Stadtverkehr

Hoffen auf den Backwarenverkäufer

Es ist ja inzwischen eine Binsenweisheit, dass die breite Mittelschicht nicht von einem Mangel an Wohlstand umgetrieben wird, sondern von der Sorge, morgen könnte ihr Leben nicht mehr so schön sein. In Deutschland erschallt in solch Situation der Ruf nach der Obrigkeit, auf dass sie uns vor dem Bösen bewahren möge. Etwa mit immer neuen Verboten und Vorschriften, durch die sichergestellt werden soll, dass unsere Menschen das Richtige tun, sagen und denken, und somit der Staat, die Jugend, die Gesellschaft, die Gesundheit, die Umwelt, das Universum geschützt und gerettet wird.

Ganz bestimmt nicht sind Verbote auch deshalb so beliebt, weil Politiker und andere Verantwortliche damit Handeln vortäuschen können – und zwar nicht nur auf einfachste, sondern meist auch auf kostengünstige Weise. Denn ob die Einhaltung der Benimmvorschriften tatsächlich durchgesetzt werden kann, wird in der Regel kaum thematisiert.

So habe ich schon mehrmals Menschen erlebt, die in der U- oder der S-Bahn nicht etwa eine Klappstulle verzehrten oder ein Brötchen, sondern vielmehr Plastikgefäß und Gabel hervorholten, um dann statt (mutmaßlich todbringender) Kohlenhydratträger ungemein gesunden Salat in sich hineinzuschaufeln.

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Abends nach neun, und die S 1 verkehrt sehr unregelmäßig (Frohnau in 18, Oranienburg in 20 Minuten). Nicht nur deshalb ist es erfreulich, dass dieser Stand auf dem Bahnhof Yorckstraße (Großgörschenstraße) noch einige Stunden geöffnet sein wird. Foto: Jan Gympel

Dabei gehört zu den Verboten, die im Bereich des Öffentlichen Personennahverkehrs derzeit schwer in Mode sind, das Untersagen des Essens. Schon vor Jahren wurde derlei beispielsweise in Köln beschlossen. Da aber die segenbringende Macht der Domstadt bzw. ihrer Verkehrsbetriebe an der Grenze der Kommune endet, versah man die Fahrzeuge der bis nach Bonn fahrenden Stadtbahn mit Aufklebern, die darüber informierten, dass der Verzehr von Lebensmitteln verboten ist, wenn sich die Wagen auf Kölner Gebiet befinden.

Originelle Szenen konnte man sich daraufhin ausmalen: „Schnell, Schatz, iss auf, wir kommen gleich an die Kölner Stadtgrenze!“ Oder auch, an ein vor Hunger quengelndes Kind gerichtet: „Gleich, Mäuschen, nur noch eine Station, dann sind wir aus Köln raus!“ Womöglich konnte man bereits vor Verlassen des Stadtgebiets den Keks schon mal auspacken; aber wehe, man biss zu früh hinein! Wer in Ruhe, Ordnung und Sauberkeit leben will, muss eben leiden.

Andernorts möchte man da nicht nachstehen. So wurde in Wien vergangenen September zunächst einmal auf einer U-Bahn-Linie das Essen verboten. Im laufenden Jahr sollen alle anderen folgen.

In Hamburg ist man da schon einen Schritt weiter: Dort verschwinden allmählich die Verkaufsstände von den Bahnsteigen, auch mit dem Hinweis darauf, diese so übersichtlicher zu machen und damit das Sicherheitsgefühl der Beförderungsfälle zu erhöhen.

Beim Essensverkauf eine deutlich andere Linie als in Hamburg, das zu den wenigen Städten gehört, die schon das Betreten des Bahnsteigs nur Inhabern eines gültigen Fahrausweises erlauben (den zu erwerben in Berlin bekanntlich meist erst auf dem Bahnsteig möglich ist), verfolgt man in Berlin. Wer mit offenen Augen (oder auch leerem Magen) durch die Hauptstadt fährt, gelangt rasch zu der Erkenntnis, dass Kochen vielleicht doch nicht so „voll im Trend“ liegt, wie dies von den Medien gern behauptet wird. Denn nur noch wenige Bahnhöfe der Berliner U- und S-Bahn (in deren Wagen der Speisenverzehr schon seit längerem verboten ist, was allerdings – siehe oben – nicht viel bewirkt) kommen ohne einen Imbiss- oder Backwarenstand aus. Und befindet er sich nicht auf dem Bahnsteig oder im Zugangsbauwerk der Station, dann vor deren Eingang.

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Zahlreich sind die Ge- und Verbote, welche für einen tugendhaften Lebenswandel beachtet werden müssen (hier in einem Berliner U-Bahn-Wagen). Foto: Jan Gympel

Dies gilt keineswegs nur für Schwerpunkte des Fremdenverkehrs, sondern auch für Stadtteile, in die sich Touristen eher selten verirren. Wenn all diese Fressbuden überleben können, so legt dies den Schluss nahe, dass sich weite Teile der Berliner Bevölkerung von Fast- bis Junkfood ernähren. Und zwar weitgehend bis hauptsächlich. Wofür sie auch über die ausreichenden finanziellen Mittel zu verfügen scheinen.

Außer, viele Berliner vor dem Hungertod zu bewahren, erfüllen zumindest die Kioske auf den Bahnsteigen aber noch eine andere wichtige Funktion, auf welche man in Hamburg – in völliger Verkennung der Situation – gern zu verzichten scheint: In diesen Verkaufsständen sind sehr fleißige Menschen zugange, die auch noch spätabends (meist und vor allem) Backwaren feilbieten. Am Wochenende, wenn S- und U-Bahn die ganze Nacht hindurch fahren, sogar spät nachts. Auf den Stationen, die – wundervolle Rationalisierung in der Dienstleistungsgesellschaft – fast alle zu Geisterbahnhöfen geworden sind, nur gelegentlich (und dann naturgemäß kurz) besucht von oft etwas desinteressiert wirkenden Sicherheitsleuten, sind diese Verkäufer das einzige ständig präsente Personal.

So tragen sie abends und nachts ganz entscheidend zur Hebung des Sicherheitsgefühls auf den Schnellbahnstationen bei: Vielleicht wirkt ihre beruhigende Anwesenheit nicht immer abschreckend auf Bösewichte. Vielleicht würden sie mir in einer Notsituation nicht unbedingt zu Hilfe eilen. Aber dass sie, wenn ich überfallen oder angegriffen werde, Hilfe rufen könnten, dieser letzten Hoffnung möchte ich mich gern hingeben.

Jan Gympel

aus SIGNAL 1/2019 (Mai 2019), Seite 28

 

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