Keine Sorge. Es ist nicht so, dass der viv e. V.
meint die Weisheit mit Löffeln gefressen zu
haben und jetzt die ultimative Bewertung
des Großprojekts Stuttgart 21 abgeben
möchte, keineswegs. Angesichts der offensichtlichen
kommunikativen Schwierigkeiten
um dieses Projekt – wenn man das so
zurückhaltend ausdrücken kann – scheint
es aber interessant zu fragen: Was lehrt uns
das? Die Schlussfolgerung vorab: Das deutsche
Planungsrecht hat vollständig versagt
und wird den heutigen Bedürfnissen der
Bürgerinnen und Bürger nicht gerecht. Es
gehört dringend reformiert.
Versuchen wir eine Analyse: Fünf typische
Problemzonen von Verkehrsinvestitionsprojekten
lassen sich bei Stuttgart 21 beispielhaft
isolieren:
1. Die Planungsverläufe sind viel zu lang.
Nach über 15 Jahren sind Argumente vergessen
oder überholt. Zum großen Teil sind es
nicht einmal mehr dieselben Beteiligten, die
sich gegenüberstehen. Zudem ist Stuttgart
21 – ähnlich wie viele andere Projekte des
Bundesverkehrswegeplans – ein „Schläfer“.
An die Grundsatzentscheidungen kann sich kaum noch
jemand erinnern, alle gingen davon aus,
dass der Finanzmangel das Projekt „beerdigen“
würde, und tatsächlich herrschte viele Jahre Stille.
Plötzlich tauchte das tot geglaubte Projekt wieder
auf und die Grundsatzdiskussion lebte wieder
auf. Wirtschaftliche Rahmenbedingungen
haben sich geändert, der Zeitgeist ist ein anderer.
Zahlen stimmen nicht mehr – natürlich,
wie sollten sie auch nach Jahren? Erforderliche
Neuberechnungen werden als Kostenexplosion
und die Vorhabenträger als unehrlich
wahrgenommen.
|
„… Wie ihnen zweifellos bekannt sein wird, sehen die Pläne zur Entwicklung der Außenregion der Galaxis den Bau einer Hyperraum-Expressroute durch Ihr Sternensystem vor. Und Ihr Planet ist einer von denen, die gesprengt werden müssen. Alle Planungsentwürfe und Zerstörungsanweisungen haben 50 ihrer Erdenjahre in ihrem zuständigen Planungsamt auf Alpha Centauri ausgelegen …“ Douglas Adams: Per Anhalter durch die Galaxis |
|
2. Das deutsche Planungsrecht hat ein überholtes Menschenbild.
Der Musterbürger des deutschen Planungsrechts
ist der Eigentümer, der sich gegen die
Beeinträchtigung seines Grundstücks durch
eine Verkehrsinvestition wehrt. Für ihn stellt
das Rechtssystem ein Arsenal an Bremsklötzen
bereit, die mehr oder weniger verfahrensbehindernd
wirken können. Für den
Bürger oder die Bürgerin, die sich – ohne
direkte Betroffenheit – für das Projekt interessieren,
Ideen oder Anregungen einbringen
wollen, ist in dieser Welt kein Platz. Der
engagierte Bürger fühlt sich ignoriert und
überfahren.
3. Das Planungsrecht beantwortet Fragen, die keiner stellt, und lässt die wichtigen Grundsatzfragen unbeantwortet.
Grundsatzfragen werden ohne Beteiligung
der Bürger entschieden. Komplizierte Detailfragen
von Planung und Bau dagegen
der Bürgerbeteiligung unterworfen. Dabei
geht es in den wenigsten Fällen tatsächlich
um die Brutplätze
des Juchtenkäfers, sondern
vielmehr um die grundsätzliche Frage:
Wollen wir als Bürger diese Investition überhaupt?
Nur diese Frage wird nicht gestellt.
4. Eine Vielzahl von Einzelprojekten ergibt noch kein überzeugendes Gesamtkonzept.
An dieser Stelle soll das übliche Loblied auf
die Schweiz nicht fehlen. Einzelmaßnahmen
ordnen sich dort in das – vorher intensiv diskutierte
– Konzept Bahn 2000 ein. Der Sinn
der Einzelmaßnahme erschließt sich auch
aus dem Zusammenhang. Davon kann angesichts
des über die Jahre gewucherten
Projektdschungels des Bundesverkehrswegeplans
nicht die Rede sein. Keine erkennbare
verkehrsträgerübergreifende Priorisierung, keine
integrierte Planung, stattdessen die Gerechtigkeit
der Gießkanne. Dass die Einzelmaßnahme
Teil eines großen, konsequent verfolgten
Plans sei – diesen Eindruck kann der Bürger
in deutscher Planungswirklichkeit nicht haben.
5. Man redet aneinander vorbei.
Die Verhaltensmuster sind eigentlich immer
gleich, ob Ortsumgehung, Autobahn oder
Bahnhofsneubau: In der Planungsphase
eher zurückhaltendes Interesse der Bürgerschaft.
Rollt der erste Bagger, kommt das
Erschrecken: Was wird denn hier gebaut,
davon wusste ich ja nichts! Anschließend
folgt der korrekte aber wenig hilfreiche Hinweis
der Vorhabenseite auf abgeschlossene
Planungsverfahren und erfolgreiche Rechtsverfahren.
Verbitterung und der Eindruck
„die machen ja eh, was sie wollen“ sind das
Ergebnis.
Was nun?
Die Schlussfolgerungen sind so einfach wie
naheliegend:
- Das Planungsrecht muss gestrafft und entschlackt werden.
- Der Bundesverkehrswegeplan muss zu einem priorisierten Gesamtplan für alle Verkehrsträger weiterentwickelt werden.
- Die Bürgerinnen und Bürger müssen in die Grundsatzfragestellungen eingebunden werden und das unabhängig von ihrer vermeintlichen Betroffenheit – und zwar bevor die Planungen ins Detail gehen.
- Information ist keine Holschuld der Bürgerinnen und Bürger, sondern eine Bringschuld der Politik.
- Inhaltliche Argumentation ist allemal besser als formaljuristische.
Ist das ein Plädoyer für Volksentscheide?
Ganz klar nein. Die repräsentative Demokratie
hat sich über 60 Jahre bewährt und sollte
nicht entwertet werden. Wen dieses Argument
nicht überzeugt, der sollte für sich
die Frage beantworten, welches Volk denn
zum Beispiel über Stuttgart 21 abstimmen
sollte? Die Stuttgarter, weil es „ihr“ Bahnhof
ist? Die Baden-Württemberger, weil ihr Steuergeld
in die Maßnahme fließt? Oder alle
Deutschen, weil es schließlich ein Bundesverkehrsweg
und Teil einer internationalen
Fernverbindung ist?
Vollends absurd wird die Frage, wenn man
sich eine U-Bahn oder S-Bahn in einer beliebigen
Großstadt vorstellt, die in der Regel
überwiegend aus Bundesmitteln finanziert
werden …
Müssen also die Bürger in Oldenburg und
Berchtesgaden an die Wahlurne, um über
die U 5-Verlängerung in Berlin zu entscheiden?
Wohl kaum … das Schweizer Konzept
funktioniert im Schweizer Verfassungszusammenhang,
in Deutschland würde es zum
Chaos führen.
Die strikte Ja-oder-Nein-Entscheidung
ohne Zwischentöne ist aber auch gerade
nicht das, was engagierte bürgerschaftliche
Mitbestimmung ausmacht.
Online-Konsultationen – wie in einigen
Ländern und Städten schon erprobt – geben
viel mehr Spielraum effizienten Mitwirkens –
vorausgesetzt, Politik und Verwaltung verstehen
sie nicht nur als Alibiveranstaltung,
sondern als Chance, eigene Positionen zu
überdenken, bessere Problemlösungen zu
finden und breiten gesellschaftlichen Konsens
herzustellen.
Und eins noch: Zu viel Kommunikation
kann es bei Vorhaben dieser Art nicht geben.
Internet und moderne Präsentation ermöglichen
heute eine ganz andere Art der Bürgerbeteiligung
als noch vor 20 Jahren. Sicher,
es macht Arbeit und einige der Anregungen
werden wohl eher nicht hilfreich sein – egal,
wenn es dem Konsens dient. In aller Bescheidenheit
zeigt der viv e. V. mit seinen
„Infotainment“-Veranstaltungen, wie man
verkehrspolitische Fragestellungen populär
darstellen kann.
Der Beitrag wurde im Oktober 2010 vor dem
Schlichtungsverfahren geschrieben.
Verkehrspolitischer Informationsverein e. V.
Schlüterstraße 37, 10629 Berlin
Telefon (030) 69 51 22 44
vivev@web.de www.vivev.de
Alexander Kaczmarek, viv e. V.
|