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Top oder Flop? Der neue BVG-Unternehmensvertrag

Am 1. Januar 2000 ist der kurz vor den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus unterzeichnete Unternehmensvertrag zwischen dem Land Berlin und der BVG in Kraft getreten.

Mit dem Vertrag ist die BVG vom Senat bis zum Jahr 2007 mit der Erbringung von Verkehrsleistungen etwa in der Größenordnung des bisher erbrachten Leistungsumfangs beauftragt worden. Die BVG erhält dafür Umstrukturierungsbeihilfen in einem Gesamtvolumen von rund 6,2 Mrd. DM für die Umsetzung des „Sanierungs- und Umsetzungskonzeptes BSU 2000". Die Erstattungen für Fahrwegaufwendungen, Ruhegeldaufwendungen, Zusatzaufwendungen für die Versorgungsanstalt (VBL) und Umstrukturierungsbeihilfen von anfangs 820 Mio. DM jährlich sinken kontinuierlich auf 620 Mio. DM. Ziel ist die Erreichung der Wettbewerbsfähigkeit und der Rentabilität der BVG bis zum Jahr 2007. Sichtbares Zeichen dafür ist zum Beispiel auch die Gründung der „Berlin Transport GmbH" als Fahrdiensttochter der BVG zu den im privaten Verkehrsgewerbe üblichen, zum Teil drastisch schlechteren Konditionen. Der Abschluß dieses Unternehmensvertrages (immerhin für die Dauer von acht Jahren) war und ist nicht unumstritten, schließt er für den städtischen Berliner Nahverkehr doch die nach EU-Recht im Grundsatz vorgeschriebene Ausschreibung von nicht kostendeckenden ÖPNV-Leistungen für die nächsten Jahre aus. Und so kündigten andere Verkehrsunternehmen sogleich auch gerichtliche Schritte gegen diese „Direktbeauftragung" an. Besonders betroffen über den Vertragsabschluss zeigte sich die DB AG, die sich aufgrund mehrerer Gespräche mit dem Berliner Senat lange Zeit Hoffnung auf eine Teilhabe am Auftragskuchen über die Bildung einer gemeinsamen Holding mit der BVG machte. Keine Überraschung also, daß die DB AG, die im Regional- und S-Bahn-Verkehr „Direktvergaben" vom Land Berlin (in Absprache mit dem Land Brandenburg) zu schätzen weiß, die zum Konzern gehörende Bustochter BEX („Bayern-Express") gegen das Land Berlin klagen läßt, weil diese einige selbst ausgewählte Buslinien (109, 204, 210, 219) betreiben und dafür beauftragt werden möchte.

Bushaltestelle
Unter anderem die Busline 219, hier ein Bus der Linie an der Haltestelle S- und U-Bahnhof Yorkstraße, weckt inzwischen Begehrlichkeiten der privaten BVG-Konkurenz. Foto: Alexander Frenzel, Januar 2000

Aus Fahrgastsicht gab es keine Alternativen zum BVG-Unternehmensvertrag

Die Frage, ob Leistungen im ÖPNV von öffentlichen (de facto) Monopolunternehmen oder von zueinander in Konkurrenz stehenden Privatunternehmen „besser" und/oder kostengünstiger erbracht werden, mündet letztlich in gesellschaftspolitischen Grundsatzfragen, die sicherlich über rein betriebswirtschaftliche Betrachtungsweisen hinaus gehen sollten.

Aus Sicht der Berliner Fahrgäste kann die Entscheidung des Berliner Senates, die BVG erneut direkt für die gesamten Berliner U-Bahn-, Straßenbahn- und Busverkehrsleistungen zu beauftragen, zum gegenwärtigen Zeitpunkt mangels Alternativen nur begrüßt werden. Und daß es keine Alternativen gab, dafür ist letztendlich der Berliner Senat, der zumindest in den letzten beiden Wahlperioden nun wahrlich nicht in Verdacht geraten konnte, mit seiner Politik die BVG zu protegieren, ganz wesentlich mit verantwortlich.

Selbstverständlich hätte man auch Berlin mindestens einen Teil der Verkehrsleistungen öffentlich ausschreiben können (und zumindest dem Geiste des EU-Recht nach vielleicht sogar müssen). Man hätte damit einerseits auf der Kostenseite (rein haushaltsmäßig betrachtet) wahrscheinlich etwas sparen können und brauchte sich andererseits keine Sorgen darüber machen, ob nicht entweder die EU - die den geschlossenen Unternehmensvertrag eigentlich notifizieren sollte - oder ein Gericht den gesamten Unternehmensvertrag aufhebt. Aber Voraussetzung für eine Ausschreibung von Teilnetzen wäre unter anderem natürlich die rechtzeitige Schaffung einer „Dachorganisation" in Form einer handlungsfähigen Management- und Infrastrukturgesellschaft gewesen. Ein solcher „Overhead" wäre im Interesse eines für den Fahrgast attraktiven und stimmigen Gesamt-ÖPNV-Angebotes zwingend erforderlich, wenn - möglicherweise sogar eine größere Zahl - private(r) Verkehrsunternehmen als Konzessionsträger im Ergebnis von Ausschreibungen „gemeinwirtschaftliche" Verkehre in Berlin durchführen würden.

Aber weder die Senatsverkehrs-Verwaltung noch der von ihr ins Leben gerufene Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg, der eigentlich diese Ausschreibungen im Auftrag des Landes durchführen soll, haben in den vergangenen Jahren auch nur ansatzweise entsprechende Vorbereitungen getroffen.

Der Unternehmensvertrag ist kein Ruhekissen für die BVG

Aber trotz des zumindest kurz- und mittelfristig betrachtet positiven Ausgangs des endlosen Gezerres um die BVG-Zukunft (siehe Signal 3/98 , 6/98 und 8-9/98 ) ist der geschlossene Unternehmensvertrag alles andere als ein Ruhekissen für die BVG. Grundlage des Unternehmensvertrages ist das BVG-Sanierungs- und Umsetzungskonzept BSU 2000. Die Wettbewerbsfähigkeit wird die BVG im Jahr 2008 nämlich nur dann erreichen, wenn sämtliche Maßnahmen und Annahmen wie im Konzept angenommen, auch tatsächlich eintreffen („best case").

U-Bahn
Ob die U8 auch zu den Linien gehören wird, die für die private Konkurrenz interessant sind, ist sehr fraglich. Foto: Marc Heller

Neben umfangreichen Umstrukturierungen, der oben schon erwähnten Gründung und Übernahme von 30% der Verkehrsleistungen durch die Fahrdiensttochter „Berlin Transport GmbH" und weiterem deutlichen Personalabbau bei der BVG (bis zum Jahr 2004 um weitere 2500 auf 12.000 Mitarbeiter) basiert das von der BVG selbst erarbeitete Konzept auf einem Kardinalfehler: Die Fahrpreise sollen weiter steigen (nunmehr zwar nur noch zwei bis drei Prozent jährlich, aber damit immer noch deutlich über der aktuellen Inflationsrate) und gleichzeitig wird (dennoch) von wieder steigenden Fahrgastzahlen ausgegangen.

Aber dieses unrealistische Wunschdenken von steigenden Tarifen und gleichzeitig steigenden Fahrgastzahlen ist nicht das einzige finanzielle Risiko. So muß die BVG trotz der Erstattungszahlungen auch zukünftig in erheblichen Umfang Mittel am Kapitalmarkt aufnehmen und so wird sich die Verschuldung des Unternehmens weiter erhöhen. Und auch das vom Ex-Senator Kiemann ins BVG-Nest gelegte Kuckucksei der Einnahmenauftragsregelung mit der DB AG, das der BVG bisher nicht kalkulierte Ertragsverluste von 100 - 120 Mio. DM bescheren wird, ist so natürlich nicht im BSU 2000-Konzept berücksichtigt worden.

Statt höherem ÖPNV-Anteil - stagnierendes Verkehrsangebot

Nach den Äußerungen maßgebender (offenbar nicht ÖPNV-nutzender) Politiker hätte alles schlimmer kommen können. Beispielhaft sei nur an den jetzigen Schulsenator Böger erinnert, der den Busverkehr auf der Steglitzer Schloßstraße einstellen wollte, da er nach seiner Ansicht einen Parallelverkehr zur U9 darstellen würde. Aber der unmittelbar bevorstehende Wahltermin bewahrte die Berliner Fahrgäste vor einem radikalem Streichprogramm: Die entsprechend Unternehmensvertrag von der BVG zu erbringenden Verkehrsleistungen (gerechnet in Nutzzug- bzw. Nutzwagen-Kilometern) entsprechen im Umfang den auch bisher zu erbringenden Leistungen. Bei der Straßenbahn sollen die Verkehrsleistungen entsprechend dem Fortschreiten des Netzausbaus sogar etwas steigen, was sich angesichts des Verkehrsanteils der Straßenbahn auf das Gesamtangebot aber nur marginal auswirkt.

Keine Verkehrswende möglich

An eine Attraktivitätssteigerung des ÖPNV durch Taktverdichtungen ist dabei aber nicht zu denken - trotzdem (angeblich) nach wie vor gültigem Ziel, ein Modal Split von 80:20 für den ÖPNV im Innenstadtbereich zu erreichen: Weiterhin werden also auf der Grundlage des Unternehmensvertrages selbst City-Linien, wie zum Beispiel die Straßenbahnlinie 6 oder die Buslinien 142, 257 und 348, nur im 20 (!) Minuten-Takt verkehren können. Und erforderliche Taktverdichtungen im U-Bahnverkehr, etwa um dem durch Nutzungsintensivierung insbesondere im östlichen City-Bereich steigenden Berufsverkehrs-Aufkommen zum Beispiel auf den U-Bahn-Linien 6 und 8 (Hauptverkehrszeit: 5-Minuten-Takt) Rechnung zu tragen, sind mit diesem Vertrag defacto auch ausgeschlossen.

Neue Verkehrsangebote, die selbst im Citybereich dringend erforderlich sind (Beispiel: fehlende Verbindung zwischen Moabit und Regierungsviertel), können nur durch Leistungsrücknahmen an anderer Stelle realisiert werden. Eine gutes Beispiel dafür bietet die Einführung der Expreßbuslinie X54, die letztlich nur auf Kosten einer Taktausdehnung auf 20 Minuten auf der Buslinie 155 realisiert wurde (Signal 7/99 ).

Die Entwicklung der Stadt steht aber nicht still. Ständig werden neue Gebiete bebaut und müssen durch die BVG erschlossen werden (Karow-Nord, Buchholz-West, Kladow etc.). Die BVG muß bei der Neuerschließung dieser Gebiete die erforderlichen Verkehrsleistungen aber an anderer Stelle streichen. Hier aber beißt sich die Katze in den Schwanz: Eine Umverteilung des Vorhandenen zu Gunsten des Neuen läßt sich nur durch die Verschlechterung des bestehenden Netzes realisieren. Insgesamt gesehen kommt es also zu einer Verschlechterung der Angebotes für den einzelnen Nutzer, da mit gleichbleibenden Nutzwagenkilometern ein immer größeres Netz betrieben werden muß.

Für die Attraktivität des ÖPNV ist diese schleichende Entwicklung fatal. Anstelle einer Verbesserung des Angebotes geschieht das Gegenteil, mit zwangsläufig sinkenden Fahrgastzahlen.

Fazit

Ob die BVG trotz der erheblichen Finanzrisiken, die das BSU-2000-Konzept, auf dem die Ziele des Unternehmensvertrages (Wettbewerbsfähigkeit und Rentabilität der BVG bis z um Jahr 2008) fußt, erreicht werden, ist ganz wesentlich von zwei Faktoren abhängig, über die weder im Unternehmensvertrag noch im BSU-2000-Konzept Aussagen enthalten sind: Dies betrifft zum einen die verkehrspolitischen Rahmenbedingungen (nur wenn sie sich insgesamt positiv für den ÖPNV ändern, hat die BVG eine Chance, wirtschaftlich zu überleben) und zum anderen die BVG selbst (nur wenn ihre Leistungen besser werden, hat sie eine Chance, sich auch nach Auslaufen des Unternehmensvertrages am Markt zu behaupten), denn auch bei Ausschreibungen erhält nicht der billigste, sondern der preiswerteste Anbieter den Zuschlag.

Schließlich gilt es noch die rechtlichen Risiken, daß nicht berücksichtigte Anbieter den Vertrag per Gerichtsbeschluß zu Fall bringen, auszuschließen. Hierfür enthält der Unternehmensvertrag den weisen Passus: „Im Falle einer Ausweitung des Verkehrsbedarfes , die über das ... vereinbarte Ausmaß hinausgeht, behält sich das Land vor, Verkehre gemäß den einschlägigen Rechtsvorschriften auszuschreiben." Vorschläge dazu siehe oben.

IGEB, Abteilung Stadtverkehr

aus SIGNAL 1/2000 (Februar/März 2000), Seite 4-5

 

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