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Talbrücke über den oberfränkischen Froschgrundsee auf der Neu- und Ausbaustrecke Nürnberg—Berlin. Während die Brücke bereits 2006 bis 2010 gebaut wurde, kann der Abschnitt Ebensfeld—Erfurt, zu dem diese Brücke gehört, nicht vor 2017 befahren werden. Aber wegen des Baufortschritts auf dieser extrem teuren Neubaustecke gibt es kein Zurück mehr, obwohl nach der für das Umweltbundesamt erstellten Studie die hier verbauten Milliarden andernorts sehr viel effizienter einsetzbar wären. Foto: DB AG |
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Der Schienenverkehr ist vergleichsweise klimafreundlich
und hat in Deutschland dennoch
nur einen geringen Anteil am Gesamtverkehr
(siehe u. a. Seite 31). Die Bundesregierung
bekennt sich zwar verbal zum Klimaschutz,
scheut im Verkehrsbereich jedoch unpopuläre
Maßnahmen, die beispielsweise zu
Lasten des Straßenverkehrs gehen. Wachsen
kann der Schienenverkehr jedoch nur, wenn
das Angebot entsprechend leistungsfähig ist.
Eine hohe Transportqualität, z. B. kurze Transportzeit
und eine stabil hohe Pünktlichkeit, ist
jedoch nur bei ausreichenden Trassenkapazitäten
zu erreichen. In dieser Hinsicht hat das
deutsche Schienennetz bereits heute etliche
problematische Abschnitte, auf denen die
Auslastung nahe an die absolute Kapazitätsgrenze
heranreicht. Die Hinterlandverkehre
der Seehäfen Hamburg und Bremerhaven
seien hier beispielhaft genannt.
Die Studie des Umweltbundesamtes hat
nun den Neu- und Ausbaubedarf für das
Schienennetz mit der Zielvorgabe ermittelt,
eine Verkehrsleistung von insgesamt
213 Milliarden tkm (Tonnenkilometer)im Jahr 2025 zu bewältigen.
Zum Vergleich: Im Krisenjahr 2009 wurde
auf dem deutschen Schienennetz eine
Verkehrsleistung von „lediglich“ 95,8 Milliarden
tkm erbracht.
Das bemerkenswerte Ergebnis der Studie:
Der Zuwachs auf 213 Milliarden
tkm ist durch Optimierung
des bestehenden
Netzes erreichbar – und
zwar ohne extrem kostenträchtige
Neubaustrecken!
Erforderlich sind schwerpunktmäßig
der zwei- bzw.
mehrgleisige Ausbau von
Bestandsstrecken, eine
konsequente Optimierung
der Leit- und Sicherungstechnik,
die Elektrifizierung
von Bypass-Strecken,
die Vorhaltung bzw. die
Wiedererrichtung von
Kreuzungsmöglichkeiten
und das Herstellen niveaufreier
Ein- und Ausfädelungen
in den Knoten. Der
Beseitigung vorhandener
bzw. in den kommenden
Jahren vorprogrammierter
Engpässe müsste
dabei hinsichtlich der Investitionspolitik
höchste
Dringlichkeit eingeräumt
werden. Angesichts der
prognostizierten Zuwachsraten speziell im
Güterverkehr ist es unverständlich, dass seitens
der Politik stattdessen an fragwürdigen,
extrem kostenintensiven Prestigeprojekten
wie Stuttgart 21 festgehalten wird.
Stuttgart 21 – ein hochgradig
ineffizientes Projekt…
Das Konzept Stuttgart 21 sieht vor, den
oberirdischen Kopfbahnhof mit 16 Bahnsteiggleisen
in einen Durchgangsbahnhof
mit nur noch 8 Gleisen unter die Erde zu verlegen.
Die Baumaßnahmen umfassen dabei
33 km Tunnelstrecke (verteilt auf 16 Tunnel)
und 18 Brücken. Neben der Tieferlegung des
Hauptbahnhofs wird ein neuer Bahnhof am
Messegelände bzw. am Flughafen errichtet.
Die aktuelle Kostenprognose beziffert den
Investitionsaufwand für Stuttgart 21 auf
4,088 Milliarden Euro (Preisstand Dezember
2009). Äußerst fragwürdig ist dieser Wert vor
dem Hintergrund, dass bis Herbst 2009 noch
ein Wert von 3,076 Milliarden Euro genannt
wurde. Der Bundesrechnungshof prognostizierte
dagegen in seinem Gutachten von
2007 bereits Baukosten von 5,3 Milliarden
Euro. Angesichts der Erfahrungen mit anderen
Großprojekten ist die Wahrscheinlichkeit
sehr hoch, dass die tatsächlichen Investitionskosten
den offiziell veranschlagten
Rahmen deutlich sprengen werden.
Zum Vergleich: Für die Neubaustrecke
Köln—Rhein/Main waren Kosten von
2,784 Milliarden Euro geplant (Planung 2005),
tatsächlich wurden es 6,012 Milliarden Euro,
die Bilanz für die Neubaustrecke Nürnberg—
Ingolstadt ist ähnlich ernüchternd.
Paradox: Mit dem Projekt Stuttgart 21 wird
nicht einmal ein Nadelöhr beseitigt, sondern
es werden im Gegenteil neue Zwangspunkte
geschaffen. Allein die kurzsichtige Beschränkung
des geplanten Tunnelbahnhofs auf
lediglich 8 Bahnsteiggleise berücksichtigt
künftige Verkehrszuwächse auf der Schiene
offensichtlich nicht. Im Hinblick auf das Erreichen
der Klimaschutzziele ist gerade Letzteres
jedoch dringend geboten.
Weitere Zwangspunkte werden z. B. die
zahlreichen eingleisigen, niveaugleichen
Verbindungskurven (Flughafen, Rohr,
Wendlinger Kurve) darstellen. Es ist unverständlich,
dass die daraus resultierenden
Risiken für einen stabilen Betrieb derart
ignoriert werden. Schon kleine Störungen
dürften zum Zusammenbruch des Verkehrs
im Raum Stuttgart führen.
Außerdem würde die „Verbannung“ in
den Untergrund mit unzähligen Treppen
und Wartezeiten an Aufzügen erhebliche
Nachteile bzw. Unbequemlichkeiten für die
Bahnkunden schaffen.
…mit extremen Kosten und Risiken
Äußerst fragwürdig ist auch die Art der Finanzierung
von Stuttgart 21: So tauchen in
der komplexen Mischfinanzierung neben
erheblichen Eigenmitteln der Deutschen
Bahn (1,469 Milliarden Euro incl. Anteil Risikofond),
weiteren erheblichen GVFG- und
Regionalisierungsmitteln (Landesanteil z. B.
285,7 Millionen Euro) u. a. auch 300 Millionen
Euro aus Bestandsnetzmitteln des Bundes
auf, finanziert aus der Leistungs- und
Finanzierungsvereinbarung (LuFV). Die
letztgenannten Finanzmittel sind eigentlich
für die Instandhaltung des ohnehin
chronisch unterfinanzierten Bestandsnetzes
bestimmt, u. a. für die Vermeidung von
Langsamfahrstellen, welche eine erhebliche
Ursache für Verspätungen darstellen. Selbst
eine Zweckentfremdung von Finanzmitteln
wird zur Durchsetzung dieses Projekts also
nicht gescheut.
Eng verknüpft mit dem Projekt Stuttgart
21 wurde die knapp 60 km lange Neubaustrecke
Wendlingen—Ulm. Der Investitionsaufwand
beträgt für dieses Vorhaben
2,89 Milliarden Euro. Das ist entsprechend
der am 27. Juli 2010 verkündeten Prognose
bereits jetzt eine Steigerung von über
40 Prozent! Das Bundesland Baden-Württemberg
beteiligt sich an der Neubaustrecke
mit einem Betrag von 950 Millionen Euro.
VDE Nürnberg—Halle/Leipzig
Immense Baukosten verursachen auch die
VDE-Projekte 8.1 und 8.2 Nürnberg—Ebensfeld—
Erfurt—Halle/Leipzig und müssen in
diesem Zusammenhang ähnlich kritisch beurteilt
werden. Veranschlagt sind für diese
Projekte rund 7,9 Milliarden Euro. Fragwürdig
werden derart hohe Investitionen, wenn
nach Fertigstellung u. a. auf der 107 km
langen Neubaustrecke Ebensfeld—Erfurt
womöglich lediglich ein ICE pro Stunde und
Richtung fahren sollte! Im Unterschied zu
Stuttgart 21 ist dieses Projekt mittlerweile
jedoch so weit vorangeschritten, dass die
Arbeiten kaum mehr sinnvoll abgebrochen
werden können. Die Neubaustreckenabschnitte
sind fast komplett in Bau und am
9. September 2010 wurde auf dem 32,5 km
langen Abschnitt Ilmenau—Erfurt bereits
mit dem Gleis- und Oberleitungsbau begonnen.
Schienennetzausbau zur Beseitigung
von Kapazitätsengpässen dringlich
Kapazitätsengpässe im deutschen Schienennetz
bestehen schwerpunktmäßig in
den Knoten und in der stark nachgefragten
Nord-Süd-Richtung. In der UBA-Studie
sind daher sechs Hochleistungskorridore
definiert, die bis 2025 dringend ertüchtigt
werden müssten. Der hierfür notwendige
Ausbaubedarf ist nachfolgend erläutert:
Ausbaubedarf der Hochleistungskorridore |
Korridor |
Verlauf |
Aus-/ Neubaubedarf (Strecken-km) |
Elektrifizierung (Strecken-km) |
A |
Nordseehäfen— Polen/Tschechien |
52 |
67 |
B |
Nordseehäfen— Südosteuropa |
164 |
442 |
C |
Nordseehäfen— Norditalien |
122 |
13 |
D |
ARA-Häfen/Rhein- Ruhr—Schweiz |
166 |
112 |
E |
ARA-Häfen/Rhein- Ruhr—Südosteuropa |
95 |
0 |
F |
ARA-Häfen/Rhein- Ruhr—Polen |
23 |
0 |
- |
Einzelstrecken |
102 |
183 |
Summe |
Deutschland |
725 |
817 |
ARA-Häfen: Amsterdam, Rotterdam und Antwerpen
Fazit: Um eine Verkehrsleistung von
213 Milliarden tkm auf dem deutschen
Bahnnetz erbringen zu können, muss die
vorhandene Schieneninfrastruktur auf
724 km um ein zweites, drittes und/oder
viertes Gleis ergänzt werden; 817 Streckenkilometer
müssen elektrifiziert werden.
Hinzu kommen 10 bis 15 kleinere Maßnahmen
wie z. B. Verbindungskurven. Der
Korridor B beinhaltet dabei u. a. auch die
Herstellung der kompletten Zweigleisigkeit
zwischen Uelzen und Stendal und die
seit langem geforderte komplette Elektrifizierung
der Strecke Reichenbach—Hof—
Regensburg.
Der gesamte Aufwand für die beschriebenen
Ausbaumaßnahmen summiert sich
auf rund 11 Milliarden Euro. Diesem Betrag
liegen Annahmen von 12 Millionen Euro
pro Streckenkilometer Gleisausbau und
2 Millionen Euro pro km für die Elektrifizierung
zugrunde.
Im Unterschied zu den meisten bisher
geplanten Neubaustrecken profitieren von
diesen Investitionen der Fern-, Regionalund
Güterverkehr gleichermaßen. Daneben
hat das vom Umweltbundesamt vorgeschlagene
Ausbauprogramm den großen
Vorteil, dass fertiggestellte Teilabschnitte
umgehend dem Betrieb zur Verfügung stehen,
im Gegensatz zu den zeitaufwändigen
„Alles-oder-Nichts-Projekten“ wie dem Neubaustreckenabschnitt
Ebensfeld—Erfurt
durch den Thüringer Wald. Baubeginn war
hier April 1996, die Inbetriebnahme soll voraussichtlich
in 2017 erfolgen!
Keine Stellungnahme des Verkehrsministeriums
Die Ergebnisse der UBA-Studie wurden
seitens des Bundesverkehrsministeriums
bislang – zumindest öffentlich – nicht
kommentiert. Dabei sollte die Studie zum
Anlass genommen werden, die Verkehrspolitik
angesichts leerer Kassen und einer
Rekord-Staatsverschuldung grundlegend
zu korrigieren. Ein erheblicher Investitionsstau
besteht an vielen Stellen der Schieneninfrastruktur.
Für etliche
Projekte des „Vordringlichen
Bedarfs“ fehlen noch immer
Finanzierungsvereinbarungen.
Unabhängig von den Ausbaumaßnahmen
im Zuge der sechs
Hochleistungskorridore ließe
sich die Liste noch um wichtige
Projekte erweitern, beispielsweise:
- Cottbus—Görlitz—Grenze
Deutschland/Polen (Ausbau/
Elektrifizierung)
- Ducherow—Karnin—Świnoujście
(Wiederaufbau und Elektrifizierung)
- Berlin—Stralsund (Ausbau für
eine Höchstgeschwindigkeit
von 160 km/h)
Um einen deutlichen Mehrverkehr
auf der Schiene bewältigen
zu können, müssen die Prioritäten der
Infrastrukturpolitik grundlegend verändert
werden. Von Bundesverkehrsminister Peter
Ramsauer wurde zwar geäußert, dass das
Schienennetz wegen der prognostizierten
Steigerungen im Schienengüterverkehr
massiv ausgebaut werden solle. Diesen
Worten müssen aber auch entsprechende
Taten folgen. Mit der Studie des Umweltbundesamtes
„Schienennetz 2025/2030“
wurde dazu die konzeptionelle Grundlage
vorgelegt.
Aber ohne Verzicht auf extrem teure (mit
Geldern der Steuerzahler zu bezahlende)
Prestigeprojekte wie Stuttgart 21 sind die
beschriebenen, deutlich effizienteren und
kapazitätssteigernden Ausbaumaßnahmen
der Schieneninfrastruktur nicht finanzierbar.
Die KCW-Studie „Schienennetz 2025/2030 –
Ausbaukonzeption für einen leistungsfähigen
Schienengüterverkehr“ gibt es unter:
www.uba.de/uba-info-medien/4005.html
Die „Strategie für einen nachhaltigen Güterverkehr“,
in der das Umweltbundesamt den
Ausbau des Schienennetzes als eines von
sieben Maßnahmenbündeln vorschlägt, um
den Güterverkehr umweltverträglicher zu
gestalten, ist verfügbar unter:
www.uba.de/uba-info-medien/3857.html
Deutscher Bahnkunden-Verband,
Berliner Fahrgastverband IGEB
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