Ob August Borsig, Adolph von Menzel, Alfred
Kerr, Hans Baluschek, Boleslaw Barlog
oder Wolfgang Neuss: Sie alle bestätigten
das einst geflügelte Wort, demzufolge die
echten Berliner aus Breslau kämen. Viele von
ihnen werden aus der schlesischen Metropole
per Bahn in die preußische, dann deutsche
Hauptstadt gelangt sein. Für deren
Entwicklung besaß der damalige deutsche
Osten große Bedeutung.
Welch Orientierungs-, wenn nicht gar
Anziehungspunkt Berlin war, zeigt auch der
Umstand, dass die erste Anregung zum Bau
einer Schienenverbindung mit Frankfurt
(Oder) von dort ausging. Und zwar schon
1833, also fünf Jahre vor der Eröffnung der
ersten preußischen Eisenbahn zwischen
Berlin und Potsdam. Frankfurt (Oder) hatte
damals noch einen Rang als Messestadt und
man befürchtete dort, ohne Gleisanschluss
gegenüber dem großen Konkurrenten Leipzig
ins Hintertreffen zu geraten. Die Baugenehmigung
für die Berlin-Frankfurter Eisenbahn
erfolgte dann 1840, die Eröffnung
am 23. Oktober 1842 – so schnell konnten
in Deutschland einst Bahnprojekte realisiert
werden.
Nach der 1841 bis Jüterbog eröffneten
Anhalter Bahn und der Stettiner Bahn, die
im August 1842 allerdings erst Eberswalde
erreicht hatte, war dies Berlins dritte Ferneisenbahn.
Eine weitgehend gerade, ebene
Strecke, die auch keine großen Wasserläufe
zu überbrücken hatte. Von Anfang an gab
es Zwischenstationen in Köpenick, Erkner,
Fürstenwalde und Briesen.
Schlesische Kohle für Berlin
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Großer Bahnhof: Die nördliche Halle des Berliner Ostbahnhofs. Doch nur fünf Bahnsteiggleise der 1842 als Frankfurter Bahnhof eröffneten Station dienen dem Regional-und Fernverkehr. Foto: Marc Heller |
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Es lag nahe, die Frankfurter Bahn weiterzuführen
nach Schlesien als der auch wirtschaftlich
bedeutendsten Region im Osten
Preußens. Dort entstand bereits die Niederschlesisch-Märkische Eisenbahn (NME),
deren Betreiber schon 1843 die Frankfurter
Bahn übernehmen wollte. 1845 wurde dies
vollzogen und am 1. September 1846 der
durchgehende Verkehr auf der rund 330
Kilometer langen Strecke zwischen Berlin
und Breslau aufgenommen. Ein Jahr später
gab es bereits eine Schienenverbindung
zwischen dem gegenüber Köln gelegenen
Deutz und dem oberschlesischen, damals
zu Österreich gehörenden Krakau, fast vom
einen Ende Preußens zum anderen.
1849 setzte der preußische Handelsminister
August von der Heydt besonders niedrige
Bahnfrachttarife für schlesische Kohle
durch, um diese gegenüber der englischen
konkurrenzfähig zu machen. Kohle aus
Schlesien dominierte dann für den Rest des
Jahrhunderts die Energieversorgung Berlins
und den Güterverkehr auf der Schlesischen
Bahn. Mit Hinweis auf deren wirtschaftliche
und militärische Bedeutung boxte von
der Heydt auch die 1850 bis 1852 erfolgte
Übernahme der NME durch den Staat durch.
An sie wurde zunächst auch die staatliche
Ostbahn angebunden, deren Abschnitt zwischen
Berlin und Küstrin erst 1867 in Betrieb
ging. Ein Jahr zuvor hatte die Schlesische
Bahn als wichtige Aufmarschstrecke im
Deutschen Krieg gedient.
Als Keim der preußischen Staatsbahn
übernahm die NME die Betriebsführung auf
der 1851 eröffneten ersten Berliner Verbindungsbahn
wie auch zwanzig Jahre später
auf der neuen Verbindungsbahn, heute
bekannt als Ringbahn. Ebenso im Staatsinteresse
lag der Bau der Berliner Stadtbahn.
Zwei Jahre bevor diese 1882 eröffnet wurde,
wurde aus der Königlichen Direktion der
NME die Königliche Eisenbahndirektion zu
Berlin.
Das schlimmste aller Bahnhofsviertel
Im Berlin des frühen Eisenbahnzeitalters
war der Frankfurter Bahnhof der einzige,
der innerhalb der Zollmauer errichtet werden
durfte. Nachdem die Bahnanlagen dort
schon in den 1860er Jahren ausgebaut worden
waren, erfolgte bald darauf eine viel
stärkere Erweiterung für die Stadtbahn: Auf
deren Niveau wurden die Gleise in der Station,
die ab 1881 Schlesischer Bahnhof hieß,
hochgelegt, zudem eine zweite, größere
Bahnsteighalle errichtet.
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Für eine Station am Rande Berlins besitzt der S-Bahnhof Friedrichshagen eine bemerkenswert breite Treppe. Sie erinnert daran, wie bedeutend der (vor allem sonntägliche) Ausflugsverkehr in früheren Zeiten war, als die meisten Menschen noch nicht mehrere Wochen Jahresurlaub hatten, geschweige denn sich eine Ferienreise leisten konnten. Foto: Jan Gympel |
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Noch in der Weimarer Republik hatte Berlins
Osten, da von Arbeitervierteln geprägt,
keinen allzu guten Ruf. Die Gegend um den
Schlesischen Bahnhof aber war besonders
übel beleumundet, geprägt von Elend, Prostitution,
Kriminalität – und Aufruhr: 1919
gab es bewaffnete Kämpfe um den Bahnhof.
In jener Zeit trieb in dessen Umgebung auch
der Serienmörder Carl Großmann sein Unwesen,
das Horst Bosetzky 2004 in seinem
Buch „Die Bestie vom Schlesischen Bahnhof“
schilderte. In der heute verschwundenen
Breslauer Straße, die zwischen Holzmarktund
Koppenstraße am Südrand des Stadtbahnviadukts
verlief, kam es Ende 1928
zur „Schlacht am Schlesischen Bahnhof“
zwischen Hamburger Zimmerleuten und
in „Ringvereinen“ organisierten Berliner Kriminellen.
Noch 1964 wurde die Station mit
Julius Berstls „Berlin Schlesischer Bahnhof“
sogar zum Titel eines Romans über das elende
Milieu, welches dort existiert hatte.
Mehr Sonntags- als Werktagsverkehr
Dennoch dürften viele Berliner mit der
Schlesischen Bahn auch sehr Positives verbunden
haben: Als Strecke, die dem Müggelsee
sehr nahe kommt und mitten durch das
ausgedehnte Waldgebiet seiner Umgebung
führt, war sie eine Hauptroute für den Ausflugsverkehr.
Wobei daran erinnert werden
muss, welch ungleich größere Bedeutung
der Sonntagsausflug besaß, als die meisten
Menschen noch nicht mehrere Wochen bezahlten
Jahresurlaub hatten und sich erst
recht keine Ferienreise leisten konnten. Einen
Hinweis darauf gibt bis heute der ungewöhnlich
breite Bahnsteig in Friedrichshagen.
In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts
zählte man auf der Schlesischen
Bahn im Ausflugsverkehr durchschnittlich
mehr als doppelt so viele Fahrgäste wie
im Werktagsverkehr. Schon im Frühjahr
und Sommer 1843 hatte es Extrazüge und
ermäßigte Fahrpreise zwischen Berlin und
Erkner gegeben. 1901/02 wurde für den
Vorortverkehr, der sich nur langsam, dann
aber gewaltig entwickelt hatte, ein eigenes
Gleispaar in Betrieb genommen. Nahezu alle
Bahnübergänge zwischen Berlin und Erkner
waren beseitigt worden.
Die Abgrenzung brachte den Ostbahnhof
schnell an seine Grenze
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Die Modernisierung der Frankfurter Bahn führt dazu, dass auch sie über weite Strecken zwischen Lärmschutzwänden verschwindet – an die Stelle der akustischen Belästigung tritt die optische. Am Bahnhof Friedrichshagen wurde auf diese Weise auch das alte Stellwerk von den Bahnanlagen getrennt (Aufnahme vom November 2016). Foto: Jan Gympel |
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Es wirkt wie eine Ironie der Geschichte (oder
auch späte Gerechtigkeit), dass von Berlins
großen Bahnhöfen nur jener die Zeiten
überdauern sollte, der am perfektesten alle
negativen Assoziationen erfüllte, die mit einer
großen Station und dem von ihr geprägten
Viertel verbunden werden. Natürlich war
für dieses Überleben entscheidend, dass der
Schlesische Bahnhof mit der Eröffnung der
Stadtbahn vom Kopf- zum Durchgangsbahnhof
geworden war. Und dass er nach
1945 nicht in West-Berlin lag oder nur von
dort aus angefahren werden konnte.
Während deshalb die Kopfbahnhöfe wenige
Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg
erst aus den Fahrplänen und dann aus dem
Stadtbild verschwanden, wurde der Schlesische
Bahnhof – 1950 aus politischen Gründen
umbenannt in Ostbahnhof – 1946 bis
1950 wiederaufgebaut: Mit einer repräsentativen
Zugangshalle, flankiert von monumentalen
Kandelabern à la Stalinallee.
Ab Mai 1952 versuchte die Reichsbahn,
alle Berlin berührenden D- und Eilzüge über
bzw. in den Ostbahnhof zu leiten. Schnell
zeigten sich die Grenzen seiner Kapazität,
und flugs wurde in Lichtenberg ein erster
Fernbahnsteig errichtet. Nach ihrem Mitte
der 1970er Jahre begonnenen Ausbau hatte
diese Station dann mehr Ferngleise als der
Ostbahnhof, in dem von elf Schienensträngen
vier der S-Bahn dienen und zwei keine
Bahnsteigberührung besitzen. Zudem hatte
die Abgrenzungspolitik der DDR den Ostbahnhof
betrieblich teilweise wieder vom
Durchgangs- zum Kopfbahnhof gemacht.
Ein Eindruck vom Eisenbahnzeitalter
Doch immerhin konnte man hier wenigstens
etwas vom Flair eines großen Bahnhofs
spüren – durch den, wenn auch geringen,
internationalen Verkehr und dank der Optik:
Wenn die DEFA in Berlin die üblichen, von
Ankunft oder Abfahrt handelnden Bahnhofsszenen
drehen wollte, tat sie dies für
gewöhnlich in den Hallen des Ostbahnhofs,
nicht auf einem der nur von einem einfachen
Dach überdeckten Fernbahnsteige an
der Peripherie der Stadt.
Imposant war noch bis in die 1990er Jahre
hinein der Anblick von der Warschauer Brücke
gen Westen: Vor den Bahnsteighallen
am Horizont erstreckten sich im Süden vor
allem die Anlagen des Ost-Berliner Postbahnhofs,
im Norden die zahlreichen Gleise
des Wriezener Güterbahnhofs. Hier konnte
man nicht nur erahnen, wie es früher unter
den Hochbahnbrücken am Gleisdreieck
ausgesehen hatte, sondern deutlich erkennen,
welche Bedeutung die Eisenbahn besaß
und welcher (Stadt-) Raumanspruch ihr
dementsprechend zugestanden wurde.
Breitspur nicht nur für Stalin
Als bedeutende Strecke nach Osten spielte
die Schlesische Bahn natürlich auch eine
große Rolle im von den Nazis angezettelten
Zweiten Weltkrieg. Und während die Schlesische Bahn heute an der Neiße bei Guben
unterbrochen ist, blieb die ursprüngliche
Frankfurter Bahn unvermindert wichtig:
Schon beim Kampf um Berlin diente sie dem
Nachschub der Roten Armee, die ein Gleis
auf russische Breitspur umgenagelt hatte.
Am 28. Juni 1945 wurde im Schlesischen
Bahnhof die Ankunft des ersten Schnellzugs
aus Moskau gefeiert. Wenig später fuhr Stalin
zur Potsdamer Konferenz über das Breitspurgleis.
Im Herbst 1945 wurde es zurückgespurt.
Später fungierte die Frankfurter
Bahn als Hauptweg für den Abtransport von
Reparationsgut in Richtung Sowjetunion.
Aus diesem Grund wurde die Strecke nicht,
wie sonst in der sowjetischen Zone üblich,
auf ein Gleis reduziert, sondern statt dessen
„nur“ die gesamte S-Bahn-Strecke von Ostkreuz
nach Erkner demontiert. Bis 1948 blieben
Karlshorst, Köpenick oder Friedrichshagen
vom elektrischen Schnellbahnverkehr
abgehängt. Vollständig zweigleisig war die
S-Bahn-Trasse erst wieder 1960.
Die Ferngleise zwischen Berlin und Frankfurt/Oder wurden erst in den 1980er Jahren
elektrifiziert. Damals hatte man mit dem
Ostbahnhof viel vor, und so erhielt er, weil
der Osten offiziell nicht Osten sein wollte,
1987 den Namen Hauptbahnhof. Schon
1985 war die Eingangshalle gesprengt worden,
auch nahezu alles, was aus dem 19.
Jahrhundert überdauert hatte, verschwand.
Der Neubau bekam sogar ein Bahnhofskino.
Fertig wurde er bis zum Ende der DDR nicht.
In den Neunzigern erfolgte eine erneute,
durchgreifende Umgestaltung des Empfangsgebäudes,
samt Errichtung des schon
zuvor geplanten Hotels.
Belanglose Architektur in
Siedlungsbrei
Heute sieht es im seit 1998 wieder so genannten
Ostbahnhof so aus, wie es eben
heute in deutschen Bahnhöfen aussieht:
Das Empfangsgebäude gleicht einem kleinen
Einkaufszentrum, Einrichtungen, die mit
dem Bahnverkehr zu tun haben, fallen – so
sie überhaupt noch vorhanden sind – kaum
auf, den Weg zu den Gleisen muss man suchen.
Die Fassade des Neubaus ist an architektonischer
Belanglosigkeit kaum zu überbieten.
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Die Station Betriebsbahnhof Rummelsburg befindet sich zum Teil unter der Brücke der VnKStrecke, die die Ostbahn mit der Frankfurter Bahn verband. Deren Rangierbahnhof, entstanden im Zusammenhang mit der Ringbahn, wurde hier ab 1879 betrieben. Heute wird das Areal weitgehend durch den 1914 eröffneten Abstellbahnhof benutzt, auf dem Reisezüge auch behandelt werden. Foto: Jan Gympel |
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Die Umgebung besteht aus einer sehr
aufgelockerten Ansammlung nach Krieg
und Abrisspolitik übriggebliebener Altbauten
und neuer Betonklötze. Am Ostbahnhof
vorbei wälzt sich der Verkehr
über eine der wichtigsten Ausfallstraßen
Berlins. Man hat eher den Eindruck, sich in
einem typischen Siedlungsbrei am Stadtrand
zu befinden.
Dazu bei trägt auch die bauliche Entwicklung
der letzten zwanzig Jahre: Die bunte
Fassade des 1979 eröffneten Warenhaus-Würfels wirkt geradezu ambitioniert gegen
die ästhetisch vollkommen anspruchslosen
Zweckbauten, die auf großen Teilen des früheren
Bahngeländes entstanden sind. Von
der Warschauer Brücke aus sieht man heute,
wie der Bahn nur noch eine schmale Schneise
zwischen Großbauten verblieben ist.
Die schnellste Verbindung nach
Breslau: der Bus
Den Fernverkehr auf dem Ostbahnhof hat
die DB AG in den letzten Jahren immer weiter
reduziert. Seit dem Fahrplanwechsel am
10. Dezember 2017 passiert ihn nun auch der
RE 2 ohne Halt – fast wie zu Mauerzeiten die
Transitzüge zwischen West-Berlin und der
Bundesrepublik, die in Rummelsburg abund
bereitgestellt wurden.
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1928 begann der elektrische Betrieb auf den Vorortgleisen der Frankfurter Bahn bis Erkner. Dafür entstand auch das Gleichrichterwerk Rahnsdorf, ein typischer Bau des Reichsbahn-Architekten Richard Brademann. Foto: Jan Gympel |
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Und die Bahnverbindungen mit Schlesien?
Im Sommerfahrplan 1914 gab es vierzig
Verbindungen. 1928 bewältigten Züge die
Strecke Berlin—Breslau in vier Stunden, ab
1936 Schnelltriebwagen sogar in bis zu 154
Minuten. Die einzige Direktverbindung, die
die Fahrplanauskunft der DB AG heute für
Werktage anbietet (und die mit vier Stunden,
fünfzehn Minuten zugleich die mit Abstand
schnellste ist), führt von „Berlin Hbf (Europaplatz)“
nach „Wrocław Głowny, Dworzec
autobusowy“: ein Intercity-Bus.
Ab Dezember 2018 könnten Züge Berlin
und Breslau in etwas über dreieinhalb Stunden
verbinden – wenn auch nicht mehr über
die Schlesische Bahn, sondern über Cottbus.
Die Strecke zwischen Berlin und Frankfurt
(Oder) ist auch heute noch stark frequentiert:
Der RE 1, Brandenburgs wichtigste
Regionalexpress-Linie, soll hier in naher
Zukunft im Berufsverkehr sogar dreimal pro
Stunde verkehren.
Ebensoviel Mut zu zukunftsgerechter Planung
ist für den Verkehr weiter nach Osten
zu wünschen. Auch, damit bald wieder mehr
Breslauer mit der Bahn nach Berlin kommen
können.
Jan Gympel
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