die nun der 19er herstellte, hatte die
BVG übrigens schon zuvor eingerichtet: Westlicher
Endpunkt der Sonderlinie war die Ecke
Kurfürstendamm und Knesebeckstraße gewesen.
Auf der gesamten Strecke verkehrte
auch die Straßenbahn. Aber sie zu benutzen,
hatte man jenen, die durch die Luftkorridore
eingeschwebt waren, nicht zumuten wollen.
West-Berlin, die bedrängte „Frontstadt“
und politische Insel, meinte, seine Modernität
und Leistungsfähigkeit auch mit der Abschaffung
der Tram unter Beweis stellen zu
müssen. Und schließlich: London, Paris und
New York, mit denen man sich in der gleichen
Liga sehen wollte, hatten sich der Straßenbahn
ebenfalls entledigt.
Kaum Widerspruch
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Das im Linienverkehr befahrene Streckennetz der Berliner Straßenbahn 1951 im vorletzten Jahr vor seiner Teilung und drei Jahre vor dem Beginn der Stilllegungen im Westen. Nur rund ein Drittel davon blieb (in Ost-Berlin) erhalten. BVG-Archiv |
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Wie sehr sich diese Politik im Einklang mit
dem Zeitgeist befand, zeigt auch die Tatsache,
dass sich gegen sie kaum Widerspruch regte.
Dies hat eben nicht nur mit dem noch vorherrschenden
autoritären Denken zu tun: So
verhinderten massive (auch Bürger-) Proteste
in jenen Jahren etwa, dass der Hauptturm der
alten Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche abgerissen
wurde.
Das Verschwinden der Straßenbahn wurde
zwar wehmütig ein wenig beweint, aber
gemeinhin als unvermeidlich angesehen:
Immer wieder hieß es, die Zeit dieses Verkehrsmittels
wäre eben vorüber und das Alte
müsse weichen. Im Juni 1959 führte das Institut
für Markt- und Verbraucherforschung der
FU eine repräsentative Umfrage durch, bei
der 70 Prozent der tausend Teilnehmer die
Abschaffung der Tram befürworteten. Nur 22
Prozent sprachen sich dagegen aus.
So kam denn auch über die genaue „Abwicklung“
des Straßenbahnsterbens keine
große Debatte auf: Die erste großflächige
Stilllegung am 1. Juni 1958, mit der fast der
gesamte Bezirk Reinickendorf tramfrei gemacht
wurde, konnte noch mit der Eröffnung
der U-Bahn nach Tegel begründet werden.
Doch abgesehen davon, dass diese eben
nicht wie die Tram weiter bis nach Heiligensee
und Tegelort fuhr: Eine solche „Umstellung
auf U-Bahn-Betrieb“ sollte in Zukunft die
Ausnahme bleiben.
Chaotische Straßenbahnschlachtung
Nutzung von U-Bahn-Vorratsbauten Der Senat hat in seiner Sitzung am 11. Juli 2017 Folgendes besprochen: Der Senat führt eine eingehende Aussprache über die Verkehrsentwicklung in Berlin und die für die Beförderungsleistungen vorzusehenden Verkehrsmittel anhand der von Senatorin Günther erläuterten Besprechungsunterlage der Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz vom 26. Juni 2017. Dabei besteht Einvernehmen im Senat, die Priorität für den Ausbau von Verkehrsmitteln – wie zwischen den Koalitionspartner vereinbart – weiterhin auf die Straßenbahn und den Ausbau der Fahrradwege zu legen. Es besteht außerdem Übereinstimmung, dass eine Verlängerung der U-Bahn bis zum Flughafen BER keine sinnvolle Verkehrsinvestition ist, da die Anbindung des BER durch die Dresdener Bahn und die S-Bahn sichergestellt sei. Der Regierende Bürgermeister hält es im Rahmen einer vorausschauenden Verkehrspolitik für die wachsende Stadt für geboten, auch über eine Ergänzung des bestehenden U-Bahn-Netzes nachzudenken und einzelne Streckenabschnitte vertieft zu prüfen, selbst wenn eine mögliche Realisierung frühestens in der nächsten Wahlperiode erfolgen könne. Auf dieser Grundlage bittet der Senat Senatorin Günther, die Verlängerung der U 8 ins Märkische Viertel, eine Verlängerung der U 9 oder der U 2 in den am stärksten wachsenden Bezirk Pankow, eine Verlängerung der U 1 bis zum Adenauerplatz und eine Verlängerung der U 7 zur Erschließung der Wohngebiete südlich des U-Bahnhofs Rudow bis zur Stadtgrenze oder zum S-Bahnhof Berlin-Schönefeld zu prüfen und dem Senat das Prüfergebnis zur Besprechung vorzulegen.
Bald verlief die Straßenbahnschlachtung
chaotisch, überstürzt, getrieben von blindem
Zerstörungswillen. Obwohl sich die
West-BVG durch den S-Bahn-Boykott, der
nach dem Mauerbau am 13. August 1961 ausgerufen
worden war, in höchster Not befand,
ihr dutzende Busse westdeutscher Betriebe
aushelfen mussten, sie weitere teuer anmietete
und schnell neue kaufte (derweil es viele
überzählige Tramwagen gab), wurden am
1. September und am 1. Oktober 1961 weitere
Straßenbahnstrecken „auf Busbetrieb umgestellt“.
Auch die Einrichtung neuer Tramlinien
lehnten Senat und BVG strikt ab.
Lieber hielt die BVG in der ersten Hälfte
der Sixties viele Kilometer lange Strecken unter
Strom, auf denen keine Fahrgäste mehr
befördert, die wegen des kopflosen Vorgehens
aber aus betrieblichen Gründen noch
gebraucht wurden. So dienten zwei Jahre
lang, von Oktober 1964 bis Oktober 1966,
auch die Gleise in der Tauentzienstraße nur
noch internen Zwecken. Gerade erst gebaute
oder erneuerte Trassen gab man nach zwei
Jahren und weniger auf, stellte Fahrzeuge
trotz eben erst durchgeführter Hauptuntersuchung
oder gar Modernisierung ab, bekam
Probleme
mit der Umsetzung des viel zu
schnell freiwerdenden Personals.
Ab Oktober 1964, rund zehn Jahre nach den
ersten Stilllegungen, verkehrten nur noch
vier, teils voneinander isolierte Linien im Süden,
außerdem gab es die drei Verbindungen
(mit fünf Linien) zwischen Spandau und Charlottenburg.
Letztere, so hieß es, sollten noch
bis Anfang oder gar Mitte der siebziger Jahre
bestehen bleiben. Der verbliebene Fuhrpark
wurde entsprechend sorgsam gepflegt.
Dann ging auch hier alles holterdiepolter:
Im Januar 1966 gab man die Strecke über die
Heerstraße (modern ausgebaut wie manch
andere in den Außenbezirken) auf und stellte
die neuesten Fahrzeuge ab. Mit dem Fahrplanwechsel
am 1. Oktober 1967 war dann
ganz Schluss. Tags darauf gab es noch die
Abschiedsfeier.
„Autobusse“ auf Stadtautobahnen
Die Feindseligkeit gegen die Straßenbahn
war aber nicht nur eine Folge des falsch
verstandenen Fortschrittsrauschs. Hinter
ihr steckte auch die handfeste Konkurrenz
um den Straßenraum. Und der blinde Glaube
an die Aussagen von Fachleuten: In den
fünfziger Jahren prophezeiten praktisch alle
Experten einen baldigen totalen Verkehrskollaps,
würden die Straßen nicht schleunigst
den wachsenden Kfz-Massen angepasst.
In West-Berlin wurde die Stilllegung
von Tramstrecken oder gleich ganzer Linien
oft veranlasst durch Baumaßnahmen auf
Hauptverkehrsstraßen. Nach dem Aus für
das angebliche Verkehrshindernis konnte
man dann den Straßenquerschnitt neu gestalten:
Aus dem breiten, teils von Hecken
oder gar Bäumen gesäumten Gleiskörper
wurden zwei Fahrspuren für Autos. Oder
wenigstens Parkplätze.
Der Omnibus wurde zumindest von den
Verkehrsplanern auch als (vorläufiger) Ersatz
für den eigenen Pkw betrachtet. Nicht von
ungefähr sprach die West-BVG seit Anfang
der fünfziger Jahre konsequent vom „Autobus“.
Seinen Liniennummern stellte man ein
„A“ voran, um sie von denen der vermeintlich
veralteten, also minderwertigen Straßenbahn
zu unterscheiden. Als Ende November
1958 der erste Abschnitt der Stadtautobahn
eingeweiht wurde, fuhren bereits in der Eröffnungskolonne
auch Doppeldecker der
BVG mit. Es ist ein weitverbreiteter Irrtum,
dass der Linienbusverkehr über die Stadtautobahn
erst mit dem S-Bahn-Boykott 1961
eingeführt worden wäre. Vielmehr lautete
die offizielle Begründung dafür, auf diese
Weise sollten auch all jene Menschen in den
Genuss der schönen neuen „Straßen von
morgen“ kommen, die sich noch keinen eigenen
Wagen leisten könnten.
Das damals entworfene Netz von Stadtautobahnen
mit Ring, vier die ganze Stadt
durchquerenden Tangenten und einigen
Ergänzungsstrecken galt als dringende Sofortmaßnahme.
Nur ein Bruchteil davon ist
realisiert worden – und 60 Jahre später der
Verkehr in Berlin noch immer nicht zusammengebrochen.
Obgleich die Treibstoffpreise bis zur Ölkrise
1973 sehr niedrig waren – ökonomischer
Unsinn war die Umstellung von der heute
vielbeschworenen „Elektromobilität“ auf anfangs
ungefiltert ihre Abgase verbreitende
Dieselfahrzeuge schon damals: Man wusste,
dass die Betriebskosten für Busse höher
liegen als für Straßenbahnen, und die BVG
(West) machte dies auch deutlich, indem sie
von 1952 bis 1976 für eine Busfahrt einen höheren
Preis verlangte als für eine Fahrt mit
der U- oder Straßenbahn. So brachte deren
Verschwinden, neben dem Verlust vieler Direktverbindungen,
für die Fahrgäste auch
noch Mehrkosten. (Übrigens kämpfte die
West-Berliner BVG in jenen Jahrzehnten mit
stetig sinkenden Fahrgastzahlen und einem
ebenso stetig steigenden Defizit.)
Ost-Berlin fehlten die Mittel,
nicht der Willen
Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) bedarfsgerecht ausbauen Die Koalition will den Ausbau der Straßenbahn vorantreiben. Unter Beteiligung der Öffentlichkeit wird sie innerhalb der nächsten fünf Jahre ein Zielnetz für den Ausbau der Straßenbahn festlegen, dieses in den StEP Verkehr einarbeiten und im Flächennutzungsplan verankern. […] Für die folgenden Strecken wird die Koalition die Vorplanungen und Planfeststellungsverfahren sofort einleiten, so dass die bauliche Umsetzung innerhalb der Wahlperiode 2016 bis 2021 beginnen kann: Alexanderplatz Kulturforum—Kleistpark—Rathaus Steglitz (M 48 und M 85); Turmstraße—Mierendorffplatz; S+U-Bahnhof Warschauer Straße Hermannplatz (unter Prüfung alternativer Routen zur Querung des Görlitzer Parks); Erschließung des Neubaugebiets Blankenburger Pflasterweg (Verlängerung M 2 ab Heinersdorf) und die Tangentialstrecke Pankow—Heinersdorf—Weißensee. Auszug aus der Berliner Koalitionsvereinbarung von SPD, Linken und Grünen für die Legislaturperiode 2016 bis 2021
Es spricht manches dafür, dass man sich auch
in Ost-Berlin gern der Straßenbahn entledigt
hätte – nur fehlten dort die ökonomischen
Möglichkeiten, den gleichen Blödsinn zu
machen wie auf der anderen Seite der Mauer
(was schließlich ganz Berlin das Schicksal
Hamburgs ersparte).
Aber wenigstens aus dem Stadtzentrum
sollte die Tram weitgehend verbannt werden:
Ob in der Leipziger Straße oder rund um
den Alexanderplatz – wo die DDR modernen
Städtebau nach dem (westlichen) Lehrbuch
realisierte, hatte eine Straßenbahn genausowenig
etwas zu suchen wie Altbauten. Beim
Stilllegen ging es dann ähnlich unsinnig zu
wie im Westen: Die 1960/61 neugebaute Strecke
über die Alexanderstraße etwa existierte
nur sechs Jahre lang, die benachbarte Schleife
Wallnerstraße nur wenige Monate mehr
(die neue Gleisschleife auf dem Dönhoffplatz
brachte es sogar bloß auf dreieinhalb Jahre).
Grund dafür war die Umgestaltung des
Alexanderplatzes,
und im Fahrplanheft Winter
1966/67 erläuterte die BVG-Ost, wie sehr
dort vor allem die Tram den Verkehr behindere
und für haufenweise Unfälle sorge.
Unter diesem Vorwand wurde die bis auf
weiteres unentbehrliche Straßenbahn ab
Anfang 1967 um das neue „sozialistische
Stadtzentrum“ in großem Bogen herumgeführt
und am Schönhauser Tor beispielhaft
der von allen Experten seinerzeit gepriesene
„gebrochene Verkehr“ vorexerziert: Tagtäglich
stiegen hier gewaltige Menschenmassen
zwischen der Straßenbahn und der (ohnehin
überlasteten) U-Bahn um, auf ihrem Weg
vom und zum Alex oder zur Friedrichstadt
rund um die Leipziger Straße, die ab Sommer
1970 ohne Tram war.
Erst die Ölkrise 1973 und der darauffolgende
dauerhafte Anstieg des Ölpreises auf
dem Weltmarkt brachten die Abkehr von der
verfehlten Verkehrspolitik, der Anfang der
siebziger Jahre neben der Straßenbahn in
Treptow auch noch das Ost-Berliner Obusnetz
zum Opfer gefallen war: Die 1975 eröffnete
neue Tramtrasse durch die östliche
Herzbergstraße, die Allee der Kosmonauten
und die Rhinstraße war nur ein Ersatz
für die Stilllegung auf der heutigen B 1/5,
die autobahnartig ausgebaut wurde. Aber
unmittelbar darauf begann der Bau neuer
Strecken in die im Entstehen begriffenen
Trabantenstädte. Von 1979 bis 1991 wurden
gut 30 Kilometer eröffnet – soviel wie seit
der Zeit der Weimarer Republik nicht mehr.
Von diesem in der DDR erreichten Tempo
kann man heute nur träumen.
Die Riesenchance wurde kaum genutzt
Es war ja auch weniger verkehrspolitische Einsicht
und Vernunft als wirtschaftliche Not, die
die Renaissance der Straßenbahn in der gesamten
DDR brachte. Dem wiedervereinten
Berlin scheint es dagegen immer noch viel zu
gut zu gehen: Die Riesenchance, die sich mit
der Wiedervereinigung bot, den Riesenfehler
von 1953 zu korrigieren (wie groß er war, zeigt
auch ein Blick darauf, wie schwierig es mittlerweile
ist, neue Strecken zu bauen), wurde
kaum genutzt.
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Am U-Bahnhof Osloer Straße am Nachmittag eines durchschnittlichen Werktags: Auch auf den Zug Richtung Virchow-Klinikum, der nur noch fünf weitere Haltestellen anfährt, warten viele Menschen (linker Bahnsteig). Die bisher einzige neue Straßenbahnstrecke weit in den ehemaligen Westteil der Stadt hinein ist ein voller Erfolg. Foto: Jan Gympel |
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Dabei ist der Wiederaufbau der Tram über
die Osloer und die Seestraße wie eingangs
erwähnt ein voller Erfolg. Gleiches gilt für
die Strecke durch die Bernauer Straße, wo
die Straßenbahn immerhin ganz am Rande
des ehemaligen Westteils der Stadt
entlangfährt – in Gestalt der M 10 teils im
Fünf-Minuten-Takt. Es gilt ebenso für den
kurzen Abstecher, den die Tram über die
einstige Sektorengrenze hinweg zum neuen
Hauptbahnhof macht – mit drei Linien und
ebenfalls oft vollen Zügen. Es gilt aber auch
für die Strecken, die nach 1990 wieder zum
Alexanderplatz
gebaut wurden.
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In der Dorotheenstraße befindet sich die älteste Straßenbahnendhaltestelle Deutschlands, die noch angefahren wird: In Betrieb genommen wurde sie am 28. August 1865, rund zwei Monate nach der Eröffnung der ersten deutschen Straßenbahn (Brandenburger Tor—Charlottenburg). Die Aufnahme ist von 2015, der Blick auf das Neue Museum inzwischen verbaut. Foto: Jan Gympel |
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Nicht nur in Berlin, sondern praktisch überall,
wo neue Straßenbahnstrecken eröffnet
wurden, werden diese von mehr Fahrgästen
genutzt als erwartet. Woran das wohl liegt?
Auch dies mal auszuprobieren, sei Tramskeptikern
und -feinden empfohlen: Vergleichen
Sie eine ruckelige Busfahrt mit viel Stop-and-Go,
Geschaukel, Hin- und Herschlenkern mit
dem ruhigen Dahingleiten einer Straßenbahn!
Zudem existieren im einstigen Westteil Berlins
zahlreiche Buslinien, deren hohe Auslastung
schon aus ökonomischen Gründen eine
Umstellung auf Straßenbahnbetrieb dringend
notwendig macht. Aber seit 1990 gab es neben
vielen schönen Plänen vor allem deren
erfolgreiche Verschleppung – die Tramgegner
in Politik und Verwaltung haben wenigstens in
dieser Frage sehr effizient gearbeitet.
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Die Zukunft, die nie kam: Einer der beiden 1952 ausgelieferten Prototypen eines Großraumzuges in Hakenfelde. Die Probleme bei der Erprobung dieser Einrichtungsfahrzeuge dienten als Vorwand für die Aufgabe des West-Berliner Straßenbahnbetriebs Foto: Slg. Hilkenbach/Kramer |
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Allerdings ging es in den Neunzigern mit
dem Ausbau der Straßenbahn noch relativ
zügig voran. Immerhin wurde in jenen Jahren
auch das bestehende Netz umfassend saniert
und modernisiert. Der Bau neuer Strecken
kam erst im neuen Jahrtausend fast zum Erliegen
– unter dem rot-roten Senat.
Spandau? Undenkbar!
Angesichts der Erfahrungen der letzten anderthalb
Dekaden erwartet man schon gar
keine kühnen Pläne mehr, die dann auch
angegangen würden. Keinen großen Wurf,
etwa den Wiederaufbau eines Straßenbahnnetzes
in Spandau, das mit seinen massiven
Problemen heute ein besonders erschütterndes
Beispiel für die Folgen der verfehlten Verkehrspolitik
ist.
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Auch in der äußerst angespannten Fahrzeugsituation kurz nach dem Mauerbau 1961, als die BVG (West) viele Busse lieh, mietete und kaufte, wurde die Zerstörung des West-Berliner Straßenbahnnetzes fortgesetzt: Anfang Mai 1962 erfolgte die Stilllegung der Linie 73, hier im Monat zuvor aufgenommen an ihrer Endhaltestelle auf dem Jungfernstieg in Lichterfelde, wo 1881 die erste dauerhaft betriebene elektrische (Straßen-) Bahn der Welt verkehrte. Die 73 fuhr über die Königsberger Straße zum Hindenburgdamm und von dort, gemeinsam mit der von der Finckensteinallee kommenden 74, über Hindenburgdamm, Schloßstraße, Rheinstraße, Hauptstraße, Potsdamer Straße. Bis zum Mauerbau 1961 konnte man auf der anderen Seite des Potsdamer Platzes mit demselben Ticket die Fahrt auf der Ost-Berliner Linie 74 bis Weißensee fortsetzen. Foto: Wolfgang Kramer |
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So darf es denn schon als Erfolg verbucht
werden, dass die Pläne zur Stilllegung diverser
Strecken, die seit 1990 immer wieder lanciert
wurden, anscheinend endgültig vom Tisch
sind. Man gibt sich zufrieden mit der im Koalitionsvertrag
bekundeten Absicht, bis zu den
nächsten Abgeordnetenhauswahlen immerhin
endlich die Streckenverlegung am Ostkreuz
zu bauen, die kleine Verlängerung vom
Hauptbahnhof zur Turmstraße, den Lückenschluss
zwischen Adlershof und Schöneweide.
Und die Planung weiterer, teils ebenfalls seit
Jahrzehnten vorgesehener Strecken so voranzubringen,
dass es schon nach den Wahlen
2021 heißen könnte: „Jetzt fang wa gleich an.“ –
Wenn der dann regierende Senat noch will.
Den amtierenden haben derweil die
U-Bahn-Fans (oder auch die Straßenbahngegner
und Autofreunde) dazu gebracht,
die ohnehin unzureichenden personellen
Kapazitäten der Verkehrsverwaltung für
die „Prüfung“ aller möglicher U-Bahn-Verlängerungen
zu vergeuden. Man kann sich
ausmalen, wie intensiv manche Politiker
„bearbeitet“ worden sein dürften, damit es
zum Senatsbeschluss vom 11. Juli 2017 (siehe
Kasten) gekommen ist. Faktisch wandte
sich der Senat damit von der im Koalitionsvertrag
vereinbarten Linie ab, hatte man
dort doch zahlreiche Straßenbahnprojekte
ausdrücklich aufgeführt, aber auf eine Erweiterung
des U-Bahn-Netzes kein Wort
verschwendet. Angesichts dieses Umfelds
und angesichts auch des Zustands, in dem
sich die Berliner Verwaltung mittlerweile befindet,
wäre man in Sachen Tramnetzausbau
schon mit kleinen Brötchen zufrieden, wenn
diese auch wirklich gebacken würden.
Jan Gympel
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