Wie nennt man es, wenn jemand freiwillig
fünfeinhalb Stunden im Zug verbringt, um
dann etwas mehr als drei Stunden Zeit für
seinen eigentlichen Zielpunkt zu haben?
Verrückt? Idiotisch?
So einfach die Antwort auf den ersten
Blick auch zu sein scheint, jeder wird der
scheinbar sehr langen Fahrzeit eine andere
Bedeutung beimessen. Warum kann denn
nicht schon die Reise an sich das Ziel
darstellen, das mit dem Erreichen des gewünschten
Ortes nur noch gekrönt werden
kann? Wer neugierig seine Blicke aus
dem Zugfenster streifen läßt, begibt sich
unbewußt auf eine kleine Reise durch
Raum und Zeit.
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Auf der Ostbahn. Foto: Frank Lammers |
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Liebe Mitreisende, finden Sie sich jetzt
also gedanklich auf dem Bahnhof Lichtenberg
ein, denn schließlich wird unser Zug
gegen halb Acht seine Motoren aufheulen
lassen und dann mit uns in Richtung
Osten entschwinden. Hinter Strausberg
nach zwanzigminütiger Fahrzeit verlassen
wir den Moloch Berlin endgültig. Die Gleise
unserer geliebten S-Bahn begleiten uns
noch ein kurzes Stück, um dann in einem
Einschnitt „Ade" zu sagen. Doppel-Telegrafenmasten
aus Opas Zeit werden nun
beim Heraussehen sichtbar.
Müncheberg, Gusow, die Seelower Höhen und Kostrzyn
Die alten Empfangsgebäude in Müncheberg
und Gusow grüßen uns, während wir
sie ohne Halt hinter uns lassen. Wer genau
hinsieht, kann noch den Rest der Kilometerangabe
bis Küstrin erkennen, wobei
diese Zahl nicht den heutigen deutschen
Teil Kietz meint, sondern sich auf den
Neustädter Bahnhof bezog, der uns jetzt
unter dem Namen Kostrzyn besser bekannt
ist.
Die vorbeieilende, sehr friedlich dreinblickende
Landschaft zwischen Seelower
Höhen und der Oder erlangte 1945
traurige Bekanntheit. Das Oderbruch,
einst der „Gemüsegarten" Berlins, wurde
zu einem der größten Schlachtfelder des
Zweiten Weltkrieges. Auch die nächste
Station unseres Zuges, nämlich die Stadt
Kostrzyn, wurde durch das Militär geprägt.
Unter dem Markgrafen Johann von
Brandenburg entstand am Zusammenfluß
von Oder und Warthe zwischen 1535 und
1568 eine große Festungsanlage, die
unter dem großen Kurfürsten weiter ausgebaut
wurde. Teile der alten Verteidigungsanlagen
wurden in der Weimarer
Republik an die Stadt verkauft und
geschleift. Während der NS-Zeit entstanden
weitere Kasernenbauten. Doch nach
dem Ende der NS-Terrorherrschaft folgte
auch das Ende der alten Stadt Küstrin. Die
bis dahin noch völlig unzerstörte Stadt
wurde Ende Januar 1945 zur Festung
erklärt und aufgrund der Kampfhandlungen
zwischen Wehrmacht und Roter
Armee bis zum März dem Boden gleichgemacht.
Nach dem Krieg kam das Gebiet
des Stadtzentrums mit der Alt- und Neustadt
zu Polen, während die Vorstädte
westlich der Oder in Deutschland verblieben.
Die frühere Altstadt wurde zum
„Steinbruch" degradiert und geriet
anschließend in Vergessenheit. Mittlerweile
wurden alle Straßen und viele Gebäudereste
freigelegt. Das Gelände zwischen
Berliner und Kietzer Tor wurde so zum
„Freilichtmahnmal" gegen den Krieg.
Gorzow
Unsere Reise geht weiter: Nach vierzig
Minuten Fahrzeit erreichen wir Gorzow,
das frühere Landsberg/Warthe. Der dortige
Straßenbahnbetrieb feierte im Juli
seinen hundertsten Geburtstag. Ursprünglich
war hier die komplette Umstellung
auf den O-Bus vorgesehen, konnte aber
wegen Mangelwirtschaft Anfang der
vierziger Jahre nicht mehr vollständig
realisiert werden. Der O-Bus-Betrieb
wurde nach Kriegsende wieder aufgenommen,
aber später zugunsten des Straßenbahn-Ausbaus eingestellt.
Kurz nachdem unser Zug den Bahnhof
wieder verlassen hat, können wir auf der
linken Seite noch einen Blick auf das
Stadtzentrum mit dem Dom zur Allerheiligsten
Jungfrau Maria werfen. Bis zur
Ortschaft Santok verläuft die Bahnstrecke
parallel zur Warta (Warthe).
Krzyz
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Kostrzyn: Bastion König mit dem 1945 errichteten sowjetischen Ehrenmal des Künstlers Lew Kerbel. Foto: Frank Lammers |
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Nach einiger Fahrzeit erreichen wir den
Bahnknoten Krzyz. Hier trifft sich die alte
Ostbahn mit der Hauptstrecke Poznan-Szczecin,
die das Oberschlesische
Industriegebiet mit der Ostsee verbindet.
Mit etwas Glück sieht man hier noch den
Schornstein einer Dampflok rauchen.
Während des etwa zehnminütigen
Aufenthalts für den Lokwechsel besteht
Gelegenheit, sich das alte Empfangsgebäude
anzusehen, das seine preußische
Vergangenheit nicht leugnen kann. Auf
dem Bahnsteig befindet sich sogar noch
ein Gullydeckel aus der Zeit von Wilhelm
Zwo!
... Bydgoszcz
Inzwischen hat sich der Zug mit Fahrgästen
deutlich gefüllt und setzt seine
Fahrt fort. Links biegt die erst seit 1873
komplett befahrbare Strecke nach Tczew
(ehemals Dirschau) ab. Dieser Streckenabschnitt
ist heute noch zu
großen Teilen eingleisig.
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Häuser am Alten Markt von Bydgoszcz. Foto: Frank Lammers |
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Am Ufer der Brda in Bydogszcz im alten Hafen stehen diese historischen Speichergebäude. Foto: Frank Lammers |
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Hinter der Stadt Wyrzysk erreichen
wir nun die Woiwodschaft Bydgoskie.
Von hier sind es noch vierzig
Kilometer bis zu unserem Ziel. In
Naklo wird noch ein Zwischenstop
eingelegt. Eisenbahnfreunden ist
vielleicht das frühere Schmalspurbahn-Netz
mit seiner 600 mm
Spurweite ein Begriff, das sich hier
verzweigte und noch teilweise bis
1992 betrieben wurde.
Nach über dreihundert Kilometern
und fünfeinhalb Stunden Reisezeit
wird der Hauptbahnhof von Bydgoszcz
erreicht. Ein kleiner Blick in
die Geschichte: Die Stadt wurde im
Jahr 1346 unter der Herrschaft von
König Kasimir dem Großen gegründet.
Aufgrund der Lage an
wichtigen Handelsstraßen wuchs
ihre Bedeutung. Den Niedergang
erlebte die Stadt durch starke
Zerstörungen während des Krieges gegen
die Schweden (1655 bis 1660) und die
dadurch begünstigte Ausbreitung der
Pest. 1772 erfolgte die Eroberung durch
preußische Truppen. Ein erneuter wirtschaftlicher
Aufschwung erfolgte durch
den bis 1774 vollendeten Bromberger
Kanal (heutiger Kanal Bydgoski), der es
ermöglichte, Waren und Rohstoffe von
der Weichsel bis zur Oder und auch darüber
hinaus zu transportieren. Noch
heute hat diese Wasserstraße für den
nationalen und internationalen Verkehr
eine große Bedeutung. Wiederum hundert
Jahre später war die Stadt zu einem bedeutenden
Eisenbahnknoten geworden.
Zu großen Veränderungen kam es nach
dem Ersten Weltkrieg, als viele Grenzen in
Europa neu gezogen wurden. Bydgoszcz,
wie es fortan hieß, gehört seit 1920 zur
Republik Polen und wurde als Folge des
Hitler-Stalin-Paktes zwischen 1939 und
1945 von deutschen Truppen besetzt.
Nach dem Krieg wurde Bydgoszcz
Hauptstadt einer gleichnamigen Woiwod schaft.
Mit dem Fall des „Eisernen Vorhangs"
wurde die Stadt zu einem
wichtigen Wirtschafts- und Handelsstandort.
Zahlreiche Bankhäuser und Messen
künden von dieser neuen Zeit. Zu den
wichtigsten Arbeitgebern gehört das
Eisenbahn-Ausbesserungswerk, die Kabelwerke
und die Chemische Industrie.
Nach diesem Einblick verlassen wir das
Empfangsgebäude.
Gleich gegenüber des Bahnhofs befindet
sich die Stadtinformation („iT"), in der
man sich nach Hotels und den örtlichen
Sehenswürdigkeiten erkundigen kann. Des
weiteren gibt es hier eine große Auswahl
von diversen Broschüren, Büchern und
Postkarten. Wer noch etwas Probleme mit
der polnischen Sprache haben sollte, kann
sich bei Bedarf hier auch in Englisch verständigen.
Wir folgen nun der ulica Dworcowa
(Bahnhofstraße) in das Stadtzentrum. Die
Straßenbahn fährt den Hauptbahnhof
leider nicht mehr an. Nach ein paar Minuten
Fußweg sehen wir auf der rechten
Seite ein imposantes rotes Backsteingebäude.
Hier war einst der Sitz der Eisenbahndirektion.
Noch heute ist hier die PKP
vertreten.
Nach ungefähr zehn Minuten Fußweg
ist mit der ulica Gdanska die Haupteinkaufsstraße
im Stadtzentrum erreicht. Wir
halten uns links und erreichen den plac
Wolnosci mit seinem im Jugendstil errichteten Gebäuden.
Interessant ist ein Spaziergang
entlang der ulica Gdanska in
Richtung Altstadt.
Besondere Beachtung verdient das Haus
mit der Nummer 14, das Hotel „Pod
Odern" (Zum Adler), das inzwischen auf
die am Ende des letzten Jahrhunderts entstanden
sind. Hier befindet sich auch die
im gotisch-renaissancistischen Stil errichtete
Klarissenkirche (entstanden 1592 bis
1602).
Jetzt ist es nur noch ein Katzensprung
zur Keimzelle der Stadt, dem Stary Rynek
(Alter Markt) mit den angrenzenden,
überwiegend aus Altbauten bestehenden
Seitenstraßen. Hier erinnert ein Denkmal
an die Ereignisse im September 1939, dem
berüchtigten „Bromberger Blutsonntag".
Während des Rückzuges der polnischen
Armee kam es unter bis heute noch nicht
ganz geklärten Umständen zu Übergriffen
auf die deutschstämmige Bevölkerung,
denen etliche Menschen zum Opfer fielen.
Nach dem Einmarsch der faschistischen
Wehrmacht wurde dies zum Anlaß genommen,
nun unter den polnischen
Bewohnern der Stadt ein Blutbad
anzurichten, die nach der grausamen NS-Idologie
Untermenschen waren.
Gerade der deutsche Überfall auf unser
östliches Nachbarland vor sechzig Jahren
sollte für uns ein Anlaß sein, hinter
solchen „schönen Worten" wie „Blitzkrieg"
oder „chirurgischer Eingriff" stets
das Leid der beteiligten Bevölkerung zu
sehen.
Sind Sie neugierg auf das Land östlich
der Oder geworden? Weitere Informationen
erhalten Sie beispielsweise beim
Polnischen Fremdenverkehrsamt am
Wittenbergplatz (Tel. 030/2 10 09 20). Frank Lammers,
Magdeburg
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