Nahverkehr

Verfehlte Verkehrspolitik wurde für alle spürbar

Als am 9. November 1989 plötzlich die Mauer ihre trennende Funktion einbüßte, offenbarten sich innerhalb West-Berlins über Nacht die Auswirkungen verkehrspolitischer Fehlentscheidungen der letzten Jahre. Plötzlich fehlten Busse und Bahnen. Schmerzlich vermißte man nun ganz besonders die Ringbahn, die S-Bahn nach Lichterfelde Süd und die nach Staaken. So mußten die neuen Fahrgäste aus der DDR in eiligst herbeigeschafften Bussen aus dem Bundesgebiet und in übervollen S- und U-Bahn-Zügen befördert werden. Die Engpässe reichten sogar so weit, daß die U-Bahn-Linien 3 und 4 am Wochenende eingestellt wurden, um Zugkapazitäten für die U1 bereitzustellen!

Glücklicherweise beabsichtigt der SPD/AL-Senat, den öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) in Berlin auszubauen. So wurden zum 1. Oktober 1989 und noch etwas später die ersten Maßnahmen (Taktverdichtungen, Busspuren u.ä.) ergriffen. Doch auch diese Verbesserungen konnten natürlich noch nicht sofort Wronskis BVG-Sparpolitik der letzten fünf Jahre ausgleichen. Trotz einzelner Verbesserungen für den ÖPNV (z.B. 10 Minuten-Takt auf der S2 nach Frohnau) sind die meisten Weichen im wahrsten Sinne des Wortes falsch bzw. gar nicht gestellt worden. Das bekommen wir jetzt alle zu spüren.

Man denke daran,

  • daß der damalige CDU/FDP-Senat sich auch durch ein erfolgreiches Bürgerbegehren nicht dazu bewegen ließ, die S-Bahn nach Lichterfelde Süd in Betrieb zu nehmen,
  • daß der Weiterbau der U9 auf der S-Bahn-Trasse beschlossen wurde, so daß beinahe viele Millionen in ein andere Maßnahmen blockierendes Langzeitprojekt geflossen wären und die Zukunft der S-Bahn nach Lichterfelde Süd
  • Teltow verbaut worden wäre,
  • daß trotz eines weiteren Bürgerbegehrens, dieses Mal für Ring- und Westbahn, die Bauarbeiten für den ersten Abschnitt der Ringbahn frühestens für das Jahr 1991 vorgesehen waren,
  • daß nach Staaken die ersten Züge erst nach dem Jahr 2000 rollen sollten,
  • daß das Busnetz über Jahre hinweg von Ausdünnungen betroffen war,
  • daß eine Entscheidung, neue Fahrzeuge für das Kleinprolil-U-Bahn-Netz zu beschaffen, nicht getroffen wurde, dafür aber Pläne kursierten, diesen Teil des U·Bahn-Netzes auf M-Bahn-Betrieb umzustellen, was einen durchgehenden Betrieb von Krumme Lanke nach Pankow unmöglich emacht hätte,
  • daß die Einführung des neuen Zugsicherungssystems EZS 800 für die S-Bahn in die Wege geleitet wurde, welches das West-Berliner S-Bahn-Netz von dem Ost-Berlins technisch trennt,
  • daß mehrere Autobahn- bzw. Schnellstraßenprojekte vorgesehen waren, wobei insbesondere die Westtangente eine trennende Wirkung zwischen Ost- und West-Berlin gehabt hätte.

Dies sind nur einige Fehler, die in der Vergangenheit gemacht wurden. Es wäre allerdings ungerecht, dies einzig und allein dem vorigen Senat zuzurechnen; auch die SPD hat einiges dazu beigetragen, Porzellan zu zerschlagen. Doch unermüdlich haben Fahrgastverbände und Bürgerinitiativen den Ausbau des ÖPNV gefordert. Oftmals wurden sie überhört. Man kann abschließend zu diesem Punkt sagen, daß sich der Berliner Schienenverkehrs-Verband, die IGEB und andere nur in einem Punkt getäuscht haben: Sie haben nicht erkannt, daß ihre Prognosen und die Berechtigung ihrer Anliegen bereits innerhalb so kurzer Zeit so ein Gewicht erhalten würden!

Speziell in Neukölln sind die U7 und Teile des Busnetzes permanent überlastet. Kurzfristig kann dieses Problem nur durch Taktverdichtungen innerhalb des bestehenden BVG·Netzes gemiIdert werden. Doch stoßen solche Maßnahmen irgendwann an ihre Grenze. Es ist also notwendig, sich auch über mittel- und langfristige Maßnahmen Gedanken zu machen.

Grundsätzliche Überlegungen

Zunächst müssen die Verkehrsknotenpunkte in Neukölln bzw. in der Nähe Neuköllns erkannt werden. Auf diese müßten sich Verbesserungsmaßnahmen beim ÖPNV beziehen. Dies sind

  • Bahnhof und Flughafen Schönefeld (man beachte hier insbesondere die Aufwertung durch neue Fernverkehrsverbindungen auf der Schiene),
  • der Bahnhof Schöneweide (S-Bahn, Straßenbahn, Bus, Fernbahn),
  • das Subzentrum in der Karl-Marx-Straße,
  • in Zukunft auch der Bf. Hermannstraße (S4 und U8, wobei letztere noch eine verstärkte Bedeutung als Verbindun zum Alexanderplatz erlangen dürfte).

Projekte

Aufgrund der notorischen Überlastung der U7 einerseits und der Lücken im BVG-Schienennetz andererseits muß die Wiederinbetriebnahme und der Ringbahn im Vordergrund stehen. Daher müssen die Bauarbeiten zwischen Schöneberg und Neukölln unverzüglich begonnen werden. Bisher war als Endpunkt der S4 stets der Bahnhof Sonnenallee vorgesehen. Es muß aber die Frage auftauchen, ob für den grenzüberschreitenden Verkehr nicht der Abzweig über Köllnische Heide die günstigere Alternative wäre. Den hohen Instandsetzungskosten des Abnschnittes Köllnische Heide - Neukölln steht nämlich der nicht zu unterschätzende Vorteil gegenüber, daß über diese Strecke die Linienführung Ringbahn - Flughafen Schönefeld ermöglicht wird. Die Züge der S4 könnten dann über Köllnische Heide bis zum Bahnhof Baumschulenweg fahren. Die Reisenden würden dann nach dem Passieren der Grenzkontrollen mit der S-Bahn über Schöneweide Richtung Schönefeld weiterfahren. Damit würge auch die U7 im Süden erheblich entlastet werden.

Als weitere Möglichkeit zur Entlastung der U7 einerseits und zur Erschließung Schönefelds andererseits sollte die Verlängerung der S2 über Mahlow nach Schönefeld untersucht werden. In Mahlow bestünde dann Anschluß an die Vorortzüge nach Rangsdorf.

Neben der ohnehin fest vorgesehenen und auch sinnvollen Verlängerung der U8 zum S-Bf. Hermannstraße käme noch die Verlängerung der U7 bis Schönefeld in Betracht. Dies hätte den Vorteil einer Direktverbindung zum Subzentrum in der Karl-Marx-Straße. Aber aus folgenden Gründen halten wir diese Maßnahme für problematisch:

  • Die U7 ist ohnehin schon hoffnungslos überlastet, Diesen Effekt würde jede Verlängerung noch verstärken.
  • Die U7 hat jetzt bereits eine zu große Ausdehnung, woraus viele Betriebsstörungen resultieren. Auch würde die Belastung der Fahrpersonale durch Verlängerungen noch stärker zunehmen.
  • Der Bau des Abschnitts Rudow - Schönefeld würde hohen Investitionssummen beanspruchen, die jetzt aber an anderer Stelle dringender benötigt werden. Denn zumindest einige Teile dieser Verlängerung müßten als Tunnelstrecke erstellt werden.

Aufgrund der technischen Probleme einerseits und des hinreichenden Ersatzes durch die S-Bahn andererseits (siehe oben) halten wir die Verlängerung der U7 nach Schönefeld derzeit für überflüssig.

In relativer Nähe zum Bezirk Neukölln enden auf Ost-Berliner Gebiet die Straßenbahn-Linien 17, 84 und 85. Die Linien 17 bzw. 85 könnten vom Königsdamm ausgehend über Königsheideweg in die Johannisthaler Chaussee verlängert werden. Dort könnte dann die Grenzkontrolle erfolgen. Auf West-Berliner Seite könnte dann eine Straßenbahn-Linie in Richtung U7 anschließen. Eventuell könnten damit auch Buslinien (z. B. der Bus 52) ersetzt werden. Damit würde die Gropiusstadt eine Schienenverbindung zum Knotenpunkt Schöneweide erhalten. Außerdem sollte ein Abzweig der Linie 84 an der Grünauer Straße in die Rudower Straße (Ost-Berlin) untersucht werden. Auf West-Berliner Seite könnte hier ebenfalls eine zur U7 führende Straßenbahn-Linie anschließen. Auch hierbei könnte die Straßenbahn Buslinien ersetzen.

Güterzug
Güterzug der Neukölln-Mittenwalder-Eisenbahn (NME) in Rudow. Intensiv diskutiert wird z.Zt. über Möglichkeiten, im Berliner Südosten mehr Verkehr auf die Schienen zu verlagern. Dabei wird auch immer wieder die NME genannt, auf der es bis 1955 auch Personenverkehr gab. Doch für einen S-Bahn-ähnlichen Verkehr ist die NME wahrscheinlich nicht geeignet, zumindest nicht kurz- oder mittelfristig. Foto: Th. Billik

Die private Neukölln·Mittenwalder Eisenbahn (NME) dient nur noch dem Güterverkehr. Ein Wiederaufbau der Verbindung zwischen Rudow und Schönefeld scheint rinzipiell machbar. Sollte der Ortsteil Schönefeld bebaut werden, muß deshalb unbedingt eine Trasse für die Verlängerung der NME freigehalten werden. Eine bis Schönefeld verlängerte NME hätte einige Vorteile: Güter aus der DDR könnten per Schiene nach West-Berlin transportiert werden. Damit könnte man die Straßen entlasten. Da über den Außenring viele Güterzüge fahren, dürfte auch mit einem Verkehrsaufkommen für die NME zu rechnen sein. Auch für den Personenverkehr ergeben sich Perspektiven: Dieseltriebwagen oder lokbespannte Züge könnten die Verbindung zwischen den Knotenpunkten Hermannstraße und Schönefeld herstellen. Außerdem würden das Industriegebiet an der Gottlieb-Dunkel-Straße, der BUGA-Park von 1985 sowie Teile der Gropiusstadt an den Schienen-ÖPNV angeschlossen werden. Außerdem könnte die U7 ein wenig entlastet werden. Allerdings tauchen hierbei zahlreiche technische Probleme auf, u. a. die geringe zulässige Höchstgeschwindigkeit auf der Strecke, der Oberbau, die Signaltechnick und die zahlreichen ungesicherten Bahnübergänge. Keines der Probleme ist aber unlöslgar.

Nun doch weiterer Autobahnbau?

In letzter Zeit konnte man insbesondere von Teilen der SPD hören, daß die jüngsten Ereignisse in Ost-Berlin den Bau der Autobahn nach Neukölln und weiter nach Treptow in Ost-Berlin erforderlich machten. U.E. ist eine solche Maßnahme, parallel zum noch stilliegenden S-Bahn-Ring (!), zur Lösung der Verkehrsprobleme ungeeignet. Damit würde ein neuer Anreiz zum Autofahren geschaffen, während der vorhandene Verkehr nur zum Teil von den Stadtstraßen auf die Autobahn verlagert würde und auf den Zubringerstraße zur Autobahn, wie z.B. der Karl-Marx-Straße und der Hermannstraße, der ohnehin schon dichte Verkehr noch mehr zunähme. Im Falle der Verlängerung der Autobahn gar bis nach Ost-Berlin hinein würde man die Verkehrsprobleme von Neukölln noch nach Treptow übertragen. Aus diesen Gründen lehnen wir dieses Verkehrsprojekt vehement ab.

Wir hoffen, daß es gelingt, den ÖPNV (auch) im Bezirk Neukölln stärker als bisher zu fördern und den Autoverkehr zu begrenzen. Dazu wollen wir mit unserer Arbeit und den Vorschlägen beitragen.

Fahrgastinitaitive Nahverkehr Neuköln

aus SIGNAL 1/1990 (Februar 1990), Seite 12-14

 

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