Zuerst rollte die Besucherlawine auf
der Bornholmer Straße. Dort hatten
sich noch am Abend des 9. November 1989 die Schlagbäume geöffnet,
wenige Stunden nach Günter Schabowskis berühmtem Fernsehauftritt
mit dem wohl berühmtesten Spickzettel der Welt. Am
10. November zwängten sich
Zehntausende - oder waren's Hunderttausende?
- auf dem Bahnhof Friedrichstraße in die S-Bahnen Richtung
Westen. Auf der S 3 rollten ab 11. November Wagen in Rot-Gelb
und „Schwarzwälderkirsch-buttermilchgrau" zu Vollzügen vereint.
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Ausdruck unkomplizierter Wagenhilfe: links eine S-Bahn der DR, rechts ein BVG-Zug. Foto: Mario Lange, Bahnhof Charlottenburg im November 1989 |
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Zur griffig als „Mauerfall" bezeichneten
Grenzöffnung und deren Folgen für die
S-Bahn äußerten sich Zeitzeugen am 25.
Juni im Rahmen der Themenabende im
Berliner S-Bahn-Museum. Einiges fließt,
ohne protokollarischen Anspruch, in diesen
vor allem der S-Bahn gewidmeten
Beitrag mit ein. Über die drei anderen
Abende wurde in SIGNAL 5/99 berichtet.
Ein Fazit vorwegnehmend: Genauso
pflichtbewußt, wie sie die Netztrennung
im August 1961 meisterten, behielten die
S-Bahner auch die Situation im Freudentaumel
des Novembers 1989 im Griff. Das
Netz wuchs bekanntlich erst allmählich
wieder zusammen, doch reagierten BVG
und Reichsbahn sofort auf die Grenzöffnung.
Neben zusätzlichen Buskursen
und Nachtverkehr auf drei U-Bahn-Linien
(U6, U8, U9) bot die BVG in der Nacht
zum 10. November auch auf der S-Bahn
durchgehend Fahrten an: zwischen Frohnau
und Lichtenrade (S2) sowie Friedrichstraße
und Charlottenburg (S3).
Kurzfristige Wagenhilfe
Von Beginn an zeigte sich die Reichsbahn
kooperationsbereit, war sie doch für den
Nord-Süd-Tunnel zuständig und stellte im
Abschnitt Friedrichstraße - Lehrter Stadtbahnhof
die Triebfahrzeugführer. Am
späten Abend des 10. November trafen
zwei Vollzüge der DR in West-Berlin ein,
um den Wagenpark der BVG zu verstärken.
Viele waren verblüfft, daß dies -
immerhin 28 Jahre nach Netztrennung
und nach fast sechs Jahren getrennter
Betriebsregie - so ohne weiteres klappte.
Rein technisch gesehen stellte die intern
zwischen BVG und DR vereinbarte und
vom DDR-Verkehrsministerium abgesegnete
„Transaktion" jedoch kein Problem
dar. Joachim Gewiess, ehemaliger Betriebskontrolleur
der DR, und Michael
Wesseli, 1989 Haupttechnologe im S-Bahn-Bereich
Betrieb und Bau, haben es
jetzt noch einmal bestätigt: Selbst nach
Übernahme des Westnetzes durch die
BVG hielt die DR die Möglichkeit aufrecht,
Züge zwischen Ost und West zu überführen.
Die dafür nötigen Weichen im
Bereich des Bahnhofs Friedrichstraße
wurden stets gewartet, bei Bedarf war
lediglich die Stromschiene an einem der
beiden Ferngleise einzuschalten. So ließ
auch die BVG ihre Züge Mitte der
achtziger Jahre noch zum Ausbesserungswerk
Schöneweide überführen, weiterhin
verkehrten sporadisch Materialzüge (Anmerkung
der Redaktion: zuletzt über
Gleis 2 am Fernbahnsteig A).
Im übrigen ist an den sommerlichen
Themenabenden klargestellt worden:
Zwischen BVG und DR gab es immer einen
„kurzen Draht". Leitende S-Bahner beider
Betriebe arbeiteten kollegial, ja bisweilen
geradezu freundschaftlich zusammen.
Nicht zuletzt deshalb konnten sie spontan
eine Wagenhilfe vereinbaren und organisieren.
Die in bräunlichem Rot und hellem
Beige lackierten „275er" liefen ab
11. November auf der S 3 Friedrichstraße -
Wannsee, wegen ihrer andersartigen
Funkausrüstung allerdings in der Mitte
eines jeweils aus zwei BVG- und zwei DR-Vierteln
gebildeten Vollzuges eingereiht.
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Ein 275er am 2. Juli 1990 von Potsdam Stadt (heute Potsdam Hauptbahnhof) nach Erkner im Lehrter Stadtbahnhof. Foto: Mario Lange |
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Insbesondere die S 3 mußte in den
ersten Tagen nach der Maueröffnung die
via Bahnhof Friedrichstraße hereinströmenden
Besuchermassen befördern.
Zum 5-Minuten-Takt verdichtet werden
konnte sie nur zwischen Lehrter Bahnhof
und Charlottenburg. Mehr war laut
Joachim Gewiess schon deshalb nicht
drin, weil die DR zunächst am Personalwechsel
im Lehrter Bahnhof festhielt und
es für einen 5-Minuten-Takt im von ihr
betriebenen Abschnitt nicht genügend
Triebfahrzeugführer gab.
Alle Reserven mobilisiert
Während bis zum 9. November auf allen
BVG-Linien Halbzüge im 10-Minuten-Takt
ausgereicht hatten, quollen die nun teils
alle fünf Minuten verkehrenden und teils
auf acht Wagen verstärkten Züge schier
über vor Menschen. Gerammelt voll waren
sie auch im Nord-Süd-Tunnel, wo die BVG
durch Verlängerung der S1 bis Gesundbrunnen
einen annäherenden 5-Minuten-Takt anbot.
Die Reichsbahn mobilisierte
ebenfalls alle Reserven, um dem Andrang
einigermaßen Herr zu werden. Auf den
östlichen Strecken verkehrten die meisten
Zuggruppen am Samstag, dem 11. und
Sonntag, dem 12. November wie sonst
nur in den werktäglichen Spitzenstunden.
Wie verkraftete das eigentlich die vom
Ost-Berliner Schaltwerk Markgrafendamm
zentral überwachte Bahnstromversorgung?
Dazu Wolfgang Plietz, bis 1989 als
Ingenieur im Bereich Bahnstromwerke
tätig: Man habe das schon deutlich
gemerkt, gleichwohl sei das Netz nicht
überlastet gewesen, bis aufs Äußerste
gefordert hingegen die Mitarbeiter.
Etliche Kollegen hätten in den Wochen
zuvor Ausreiseanträge gestellt, einige - so
Plietz - „mußten immer wieder neu zu
Sonderschichten überredet werden".
Doch selbst im personell schon kritischen
Oktober sei es noch gelungen, gemäß der
befehlsähnlichen Dienstanweisungen zum
40. Jahrestag der DDR die Dienststellen
rund um die Uhr zu besetzen. „Und kurz
nach dem 9. November waren alle wieder
auf ihrem Posten".
Die „Grenzer" spielen mit
Mit hoher Einsatzbereitschaft bewältigten
die Mitarbeiter von Reichsbahn und BVG
also einen über Nacht hereingebrochenen
Massenansturm - und die „Grenzer" spielten
mit! Ohne Verständigung mit dem
Grenzregime auf dem Bahnhof Friedrichstraße
wäre zum Beispiel die Überführung
von DR-Zügen undenkbar gewesen, vom
Dulden des kaum noch kontrollierbaren
Reisendenandrangs gar nicht zu reden.
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S- und U-Bahn-Lückenschlüsse ab 1989 |
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Was mit Ad-hoc-Zusammenarbeit begann,
endete mit der Fusion beider S-Bahn-Teilnetze
im vereinten Berlin. Doch
so fest, wie es vielen heute erscheint,
waren die Weichen Richtung Einheit im
Spätherbst 1989 keineswegs gestellt.
„Hinter den Kulissen gab es Versuche, das
Rad der Geschichte zurückzudrehen", sagt
Hagen Koch, ehemaliger Stasi-Offizier, am
letzten Themenabend im S-Bahn-Museum.
„Noch am 21. Dezember erging
ein Befehl, der präzisierte, wie unter den
Bedingungen der offenen Grenze mit
Grenzverletzern umzugehen ist." Koch
selbst wurde nach Beantragung eines
Visums am 10. November 1989 der versuchten
Republikflucht verdächtigt und
erstmal verhaftet. Damals war der Mann,
der einst für Erich Honecker die Grenze
kartographierte, bereits Offizier a.D. - Als
Beauftragter zum Schutz von DDR-Kulturgut
sollte er später in der ganzen
Welt Mauerstücke vermarkten.
Wirklich „grenzenlose" Reisefreiheit?
Gut, am 2. Dezember 1989 fand im
Speisesaal der Reichsbahndirektion Berlin
eine Klausurtagung über S-Bahn-Lückenschlüsse
statt. Teilnehmer Michael Wesseli
zufolge erörterten Vertreter von DR und
Senat schon damals die Netzverknüpfungen
Frohnau - Hohen Neuendorf, Neukölln
- Baumschulenweg, Wannsee -
Potsdam, Lichtenrade - Blankenfelde
sowie an der Bornholmer Straße. Offen
blieb allerdings die Frage, ob dort noch
eine Grenzabfertigung durchzuführen sei.
Pläne dafür gab es, sie erledigten sich erst
mit dem Beschluß zur deutsch-deutschen
Währungsunion.
Sicher, im allgemeinen kontrollierten die
„Organe" in den letzten Monaten der
DDR-Grenze nur lax. Doch sie konnten sich
auch anders gebärden, was mitunter zur
Farce geriet. Der Journalist Peter Neumann
- heute Berliner Zeitung, damals Volksblatt
Spandau - freute sich 1989, die DDR erkunden
zu können, für ihn zugegebenermaßen
eine Art Abenteuerspielplatz.
Faszinierend fand er auch die S-Bahn (die
die Spandauer nun erstaunlich vehement
wieder forderten), und so wollte er im
Dezember per S-Bahn nach Strausberg
Nord. Im Bahnhof Friedrichstraße allerdings
wurde er erstmal in ein stickiges
Kabuff zitiert. Banges Warten. Leibesvisitation?
Verhör? Nun ja, ein „Verhör" zu
einem völlig abseitigen Thema: Ob
Neumann denn schon mal in Spanien gewesen
sei, lautete die Frage. Der Grenzpolizist
wollte nämlich in Kürze dorthin
fliegen, und da konnte er den einen oder
anderen Tip ganz gut gebrauchen...
Freilich zeigte sich bei stichprobenartig
durchgeführten Kontrollen, daß viele die
neue Reisefreiheit mißbrauchten. Noch die
von Hans Modrow geführte DDR-Regierung
versuchte, dem Schieber- und Spekulantentum
Einhalt zu gebieten. Laut
Beschluß vom 23. November 1989 sollten
die Zollkontrollen wieder verschärft
werden, denn seit Öffnung der Grenze
seien schätzungsweise drei Milliarden
DDR-Mark abgeflossen. Es half wenig,
weiterhin wurden Milliarden illegal transferiert.
Wieder ein Netz
Als Ausweg blieb letztlich nur die
Währungsunion. Am 30. Juni 1990 um
24 Uhr endete das Grenzregime, ab 1. Juli
galt auch in der DDR die Deutsche Mark
der Deutschen Bundesbank. Damit war die
politische Voraussetzung geschaffen, alle
noch geschlossenen U-Bahnhöfe auf der
U6 und U8 sowie die S-Bahnhöfe im
Nord-Süd-Tunnel wieder zu öffnen (was
bei der U-Bahn sofort, bei der S-Bahn aus
baulichen Gründen erst nach und nach
geschah). Vor allem konnten die
S-Bahn-Zugläufe auf der Stadtbahn nun „durchgebunden"
werden.
Während einer zweitägigen Sperrpause
(30. Juni/1. Juli) verband die DR die Gleise
am Bahnsteig C des Bahnhofs Friedrichstraße
wieder mit den Streckengleisen in
bzw. aus Richtung Westen. Am 2. Juli um
3.49 Uhr erreichte der erste, zur Weiterfahrt
nach Westen vorgesehene Zug die
ehemalige Grenzstation: Gebildet aus vier
Vierteln der Baureihe 277, ganz schmucklos
beschildert mit „Charlottenburg" und
der Zuggruppen- und Umlaufbezeichnung
„B7". Routinemäßig erhielt „Berta 7" den
Abfahrauftrag. Doch dann sprühten erst
einmal die Funken, denn die Stromschiene
war noch nicht eingefahren - es handelte
sich tatsächlich um den ersten elektrischen
Zug, der nach fast 29 Jahren die
angestammte S-Bahnhalle Richtung West-Berlin
verließ, begleitet übrigens von dem
Triebfahrzeugführer, der am 12. August
1961 den letzten fahrplanmäßigen Zug
nach Westen gebracht hatte.
Mit dem Lückenschluß im Bahnhof Friedrichstraße
waren die S-Bahn-Netze
von BVG und DR verkehrlich miteinander
verknüpft. Konsequenterweise einigten
sich beide Betriebe bald auf einen
gemeinsamen neuen Fahrzeugtyp, ab
Herbst 1990 erstellten sie dafür das Pflichtenheft.
Unbehindert von politischen Grenzen
konnte die Berliner S-Bahn wieder
technisch und organisatorisch zu-sammengefügt
werden. Seit dem 1. Januar
1994 ist sie unter dem Dach der Deutschen
Bahn AG vereint.
Aber die Wiederherstellung des Netzes
zog und zieht sich in die Länge. So
prompt BVG und Reichsbahn auf den Fall
der Mauer reagierten - der nächste
S-Bahn-Lückenschluß folgte erst Anfang
April 1992 zwischen Wannsee und Potsdam.
Weitere Streckenabschnitte kamen
zwar hinzu, andererseits verstrichen die
Jahre 1994 und 1996 völlig ohne Neueröffnungen,
und auch 1999 gibt es keine
zu feiern. Der Vollring ist noch immer
nicht wieder geschlossen - zehn Jahre,
nachdem sich der Zug zur Einheit so
unverhofft wie rasant in Bewegung setzte. Berliner S-Bahn-Museum
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