Nahverkehr

Berliner Tram bleibt auf der Strecke

Weltweit erlebt die Straßenbahn eine Renaissance. Auch in Berlin kann dieses Verkehrsmittel schon kurzfristig einen entscheidenden Beitrag zur Bewältigung der rapide wachsenden Verkehrsprobleme leisten, was von Stadt- und Verkehrsplanern längst erkannt wurde. Dennoch hat Verkehrssenator Herwig Haase (CDU) das für den Sommer 1991 versprochene Tram-Konzept bis heute nicht zustande gebracht. Viel gravierender als dieses planerische Nichtstun ist jedoch, daß durch viele gegen die Straßenbahn gerichtete Einzelentscheidungen nahezu täglich ein Beitrag zur Demontage dieses potentiell wichtigsten Berliner Verkehrsmittels geleistet wird. Wie Senators Haases Demontagepolitik abläuft, soll anhand von Beispielen aus den Bereichen Betrieb, Fahrzeuge und Streckenplanung gezeigt werden.

1. Tram-Betrieb

Überfüllte Straßenbahnen durch kürzere Züge

Die pauschale Kürzung der Zuschüsse an die BVG von allein 150 Mio DM im Jahr 1992 führt dazu, daß die BVG gezwungen ist, fahrgastfeindliche Angebotskürzungen auch bei der Tram durchzuführen. So verkehren zahlreiche Linien nur noch als Kurzzüge oder völlig ohne Beiwagen, obwohl die dadurch erreichbaren Kosteneinsparungen minimal sind. Ein Beispiel: Während Verkehrssenator Haase für den Autoverkehr einen leistungsfähigen "inneren Straßenring" plant, fahren auf den dort verkehrenden Tramlinien 4 und 13 nur noch Kurzzüge, was zu teilweise völlig überfüllten Zügen nicht nur im Berufsverkehr führt.

Immer längere Fahrzeiten mangels eigener Trassen

Tram im Stau
Möllendorffstraße in Berlin. Die Straßenbahn steht im Autostau. Solche Mißstände findet man in vielen Straßen der Stadt. Durch Freihaltung der Gleise wären bei der BVG 20 bis 30 Mio DM im Jahr einzusparen. Foto: F. Brunner

Auf immer mehr Streckenabschnitten bleibt die Tram tagtäglich im Autostau hängen, obwohl Abmarkierungen für eine eigene Trasse problemlos und kostengünstig sofort für Beschleunigung und damit Reduzierung der Betriebskosten sorgen könnten. Höchste Priorität müssen dabei Abmarkierungen auf der Invaliden-, Brunnen-, Chaussee-, Eberswalder, Möllendorff-, Seelenbinder- und Bahnhofstraße sowie auf der Prenzlauer Promenade und der Langen Brücke haben. Jeder Kilometer abmarkierte Trasse bedeutet jährliche Kosteneinsparungen von 1 bis 5 Mio DM, so daß allein durch Gleisabmarkierungen auf den vorgeschlagenen Straßen 20 - 30 Mio DM pro Jahr eingespart werden können. Stattdessen werden selbst dort, wo bisher Abmarkierungen existierten, diese nicht mehr erneuert, z.B. Dimitroffstraße/Schönhauser Allee. An anderen Stellen werden bewußt Linksabbiegespuren auf den Tramgleisen angelegt, z.B. Seelenbinderstraße.

Immer längere Fahrzeiten durch fehlende Vorrangschaltungen

Allein 1991 sind 20 neue Lichtsignalanlagen an Kreuzungen bzw. Einmündungen gebaut worden, die von Tramlinien befahren werden. Bei keiner Ampel hat die Tram eine Vorrangschaltung erhalten. Im Gegenteil: Häufig hat die Tram nur 8 bis 10 s grün bei Ampelumlaufzeiten von z.T. mehr als 2 Minuten. Allein für die 1991 neu gebauten Ampeln entstehen der BVG nach Berechnungen der IGEB Mehrkosten durch erhöhten Personal-, Fahrzeug- und Energieeinsatz von über 10 Mio DM.

Bim in Wien
Währinger Straße in Wien. So einfach und preiswert ist es, das Gleis der Tram freizuhalten. Im Notfall können die Schwellen von den Autos überfahren werden. Solche oder ähnliche Lösungen findet man in vielen Städten - ausgenommen Berlin. Foto: M. Horth

Auch bei den zukünftig geplanten Lichtsignalanlagen wird die Tram - entgegen den offiziellen Verlautbarungen von Verkehrssenator Haase - keinen Vorrang bekommen. Es wird nicht auf andernorts längst bewährte Technik zurückgegriffen, sondern die Vorrangschaltung soll erst durch ein - nach heutigen Planungen im Jahr 2003 zur Verfügung stehendes - hochkompliziertes Betriebsleitsystem gesteuert werden.

Aber selbst bestehende Anforderungsschaltungen für die Tram werden häufig grundlos außer Betrieb genommen, z.B. Pappelallee Ecke Stargarder Straße, Invaliden- Ecke Brunnenstraße und an mehreren Stellen im Zuge des "inneren Straßenringes" (Dimitroffstraße).

Viel zu wenig Geld für Streckenmodernisierungen

Der Zustand der Gleisanlagen macht an vielen Stellen dringend Sanierungen erforderlich. In diesem Jahr hat der Verkehrssenator lediglich ca. 20 Mio DM dafür bereitfestellt. Bei Modernisierungskosten von ca. 3 Mio DM je Kilometer können 1992 also lediglich ca. 7 km des insgesamt 176 km langen Netzes modernisiert werden. Hinzu kommt, daß die Verwendung der Mittel nicht nach der Dringlichkeit für die Tram-Sanierung erfolgt. So werden z.B. wegen Straßenbauarbeiten ÖPNV-Mittel zum Gleisbau in der Schönhauser Allee eingesetzt, obwohl der Zustand der Gleise hier keine sofortige Sanierung erfordert. Und nach Abschluß der Arbeiten wird sich für die Fahrgäste in der Schönhauser Allee nichts verbessert haben: Die Tram wird weiter im Stau stehen, und auch an der unzumutbaren Zustiegssituation wird nichts geändert.

Dort, wo Sofortmaßnahmen erforderlich sind, fehlt es dann angeblich an Geld. So muß die Straßenbahn in der Allee der Kosmonauten wegen des schlechten Gleiszustandes abschnittsweise bereits seit Jahren im Schrittempo fahren, was nicht nur den Fahrgästen Verdruß bringt, sondern auch die Betriebskosten unnötig in die Höhe treibt.

Auch eine für den Einsatz der moderneren Tatra-Fahrzeuge erforderliche bessere Stromversorgung durch zwei neue Unterwerke im Pankower und im Köpenicker Netz ist bis zum heutigen Tage unterblieben, obwohl BVG, Fahrgäste und Anwohner vom Einsatz der moderneren Tatra-Wagen profitieren würden.

Fahrgastschikanen bei Schienenersatzverkehr

Auf den Strecken, auf denen endlich die Gleisanlagen erneuert werden, sind kurzzeitige Streckenstillegungen unvermeidbar. Die daraus resultierenden Nachteile für die Fahrgäste müssen aber auf ein unvermeidbares Minimum reduziert werden. Die Realität sieht anders aus: Während in anderen Städten, wie z.B. Köln, auch längere Streckenabschnitte über ein Wochenende total erneuert werden, kommt es in Berlin zu Wochen- und teilweise monatelangen Betriebseinstellungen.

Ein Schienenersatzverkehr (SEV) wird z.T. gar nicht mehr eingerichtet (Beispiel Köpenick, Müggelseedamm: Stillegung seit Herbst 1991, Ende noch nicht absehbar), oder er ist völlig unzureichend, z.B. zu kleine und zu wenig Busse, Busse die keine Kinderwagenmitnahme erlauben, fehlende Fahrgastinformationen usw. Es werden Strecken tagelang für Arbeiten gesperrt, die problemlos auch nachts erfolgen können (z.B. Gleisstopfarbeiten zwischen Betriebshof Marzahn und Hellersdorf vom 5.5. bis 10.5.92). Während der 2-wöchigen Gleiserneuerungsarbeiten auf dem 200 m langen Abschnitt der Konrad-Wolf-Straße zwischen Weißensseer Weg und Altenhofer Straße hätte täglich Zehntausenden von Fahrgästen eine mehr als 2 km lange Stop-and-Go-Fahrt im Bus auf der Landsberger Allee erspart bleiben können, wenn die Verkehrspolizei sich nicht geweigert hätte, für die bestehende (!) Gleisverbindung von der Hohenschönhauser Straße in den Weißenseer Weg eine Grünphase im Ampelumlauf vorzusehen (s. SIGNAL 9/91 ).

Straßenbahn
Friedrichstraße. Auch während der Erneuerung der Weidendammer Brücke könnte hier die Straßenbahn fahren. Zwar ist die Wendeschleife Am Kupfergraben nicht erreichbar, aber der Einsatz der vorhandenen Zweirichtungsfahrzeuge würde ein Enden auf der Friedrichstraße ohne Wendeschleife ermöglichen. Foto: F. Brunner

Z.T. erfolgen Betriebseinstellungen aber auch, ohne daß irgendwelche Straßenbahnerneuerungen erfolgen. So ist die Linie 71 seit Herbst 1991 abschnittsweise eingestellt. Grund: Wegen Straßenbaumaßnahmen in der Blankenburger und der Rotenbachstraße erfolgt eine Umleitung des Autoverkehrs entlang der Tramstrecke. Damit der Autoverkehr nicht behindert wird, werden Fahrgäste nicht mehr befördert...

Auch die ab Sommer 1992 geplante Sperrung der Weidendammer Brücke wird für Tramfahrgäste einschneidende Nachteile bringen. Bei Einsatz aller vorhandenen Zweirichtungsfahrzeuge könnte wenigstens ein Teil der Linien bis zum nördlichen Brückenkopf fahren. Stattdessen wird der Straßenbahnbetrieb in der Friedrichstraße vollständig eingestellt, und die in der Oranienburger Straße verkehrenden Linien werden hoffnungslos im Stau stecken bleiben, weil diese Straße Umleitungsstrecke für den Autoverkehr wird und Trassenabmarkierungen natürlich nicht vorgesehen sind.

2. Straßenbahn-Fahrzeuge

Berlin ist bald die einzige Stadt ohne modernisierte Fahrzeuge

Während inzwischen fast alle Städte in den neuen Bundesländern angefangen haben, mit Hilfe von Bundesgeldern ihren Straßenbahn-Fahrzeugpark zu modernisieren, hat man in Berlin die zur Verfügung stehenden Gelder bis heute nicht abgerufen. Eine Modernisierung der Berliner Fahrzeuge ist aber vor allem wegen der damit möglichen deutlichen Reduzierung der Betriebskosten durch niedrigeren Energieverbrauch und feringeren Wartungsaufwand sowohl beim Fahrzeug wie am Gleisbau dringend erforderlich. Die Potsdamer Verkehrsbetriebe werden allein 1992 20 Wagen mit Hilfe von Bundesgeldern umfassend erneuern, und Städte wie Magdeburg, Schwerin oder Halle werden innerhalb der nächsten 2 Jahre fast ihren gesamten Fahrzeugpark modernisieren. Nur in Berlin geschieht nichts.

Keine Bestellung von Neufahrzeugen

Trotz bereitstehender Bundesgelder aus dem Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz (GVFG) ist bis zum heutigen Tage nicht ein einziges Neubaufahrzeug bestellt worden. Die Lieferfristen betragen wegen des bundesweiten Nachfragebooms inzwischen mindestens 2 Jahre. Stattdessen gaukelt Verkehrssenator Haase der Berliner Bevölkerung vor, daß schon 1993 Neubaufahrzeuge über Berlins Gleise rollen werden. Dabei liegen in Berlin noch nicht einmal konkrete Vorstellungen über die neuen Fahrzeuge vor. Die Verkehrsverwaltung streitet noch mit der BVG darüber, ob Ein- oder Zweirichtungswagen beschafft werden sollen. Unklar ist ferner, ob die Fahrzeuge 27 m oder 36 m lang sein sollen oder ob vielleicht beide Fahrzeuglängen beschafft werden.

Reko-Zug
Ein sogenannter Reko-Zug der BVG. Diese wenig attraktiven Altfahrzeuge erhalten keine weitere Hauptuntersuchung, sie werden verschrottet. Da aber noch immer keine neuen Straßenbahnfahrzeuge bestellt wurden, sind Streckenstillegungen durch Fahrzeugmangel absehbar. Foto: F. Brunner

Das einzige, was in Berlin beim Straßenbahn-Fahrzeugpark geschieht, sind Verschrottungen. Da an den ca. 350 Altbau-Fahrzeugen seit geraumer Zeit keine Hauptuntersuchungen mehr erfolgen und damit laufend Fahrzeuge ausgemustert werden müssen, gleichzeitig jedoch keine Neubestellungen ergehen, läuft das Nichtstun des Verkehrssenators unweigerlich auf Streckenstillegungen hinaus, da in absehbarer Zeit nicht mehr ausreichend Fahrzeuge zur Verfügung stehen werden.

3. Tram-Planungen

Noch immer kein einziges Planfeststellungsverfahren eingeleitet

Das bestehende Straßenbahnnetz stellt zwar ein wertvolles Potential für ein kurzfristig ganz wesentlich zu verbesserndes ÖPNV-Netz dar, ohne Netzerweiterungen - vor allem in der Innenstadt und zur Verknüpfung mit dem West-Berliner Verkehrsnetz - bleibt es jedoch ein Torso. Die IGEB hat zusammen mit anderen Verkehrs- und Umweltinitiativen im August 1991 mit dem Konzept "Tra(u)mstadt Berlin" die dringendsten Verlängerungsstrecken (30 km Neubaustrecken bis 1995 und weitere 50 km bis zum Jahr 2000) mit den Finanzierungsmöglichkeiten benannt. Auch die BVG hat in ihrem Strategiepapier vom September 1991 die Vorteile der modernen Tram dargelegt und mit kurzfristigen Netzerweiterungen von 43 km, vor allem in der Berliner Innenstadt, den dringendsten Erweiterungsbedarf für ein betrieblich sinnvolles Tramnetz benannt. Aber dank Verkehrssenator Haase ist davon bis zum heutigen Tage kein Meter in Angriff genommen worden.

Für Sommer 1991 hatte der Senator ein Tram-Konzept angekündigt, das er bis heute nicht zustande gebracht hat. Im November 1991 stellte er auf Druck der Öffentlichkeit die "Kurzfassung" (eine Langfassung gab und gibt es nicht) eines "Stadtbahnkonzeptes" vor und kündigte - neben zahlreichen Streckenstillegungen - immerhin die Einleitung von Planfeststellungsverfahren für die Strecken Bornholmer Straße - Osloer Straße - U-Bf. Seestraße, Eberswalder Straße - Invalidenstraße - Lehrter Stadtbahnhof und Prenzlauer Tor - Alexanderplatz - Spandauer Straße - Leipziger Straße - Potsdamer Platz - Kulturforum für das Frühjahr 1992 an. Inzwischen vertröstet er die Fahrgäste auf Ende '92. Ein Grund für die Verzögerung ist, daß das Bundesverkehrsministerium Senator Haases Konzept nicht als seriöse Planungsgrundlage für die Vergabe von GVFG-Geldern akzeptiert hat ...

Streckenstillegungen drohen

Wenn man in Berlin schon keine Planung auf die Reihe bekommt, arbeitet man wenigstens an den Stillegungsplänen weiter, ausgerechnet auf Strecken, die überwiegend oder teilweise auf eigenen Trassen verlaufen, z.B. die Linie 22 nach Rosenthal oder die Linie 84 nach Altglienicke. Doch die Frage nach Sinn oder Unsinn einer Strecke wird bald nicht mehr die ausschlaggebende sein, weil der Verkehrssenator, wie vorstehend gezeigt, die Sachzwänge für Stillegungen vorsätzlich herbeiführt.

Anhand dieser zahlreichen Beispiele wird deutlich, daß die Tram in Berlin schon sehr bald auf der Strecke zu bleiben droht, wenn nicht sofort Entscheidungen zugunsten dieses zukunftsträchtigen Verkehrsmittels getroffen werden. Der Fahrgastverband IGEB fordert den Berliner Senat auf, unverzüglich die Demontage-Politik von Senator Haase zu unterbinden und dafür zu sorgen, daß endlich mit den überfälligen Maßnahmen zur Attraktivierung des heutigen Betriebes, zur Modernisierung und Erneuerung des Fahrzeugparks und zur Erweiterung des Netzes begonnen wird.

IGEB

aus SIGNAL 4/1992 (Juni 1992), Seite 7-9

 

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