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Die Gestaltung des Tarifs und des Fahrscheinverkaufs machte auch letzteren bei Großveranstaltungen stets zu einer besonderen Herausforderung für die BVG. Vor dem Eingang zum U-Bahnhof Olympia-Stadion stehen noch heute zwei Kioske, die einst als zusätzliche Fahrkartenschalter dienten. Foto: Jan Gympel |
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„Neue Bundesregierung plant Nulltarif im
ÖPNV.“ Die Meldung, noch vor dem Amtsantritt
der jetzigen Großen Koalition verbreitet,
klang sensationell – und stimmte so
natürlich nicht: CDU/CSU und SPD wollten
nicht plötzlich eine alte, vor
allem von der politischen Linken
vorgebrachte Forderung
flächendeckend erfüllen. Vielmehr
waren einige Politiker
bei ihren verzweifelten Versuchen,
Fahrverbote für den motorisierten
Individualverkehr
(MIV) in Orten mit starker Luftverschmutzung
zu verhindern,
auf die Idee verfallen, so den
öffentlichen Personennahverkehr
(ÖPNV) zu fördern. Versuchsweise
in einigen ausgewählten
Gemeinden.
Dort winkte man rasch ab,
zumal der Einfall wenig durchdacht
wirkte. Das Übrige taten
jene Experten, die sogleich erklärten,
weshalb das Konzept
eines kostenlos nutzbaren ÖPNV ein Ding
der Unmöglichkeit und eigentlich Teufelszeug
wäre.
Das darf man natürlich so sehen. Man
kann in diesen Reaktionen aber auch Denk- und
Verhaltensmuster erkennen, welche es
in den vergangenen anderthalb Jahrhunderten
immer wieder gegeben hat – und
die letztlich immer wieder überwunden
wurden.
Tarifverbund? Undenkbar!
So kam die schnell beiseite geschobene Initiative
kurz vor einem wenig
beachteten Jubiläum, das für
Berlins Stadtentwicklung von
entscheidender Bedeutung
war:
Gern zugeschrieben wird
dieser Einfluss der Einführung
jenes Vororttarifs bei der preußischen
Eisenbahn, welcher
ab 1. Oktober 1891 Fahrten im
Großraum Berlin stark verbilligte.
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Fahrschein um 1985. Sammlg. S-Bahn-Museum |
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Noch wichtiger war jedoch,
dass am 1. April 1893, also vor
jetzt 125 Jahren, Zeitkarten
hinzukamen, die noch günstiger
waren. Erst damit konnte
die weitere Randwanderung
und damit auch Expansion
der Industrie erfolgen – etwa
von Borsig nach Tegel, der AEG nach Oberschöneweide,
von Siemens an den Nonnendamm
–, erst damit konnte Berlin in den
folgenden zwanzig Jahren explosionsartig
wachsen.
Wobei sich leider die Hoffnung, die elenden
Wohnbedingungen vieler Menschen in
der alten Kernstadt könnten durch den Bau
neuer Siedlungen an der Peripherie beseitigt
werden, kaum erfüllte: Zuwanderung
und die gestiegenen Platzansprüche der
Wohlhabenden neutralisierten den Wohnraumzuwachs,
für den ein attraktiver ÖPNV –
zu einer Zeit, als Autos noch teure Spielzeuge
darstellten – dennoch bedeutend war.
Weil die meisten Menschen auf ihn angewiesen
waren, konnten die Betreiber von
Bussen und Bahnen aber lange Zeit gegenüber
ihren Kunden auch eine gewisse Arroganz
an den Tag legen und ihnen die Nutzung
unnötig erschweren. So erging man
sich in Konkurrenz zueinander statt zu kooperieren.
An einen Tarifverbund etwa war
nicht zu denken. In Berlin änderte sich dies
erst, als sich endlich eine offensive Verkehrspolitik
durchsetzte, die 1918 zum Erwerb der
den hauptstädtischen ÖPNV beherrschenden
Großen Berliner Straßenbahn AG und
ein Jahrzehnt später zur Gründung der BVG
führte. Der gemeinsame Tarif für alle stadteigenen
Verkehrsmittel wurde schon 1927
eingerichtet und umfasste auch einen Fahrschein
zum „Überstieg“ auf die Stadt-, Ring- und
Vorortbahn (die spätere S-Bahn).
Viele Löcher machen und viele Münzen
schleppen
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Zwischen den Zugangstüren des U-Bahnhofs Olympia-Stadion befinden sich nach wie vor jene Schalter, an denen die Fahrscheine kontrolliert und gelocht wurden. Sonst fand man solche „Wannen“ eher bei der Berliner S-Bahn. Und wie man sieht, waren sie am Olympia-Stadion nur für schlanke Mitarbeiter geeignet. Foto: Jan Gympel |
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Diese umständliche Prozedur (erst 1949
wurden Stempel eingeführt, dank derer
dann auch nicht mehr für jeden Betriebshof
eigene, nur auf bestimmten Linien ausgegebene
Fahrscheine zu drucken waren) sollte
dafür sorgen, dass der BVG auch ja kein
einziger ihr zustehender Groschen entging.
Und es waren viele Groschen und andere
Münzen, die die Schaffner mit sich herumschleppen
mussten, ebenso wie rund ein
halbes Dutzend Sorten von Fahrscheinen.
Ein erklecklicher Teil der täglichen Arbeitszeit
ging drauf mit der mühseligen Abrechnung
im Betriebshof.
So sehr war man in einem überkommenen
Denken gefangen, welches uns heute
völlig fremd erscheint, dass diese aufwendigen
Prozeduren auch noch fast den gesamten
Zweiten Weltkrieg über durchgehalten
wurden: Da mochten die immer weniger
werdenden Straßenbahnen und Busse von
immer mehr Menschen gestürmt werden,
da mochten dienstverpflichtete und eilig angelernte
Schaffnerinnen Verkauf und Kontrolle
der Fahrscheine kaum mehr bewältigen
können – es wurde weiter verfahren
wie bisher. Auch der 1942 unternommene
Versuch, die Zahl von gerade einmal rund
100.000 BVG-Zeitkartenbesitzern (in einer
Vier-Millionen-Stadt, Ende 2017 zählte die
BVG über 484 000 Abonnenten) zu steigern,
brachte nur wenig Erleichterung. Zumal
neben Zeitkarten, wie wir sie heute kennen,
noch immer auch eine „Monatsgrundkarte“
angeboten wurde, die nur zur Benutzung eines
verbilligten Einzelfahrscheins berechtigte,
also ebenfalls bei jeder
Fahrt einen Verkaufsvorgang
auslöste.
Erst ganz am Ende, mit
Einführung des Kriegseinheitstarifs
zum 1. September
1944, kam es zu einer
radikalen Vereinfachung
der angebotenen Fahrscheinsorten
und damit
auch der Abfertigung. Nebenher
brachte diese (vom
Reichsverkehrsministerium
angeordnete) Maßnahme
erstmals eine Zeitkarte für
das BVG-Gesamtnetz. Übrigens
wurde auch bei der
S-Bahn der einfachere, bis
1991 geltende Zonentarif
erst 1944 eingeführt.
Zählen Sie, wie oft Sie umsteigen!
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Monatskarte 1914. Sammlung S-Bahn-Museum |
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Die heute unvorstellbar hohe Zahl von Verkaufsvorgängen,
die zudem fast alle durch
Personal ausgeführt wurden, ergab sich vor
allem aus dem Umstand, dass Vielfahrern
nur ein möglichst geringer Rabatt gewährt
werden sollte und Zeitkarten entsprechend
unattraktiv waren: So kostete beispielsweise
von Juni 1952 bis Juni 1956 bei der BVG-West
eine Einzelfahrt mit U- oder Straßenbahn
(ohne Umsteigeberechtigung) 25 Pfennig.
Bei der damals noch üblichen Sechs-Tage-Arbeitswoche
ergab das bei zwölf Fahrten
drei Mark. Die Wochenkarte für eine Linie
kostete 2,50 Mark, die Monatskarte 11 Mark.
Die Monatskarte für das Gesamtnetz verschlang
mit 40 Mark schon so viel wie die
Miete für eine einfache kleine Wohnung.
So wenig wie heute der damals betriebene
Personalaufwand oder die damals weitverbreiteten
Zeitkarten nur für einzelne
Linien vorstellbar sind, so albern erscheint
das damalige Streben der
BVG, die Umsteigevorgänge
zu zählen: Ursprünglich
hatte der normale Einzelfahrschein
zum einmaligen
Umsteigen innerhalb des
BVG-Netzes berechtigt –
wobei ein Busticket ab
Ende 1931 30 statt 25 Pfennig
kostete, weil man schon
damals wusste, dass der
Bus höhere Betriebskosten
verursacht als U- und Straßenbahn.
Busfahren war
deshalb bei der BVG-West
auch zwischen 1952 und
1976 teurer als Bahnfahren.
Mitte 1949 wurde die mit
dem Kriegseinheitstarif
abgeschaffte Umsteigeberechtigung
jedoch nicht
generell wieder eingeführt. Stattdessen gab
es fortan einen Umsteigefahrschein für 30
Pfennig, derweil die einfache Fahrt weiterhin
20 Pfennig kostete – wie in Ost-Berlin
noch bis Mitte 1991.
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So umständlich gestaltete sich der Abschied vom Schaffner: Hinweise in einem Fahrplanheft der BVG-Ost zur Benutzung von Straßenbahnen im 1963 eingeführten „ZZ-Betrieb“. Schon drei Jahre später folgte auf ersten Linien der „OS-Betrieb“ (OS für ohne Schaffner), Ende 1967 verschwanden bei der BVG-Ost die letzten Schaffner. Bei der BVG-West geschah dies erst 1981. Sammlung Hilkenbach/Kramer |
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Aus diesen Gründen erzeugte die von
1953 bis 1967 eifrig betriebene Zerstörung
des West-Berliner Straßenbahnnetzes, die
sonst gleichgültig hingenommen oder sogar
begrüßt wurde, auch mal Murren: Wo
eine Tramlinie „auf Busbetrieb umgestellt
wurde“, wie man damals gern sagte, bedeutete
dies eine Preiserhöhung um 5 Pfennig
beim Einzelfahrschein (die natürlich mit
dem Hinweis auf das „modernere“ Verkehrsmittel
„Autobus“ gerechtfertigt wurde). Weitere
5 Pfennig teurer wurde die Fahrt in den
zahlreichen Fällen, wo mit der Straßenbahn
Direktverbindungen verschwanden.
Zweimal umsteigen nur bei
Tegel-Berührung
Auch das damals verfochtene Konzept des
„gebrochenen Verkehrs“, bei dem der Bus
vor allem als Zubringer zur Schnellbahn
dient, führte naturgemäß zu einer Steigerung
der Umsteigezwänge. Bei der ersten
großen Straßenbahnstilllegungsaktion sah
sich die BVG deshalb tarifmäßig zu Verrenkungen
gezwungen: Als mit der Fertigstellung
der U-Bahn nach Tegel 1958 fast ganz
Reinickendorf seine Tram verlor, führte man
eigens den „Tegel-Umsteiger“ ein. Gegen
Zahlung von 10 Pfennig mehr (ermäßigt 5
Pfennig) wurde Fahrgästen der Buslinien 13
(zwischen Heiligensee und U-Bahnhof Tegel,
heute Alt-Tegel), 14, 15 und 20 auf dem Weg
über den U-Bahnhof Tegel sowie Fahrgästen
der Linie 13 auf dem Abschnitt zwischen
U-Bahnhof Tegel und Weinmeisterhornweg
über den U-Bahnhof Holzhauser Straße
zweimaliges Umsteigen erlaubt!
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10-Fahrten-Karte. Sammlung S-Bahn-Museum |
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Allerdings war dieses Zugeständnis nur
dazu gedacht, die Gemüter kurzzeitig zu
beruhigen: Gelten sollte es lediglich bis zur
Eröffnung der heutigen U-Bahn-Linie U 9,
durch die zwar nicht die durch die Einstellung
der Straßenbahn entstandenen Umsteigezwänge
entfielen, aber die BVG eine
neue Möglichkeit hatte, die Aufmerksamkeit
abzulenken.
Freilich verzögerte sich die Fertigstellung
der Strecke zwischen Leopoldplatz
und Spichernstraße (deren Bau gleichwohl
in dem heute bei Berliner Tunnelbauten
unvorstellbaren Tempo von sechs Jahren
erfolgte), und als sie 1961 anstand, wurde
die Mauer gebaut. Nun führte die BVG-West
einen „Doppel-Umsteiger“ für ihr gesamtes Netz ein. Diese Maßnahme
erleichterte zudem neben der
Umfahrung des Ostsektors auch
den Boykott der von der DDR-Reichsbahn
betriebenen S-Bahn,
die mit niedrigeren Fahrpreisen
lockte. Beliebig häufiges Umsteigen
mit einem Ticket erlaubte
die BVG-West erst 1969 – wobei
der Wegfall des Fahrscheins mit
einfacher Umsteigeberechtigung
zugleich eine indirekte Preiserhöhung
bedeutete.
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S- und U-Bahnhof Tempelhof, ein seinerzeit viel beachteter gebauter Beleg für die neue Verkehrspolitik der 1920er Jahre: Kooperation statt Konkurrenz im ÖPNV – der Zugang zum neuen U-Bahnhof im Empfangsgebäude der S-Bahn. Beispielsweise an der Frankfurter Allee kam dies damals nicht zustande – worunter die Fahrgäste bis heute leiden. Foto: Jan Gympel |
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Hinzu kam, dass sich die Einhaltung
der komplizierten Regeln
(einst waren sich die Tarifbestimmungen
gar in ausgiebigen
Erläuterungen ergangen, wann
wo wie umgestiegen und zu diesem
Zweck womöglich auch ein
Fußweg zurückgelegt werden
durfte – den ebenfalls die BVG
festgelegt hatte) immer schwerer
überprüfen ließ: So hatten die
West-Berliner Verkehrsbetriebe
Mitte 1964 begonnen, die Zugangskontrollen
an den U-Bahnhöfen
aufzugeben.
U-Bahn-Eingang zwecks
Personaleinsparung geschlossen
Davon, jeden Fahrgast zu kontrollieren,
träumt manch einer ja noch heute. Die BVG-West
verabschiedete sich davon aus finanziellen
Gründen, allerdings nur langsam: Um
die Personalkosten zu reduzieren, wurde ab
1960 bei vielen U-Bahnhöfen nach 20 Uhr
und sonntags ganztägig einer von zwei Zugängen
einfach geschlossen. Das bedeutete
für viele Fahrgäste einen längeren Weg?
Egal, die BVG musste sparen und benahm
sich, als wenn es die Konkurrenz durch den
wachsenden MIV (der ihre Fahrgastzahlen
und damit auch ihre Einnahmen schrumpfen
ließ) nicht gab.
Während der schweren Grippewelle des
Winters 1969/70 war es dann Personalmangel,
der zur tage- oder auch wochenlangen
Schließung zahlreicher U-Bahn-Eingänge
führte. Und noch Jahre später hingen mancherorts
Schilder mit Hinweisen wie: „Dieser
Eingang ist nur von 7 bis 23 Uhr geöffnet.“
Heute ist das nicht mehr zulässig – aus
Sicherheitsgründen. Nach einem Feuer im
U-Bahnhof Deutsche Oper im Sommer des
Jahres 2000 wurde entschieden, dass dieser
und alle weiteren Tunnelbahnhöfe, die
nur einen Ausgang haben, einen zweiten
bekommen müssen. Wohl selten hatte eine
Regelung des vorbeugenden Brandschutzes
so unmittelbare positive Auswirkungen
für die Fahrgäste.
Schaffner in Straßenbahnen und Bussen,
Fahrkartenverkäufer und Sperrenpersonal
auf den Bahnhöfen, Zugabfertiger, Stationsaufsichten
und Zugbegleiter – sie alle wurden
einst als unentbehrlich erachtet. Sie verschwanden,
weil Arbeitskräfte fehlten oder
zu teuer wurden und die öffentlichen Verkehrsbetriebe
nach dem Zweiten Weltkrieg
immer weiter ins Minus fuhren: Ehedem war
ÖPNV nicht nur kostendeckend gewesen, er
sollte sogar Gewinne erwirtschaften. Nun
wuchs das Einnahmendefizit beständig
und wurde zum Politikum. Dass Hunderte
Millionen Mark an Steuergeldern für den
ÖPNV ausgegeben wurden, galt vielen in
West-Berlin nicht als Selbstverständlichkeit,
da Teil der Daseinsvorsorge der öffentlichen
Hand mit ökologischem,
sozialem, volkswirtschaftlichem
Nutzen für die
Allgemeinheit, sondern
als Problem, das beseitigt
werden sollte.
Neues Denken: Kunden
anlocken statt abschrecken
Wie beim Personal (und
damit oft beim Service)
wurde auch beim Angebot
gespart. Hinzu kamen
Preiserhöhungen, bei der
BVG-West ab den siebziger
Jahren fast jährlich.
Zeitweise erhielt man für
immer mehr Geld immer
weniger. Der ÖPNV wurde
so unattraktiver, die Fahrgastzahlen
sanken weiter,
das BVG-Defizit stieg weiter.
Wieder dauerte es Jahrzehnte, bis sich die
Erkenntnis durchsetzte, dass man diesen
Teufelskreis durchbrechen müsste – und
welcher Weg dafür nahe lag: Ein angebotsorientierter
ÖPNV, der nicht die Bedürfnisse
all jener, die sich (noch) kein eigenes Auto
leisten können, gerade mal so abdeckt, sondern
mit einem attraktiven Angebot auch
Umsteiger vom MIV anlockt. Dies auch aus
Gründen des Umweltschutzes, der Energieeinsparung
(heute würde man sagen
„Effizienz“), zwecks Reduzierung des Autoverkehrs
– alles schon vor dreißig, vierzig
Jahren ebenso diskutiert und als notwendig
erkannt wie heute.
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Monatskarte der S-Bahn in eingebordelter Blechhülle. Der mit diesem Fahrschein verbundene Mengenrabatt wurde nur für eine bestimmte Strecke und eine bestimmte Person gewährt. Sammlung S-Bahn-Museum |
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Wieder spielte dabei die Tarifgestaltung
eine wesentliche Rolle: Die „Umweltkarte“
bedeutete eine radikale Preissenkung und
eine radikale Vereinfachung
des Fahrscheinverkaufs.
Eine Monats- oder
Jahreskarte für das Gesamtnetz,
zu bis dahin
unvorstellbar niedrigem
Preis, und dann auch noch
(was viel unvorstellbarer
war) übertragbar.
Es war ein weiterer
Schritt auf dem lange immer
wieder von Denkblockaden
versperrten Weg,
Tarif und Fahrscheinverkauf
immer kundenfreundlicher,
aber auch
für das Unternehmen
effizienter zu gestalten:
Nicht mehr kleinkariert
jede Fahrt möglichst genau
berechnen, sondern
möglichst viele Menschen
dazu animieren, einmal im Monat eine erschwingliche
Pauschale im Voraus zu zahlen.
Was auch bedeutet: Die Leute zur möglichst
häufigen Benutzung von Bussen und Bahnen
zu animieren statt sie abzuschrecken.
Zugleich entspricht dies dem in vielen Bereichen
anzutreffenden Trend, Artikel in
immer größeren Gebinden zu kaufen oder
günstige Pauschalen anzubieten. Dabei
änderte sich allerdings auch die Position vieler
ÖPNV-Nutzer: Wer bereits bezahlt hat, erwartet
um so mehr eine möglichst optimale
Leistung der Verkehrsbetriebe.
Umweltkarte? – Unbezahlbar!
Bemerkenswerterweise war man selbst in
Ost-Berlin nicht in der Lage, sich
von den alten Denkmustern zu verabschieden:
Ob Arbeitskräfte und
Papier knapp waren, ob Fahrgäste
in die Zahlboxen statt einer Münze
einen Knopf warfen oder sich dort
ganz ohne „Gegenleistung“ einen
Fahrschein nahmen, ob der Preis
von 20 Pfennig für einen Einzelfahrschein
ohnehin nur wie ein symbolischer
Obolus wirkte – an die Einführung
eines kostenlos nutzbaren
ÖPNV wurde nicht einmal gedacht.
Stattdessen schlug man sich weiter
mit einer hohen Zahl von Verkaufsvorgängen
herum, an der wiederum
auch die Tarifgestaltung schuld war:
So kostete eine S-Bahn-Monatskarte
für die Preisstufe 1 mit 10 Mark
so viel wie fünfzig Einzelfahrscheine.
Bei der BVG-Ost zahlte man 9 Mark
im Monat für eine einzige Linie. Entsprechend
unattraktiv und relativ
wenig verbreitet waren Zeitkarten.
Im West-Berlin der achtziger Jahre,
das jeden Winter durch die vielen
Ofenheizungen in Schwefeldioxidwolken
eingehüllt war und wo es wiederholt Smogalarm
gab, hörte man auf die Forderung
nach einer Umweltkarte jenes Argument,
das heute stets einem kostenlosen ÖPNV
entgegengestellt wird: Nicht finanzierbar.
Ähnliches galt für die Wiedereinführung
des 1944 abgeschafften Kurzstreckentarifs:
Den immer happigeren Preis für einen
Einzelfahrschein auch dann berappen zu
müssen, wenn man nur ein paar Stationen
fahren wollte, machte Busse und Bahnen
noch unattraktiver. Erst ab 1988 gab es in
West-Berlin wieder einen flächendeckenden
Kurzstreckentarif. Dabei war die Idee nicht
neu gewesen: Schon der 1933 bei der BVG
eingeführte Teilstreckentarif (der bei der
U-Bahn wie heute die Fahrt bis zur dritten
Station erlaubte) sollte die Fahrgastzahlen
und damit auch die Einnahmen erhöhen.
Umweltkarte noch bezahlbar?
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So nobel konnte Fahrkartenverkauf sein: Stillgelegte Schalter am Südzugang des 1913 eröffneten U-Bahnhofs Rüdesheimer Platz. Im Hintergrund die plumpe Variante von heute, die ästhetisch nicht einmal gegen das Drängelgitter bestehen kann, aber auch deutlich weniger in Anspruch genommen wird. Derzeit (nach BVG-Angaben bis 10. Dezember 2018) ist dieser Zugang für den Einbau eines Aufzugs geschlossen Foto: Jan Gympel |
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Richtig ernst mit der Umweltkarte machte
erst der 1989/90 amtierende rot-grüne Senat.
Welchen Effekt ihre Einführung (für damals
65 Mark im Monat oder 600 Mark im
Jahr, bei Einmalzahlung 580 Mark, zuvor: 99
bzw. 990 bzw. 970 Mark) auf die Fahrgastzahlen
hatte und ob sie wie erhofft auch
Mehreinnahmen generierte, ließ sich allerdings
nicht ermitteln, da der Fall der Mauer
die Verhältnisse völlig veränderte.
Heute ist die einst „nicht finanzierbare“
Umweltkarte eine Selbstverständlichkeit.
Allerdings wurde sie vom Preisniveau her
ziemlich weit vom ursprünglichen Gedanken
entfernt: 81 Euro im Monat für ganz Berlin
statt umgerechnet 32,33 Euro anno 1989
für den Westteil der Stadt.
Überhaupt hat sich die Benutzung von
Bussen und Bahnen im Laufe der letzten
fünfzig Jahre stark verteuert. Für einen
U-Bahn-Fahrschein zahlte man im West-Berlin
des Jahres 1968 40 Pfennig, also aus heutiger
Sicht unglaubliche 20,5 Cent. Eine Sammelkarte
für fünf U-Bahn-Fahrten kostete 2
Mark = 1,02 Euro, ein Einzelfahrschein mit
zweifacher Umsteigeberechtigung wie erwähnt
70 Pfennig = 35,8 Cent. Heute schlägt
ein vergleichbares Ticket mit 2,80 Euro zu
Buche, also rund dem Achtfachen. Und nein,
das Geld hat in diesen fünfzig Jahren nicht
so viel an Kaufkraft verloren, vor allem aber
hat sich das Durchschnittseinkommen nicht
verachtfacht. Die Kostenexplosion bei den
ÖPNV-Fahrpreisen ist allenfalls mit jener bei
den Mieten zu vergleichen.
Stets wird dann angeführt, heute stünden
ja modernere Fahrzeuge zur Verfügung,
gäbe es ein größeres Angebot. Gibt
es das wirklich? Und ist es wirklich
komfortabler, mit schaukelnden
Gelenkbussen und (mittlerweile
sogar auf Metrolinien) kurzen Eindeckern
durch Berlin zu fahren, weil
die BVG sich heute nur noch rund
vierhundert Doppeldecker leisten
mag, derweil allein durch West-Berlin
einst rund tausend fuhren? Hält
außer BVG-Chefin Nikutta noch jemand
Plastiksitze für bequemer als
Polsterbänke? Ist es ein Fortschritt,
wenn auf Bahnhöfen das einzige
Personal die Betreiber von Kiosken
sind, die oft bis tief in die Nacht hinein
die Stellung halten und so den
Fahrgästen zumindest die Illusion
verschaffen, jemand könnte ihnen
im Notfall zu Hilfe eilen? Und liegt
eine regelmäßige Modernisierung
des Fahrzeugparks (die in Berlin
bekanntlich in den letzten zwanzig
Jahren sträflich vernachlässigt
wurde) nicht auch im ureigensten
Interesse des Verkehrsbetriebs,
Stichworte Instandhaltungskosten, Ersatzteilbeschaffung?
Vor allem: Schreckt ein hoher Preis für
einen Einzelfahrschein nicht Gelegenheitskunden
ab, also insbesondere Autobenutzer,
die zum häufigeren Umstieg auf den ÖPNV
angeregt werden sollten? Wirkt auf sie das
Angebot einer Monatskarte für 81 Euro besonders
verlockend? Die Wochenkarte ist gar mit 30 Euro so teuer, dass sie sich nur
rentiert, wenn man an jedem ihrer sieben
Geltungstage mindestens zwei Sammelkartenabschnitte
im Wert von 2,25 Euro verbraucht
hätte.
Gesamtnetzkarte für einen Euro pro Tag
Deutlich anders macht man es in Wien, das
wie Berlin wächst: In Österreichs Hauptstadt,
die bald wieder zwei Millionen Einwohner
zählen dürfte, kostet das ÖPNV-Jahresabo
einen Euro pro Tag. Jedenfalls bei der per
Einmalzahlung erworbenen, nicht übertragbaren
Jahreskarte (in Teilzahlung 396 Euro).
Der Preis in Berlin liegt mit 761 Euro mehr als
doppelt so hoch.
Da kommt natürlich der Einwand, dass die
Stadt kleiner wäre. Tatsächlich umfasst das
Wiener Stadtgebiet nur rund 415 Quadratkilometer,
das Berliner rund 891. Aber bewegt
sich der durchschnittliche Berliner wirklich
auf diesem gesamten Areal oder gibt es
nicht viele Ecken der Stadt, in die er jahrelang
nicht kommt? Hätte er also etwas davon,
wenn – der Logik „größeres Stadtgebiet,
höherer Preis“ entsprechend – viele Vororte
inklusive Potsdam eingemeindet würden
und dann der Zeitkartenpreis um weitere
zwanzig oder dreißig Prozent stiege? Wäre
es nicht kundenfreundlicher, auch wieder
Zeitkarten nur für einzelne Segmente des
Stadtgebiets anzubieten? Und unterbleibt
dies wirklich nur, um den Tarif nicht unübersichtlicher
zu machen, oder doch vor allem,
um nicht die Einnahmen zu reduzieren?
In Berlin scheint man sowieso sehr auf
Einnahmenmaximierung bedacht: Also
wurde der simple Zeittarif (zwei Stunden
lang fahren wie und wohin man will) wieder
abgeschafft, obwohl er auch Diskussionen
bei Kontrollen ersparen würde. Stattdessen
klammern sich BVG und S-Bahn noch immer
wie in der Zwischenkriegszeit
ans Verbot von „Rund- und
Rückfahrten“.
Treuherzig wirbt die BVG:
„Eine Tageskarte lohnt ab der
dritten Fahrt.“ Was allerdings
nur stimmt, wenn man keine
Sammelkarte mit vier Fahrten
(9 Euro) benutzt: Drei Fahrten
mit der kosten zusammen 6,75
Euro und damit weniger als die
Tageskarte für 7 Euro. Und während
diese in Berlin lediglich bis
drei Uhr morgens gilt, werden
in anderen Städten 24-Stunden-Karten angeboten.
So auch in Wien, wo es außerdem
48- und 72-Stunden-Tickets
gibt, man zum Preis von letzterem
(17,10 Euro) aber auch schon
eine Wochenkarte bekommt.
Zugegebenermaßen besitzt das
dortige U-Bahn-Netz nur eine Streckenbetriebslänge
von 83 Kilometern, also etwa
jene Größe, die das Berliner bereits 1930 erreicht
hatte. Aber anders als in Berlin wird
am Bau neuer U-Bahn-Strecken in Wien eifrig
gearbeitet. Allein in diesem Jahrhundert
sind bisher fünf neue Abschnitte mit insgesamt
über 20 Kilometer Länge eröffnet
worden. Dabei geht der U-Bahn-Bau nicht
(mehr) zu Lasten der Straßenbahn, deren
Netz fast so groß ist wie das ihrer Berliner
Schwester, sich aber natürlich über die gesamte
Stadt erstreckt.
Nachdenken und nachrechnen
ist schon heute möglich
Beim Ausbau der Schienennetze hat man in
Wien erklärtermaßen auch den demographischen
und den Klimawandel im Auge: Bei
35 Grad im Schatten oder anderen Wetterextremen
träumen wohl nur hartgesottene
Fahrradfans von Siebzig- und Achtzigjährigen,
die mit dem Drahtesel längere Strecken
zurücklegen.
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Umsteigefahrschein der BVG-Ost aus den 1950er Jahren: Das „Übersteigen“ zur S-Bahn ist streng reglementiert. Einen solchen Vorläufer eines Verbundtarifs gab es schon ab 1927, also vor Gründung der BVG. Nach 1945 kam er in West-Berlin faktisch erst wieder durch die Übernahme des dortigen S-Bahn-Betriebs durch die BVG 1984 zustande. Sammlung S-Bahn-Museum |
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Es gibt also viele Gründe, über einen kostenlos
nutzbaren ÖPNV nachzudenken, wie
auch immer man ihn nennen und wie auch
immer man ihn finanzieren möchte. Natürlich
wäre die Umsetzung nicht von heute auf
morgen möglich, zumal die Verkehrsbetriebe
schon mit dem Fahrgastwachstum der
letzten Jahre ringen. Außerdem befinden
sich BVG und Berliner S-Bahn bekanntlich
nicht in bestem Zustand.
Doch schon heute kann man über neue
Formen der Tarifgestaltung und der ÖPNV-Finanzierung
nachdenken (auch in einem
Land, wo es manche für eine Zumutung
halten, monatlich 17,50 Euro
pro Haushalt für einen nicht
an Kommerzinteressen orientierten
Rundfunk zu zahlen),
kann nachrechnen, was sich
durch einen Verzicht auf den
Verkauf, die Entwertung und
die Kontrolle von Fahrscheinen
einsparen ließe und was
ökologisch und volkswirtschaftlich
zu gewinnen wäre.
Vielleicht wird ein voll
durch Steuern oder Abgaben
finanzierter ÖPNV in dreißig,
vierzig Jahren so selbstverständlich
sein wie es heute
die Umweltkarte ist. Und vielleicht
wird man dann über das
ganze Theater mit Fahrscheinautomaten,
Kartenlesegeräten,
Entwertern und Kontrolleuren
so den Kopf schütteln,
wie wir heute beim Gedanken an drei
Schaffner in einem Straßenbahnzug, die
jeden Fahrschein viermal lochen und kiloweise
Kleingeld mit sich herumschleppen
mussten.
Jan Gympel
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