Berlin

Qualitätsanforderungen aus Sicht des Berliner Fahrgastverbandes

Zur Fortschreibung des Berliner Nahverkehrsplanes (NVP) führt die Senatsverwaltung für Bauen, Wohnen und Verkehr eine Workshop-Reihe zu unterschiedlichen Aspekten des Berliner Nahverkehrs durch. Zum 2. Workshop am 16. November 1999 hatte Matthias Horth, stellvertretender Vorsitzender der IGEB e.V., Gelegenheit zu den Qualitätsanforderungen im öffentlichen Nahverkehr aus Sicht des Berliner Fahrgastverbandes einen Vortrag zu halten, den wir im folgenden abdrucken.

Notrufsäule
Zur Zeit außer Betrieb. Infosäule auf dem S-Bahnhof Jannowitzbrücke. Foto: Marc Helle, September 1999

1. Angebotsstandards
1.1 (Flächen-) Erschließungsstandards

Für das Berliner Stadtgebiet sind ÖPNV-Mindest-Erschließungsstandards zu definieren. Die maximale Fußwegentfernung zum nächsten Haltepunkt eines öffentlichen Verkehrsmittels ist differenziert nach Verkehrsmittel und Nutzungsdichte im Stadtraum entsprechend der folgen den Werte festzulegen (Tabelle 1).

1.2 (Mindest-)
Bedienungsstandards

Ebenso sind im NVP Mindest-Bedienungsstandards festzulegen. Auch hier sind differenzierte Standards sinnvoll. Insbesondere das Busliniennetz sollte dazu in (für den Fahrgast nachvollziehbaren) Qualitätsstufen hierachisiert werden (zum Beispiel Expreßlinien, Hauptnetzlinien, Ergänzungsnetz-Linien) Des weiteren sollten die Mindest-Bedienungsstandards in Abhängigkeit von der Nutzungsdichte im Stadtgebiet definiert werden (Tabelle 2).

2. Platzangebot

Bushaltestelle
Überfüllte Busse und Bahnen sind unattraktiv. Foto: Marc Heller, Dezember 1999

Das Platzangebot soll so bemessen sein, daß der mittlere Besetzungsgrad in der Spitzenstunde in Lastrichtung 65 Prozent nicht überschreitet. In der Normalverkehrszeit soll der Besetzungsgrad als Mittelwert über die Stunde 50 Prozent nicht überschreiten. Für Fahrten über zehn Minuten Beförderungszeit soll jedem Fahrgast ein Sitzplatz zur Verfügung stehen. Die eingesetzten Fahrzeugen sollen einen Sitzplatzanteil von mindestens einem Drittel aufweisen.

3. Anschlußsicherung

An wichtigen Umsteigepunkten im Netz sind für die jeweiligen Hauptumsteigebeziehungen Anschlüsse fahrplanmäßig herzustellen (Ausnahme: bei Fahrplantakten unter 10 Minuten). Die Sicherung der Anschlüsse - auch zwischen unterschiedlichen Verkehrsmitteln oder Verkehrsunternehmen - ist zum Beispiel durch Funk bzw. rechnergesteuertes Betriebsleitsystem zu gewährleisten. Insbesondere in den verkehrsschwachen Zeiten muß die Anschlußsicherung Vorrang vor der Fahrplaneinhaltung haben.

4. Anforderungen an Anlagen und Fahrzeuge

Die Anlagen und Fahrzeuge sind fahrgastfreundlich zu gestalten. Mobilitätsbehinderte Personen oder Fahrgäste mit Kinderwagen sollen durch eine entsprechende Gestaltung der Fahrzeuge und der baulichen Anlagen die öffentlichen Verkehrsmittel ohne fremde Hilfe nutzen können.

  • In der Regel ist ein ebenerdiger Haltestellen-/Bahnhofszugang anzustreben. Ist dies nicht möglich, so sind entsprechende Rampen oder Aufzüge zu installieren. Die Funktionsfähigkeit der technischen Anlagen ist regelmäßig zu überprüfen, Reparaturen sind binnen 24 Stunden durchzuführen.
  • Die eingesetzten Fahrzeuge sollen die problemlose Beförderung von mindestens zwei Rollstuhlfahrern, zwei Kinderwagen oder zwei Fahrrädern ermöglichen (Ausnahme bei Einsatz von Taxen/Kleinbussen während der Schwachverkehrszeiten).
  • Die eingesetzten Fahrzeuge sollen deutlich als Linienfahrzeuge mit Liniennummer, Fahrziel und ggf. Laufweg erkennbar sein. In den Fahrzeugen sind Haltestellenansagen durchzuführen und mindestens ein Linienband mit Umsteigehinweisen zu installieren.
  • Die eingesetzten Fahrzeuge sollen durch entsprechende Beschilderung und in der Außengestaltung eindeutig als öffentliche Verkehrsmittel erkennbar sein. Im Fahrplan ist ggf. gesondert auf den Einsatz von Kleinfahrzeugen hinzuweisen.
  • In den baulichen Anlagen und den eingesetzten Fahrzeugen ist der Einsatz akustischer Werbung auszuschließen.
  • Die eingesetzten Fahrzeuge sollen hinsichtlich ihres Energieverbrauchs, ihrer Schadstoff- und Lärmemissionen mindestens dem Stand der Technik entsprechen.

5. Informations- und Serviceleistungen

5.1 Anforderungen an das beauftragte Verkehrsunternehmen

Mit Ausnahme übergeordneter Leistungen, die sinnvollerweise vom VBB erbracht werden sollten, haben die beauftragten Verkehrsunternehmen neben der Erbringung von Verkehrsleistungen in angemessener Form sonstige Informations und Serviceleistungen für die Fahrgäste anzubieten. Dazu gehört zum Beispiel die Einrichtung eines Call-Centers, eines Beschwerdemanagements und eines Fundbüros. Die Verkehrsunternehmen sind zu verpflichten, ein internes Qualitätsmanagement einzuführen und jährlich einen Bericht über die Kundenzufriedenheit zu erstellen.

Haltestellenmast
Alle wichtigen Informationen sind hier zu finden: Welche Züge fahren wann in welche Richtung? Foto: Marc Heller, Mai 1999

5.2 Anforderungen an das Personal

Das von den Verkehrsunternehmen eingesetzte Personal muß hinsichtlich des Gesamtverkehrs- und Tarifangebotes des VBB ausgebildet sein. Hinsichtlich des Timganges mit Fahrgästen sind durch regelmäßige Schulungen die Voraussetzungen für ein kundenorientiertes Verhalten des Personals zu schaffen. Das beauftragte Verkehrsunternehmen hat die Durchführung entsprechender Schulungen nachzuweisen.

6. Fahrgastsicherheit

Den Sicherheitsbedürfnissen der Fahrgäste, insbesondere von Frauen, ist bei der Gestaltung der baulichen Anlagen und der Fahrzeuge besonders Rechnung zu tragen. Die S- und U-Bahnhöfe sind grundsätzlich mit Personal zu besetzen sowie zusätzlich mit entsprechenden technischen Einrichtungen auszustatten (SOS-Melder, ggf. Kameraüberwachung auch von Zugängen). Zusätzliches Sicherheitspersonal ist entsprechend d em vom Senat beschlossenen Sicherheitskonzept für den ÖPNV einzusetzen. Das Sicherheitspersonal ist hinsichtlich des Umganges mit Fahrgästen auszubilden und soll auch für Verkehrs- und Tarifauskünfte zur Verfügung stehen (IHK-Zertifizierung).

7. Pünktlichkeit

Bus
Insbesondere beim Schienenersatzverkehr und anderen Unregelmäßigkeiten sind Fahrgäste auf zusätzliche Informationsmöglichkeiten angewiesen! Foto: Marc Heller, April 1999

Es ist zu gewährleisten, daß die fahrplanmäßig vorgesehenen Leistungen zuverlässig und pünktlich erbracht werden. Für S- und U-Bahn ist ein Pünktlichkeitsgrad von größer als 97% sicherzustellen. Bei Betriebsunterbrechungen im S-, U- oder Straßenbahn-Netz muß nach höchstens dreißig Minuten ein Schienenersatzverkehr mit Bussen eingerichtet sein. Bei Ausfällen von Bussen muß innerhalb von höchstens dreißig Minuten ein Ersatzfahrzeug fahrplanmäßig eingesetzt werden.

Nicht erbrachte Verkehrsleistungen oder vom Verkehrsunternehmen zu verantwortende Verspätungen bzw. Verfrühungen müssen zu finanziellen Sanktionen für das Verkehrsunternehmen führen.

8. Sauberkeit

Die S- und U-Bahnhöfe sind täglich zu reinigen. Grobe Verunreinigungen sind durch das Aufsichtspersonal sofort zu entfernen. Die Fahrzeuge sind mehrmals täglich zu säubern, sie sind täglich zu fegen und zu wischen, eine Grundreinigung muß mindestens monatlich erfolgen. Eine Außenwäsche der Fahrzeuge muß mindestens wöchentlich durchgeführt werden.

9. Fahrkartenverkauf

Grundsätzlich muß auf allen S- und U-Bahnhöfen bzw. in allen Fahrzeugen der Erwerb von Einzelfahrscheinen und Tageskarten für das Berliner Verkehrsgebiet (ABC) möglich sein. Nach Vereinfachung des VBB-Bartarifes müssen Einzelfahrkarten und Tageskarten für das gesamte Verbundgebiet auf allen S- und U-Bahnhöfen und in allen Fahrzeugen verkauft werden. Darüber hinaus ist der Erwerb von Zeitkarten an allen wichtigen Umsteigepunkten und über ein privates Verkaufsstellennetz zu gewährleisten.

10. Fahrradbeförderung

Die Mitnahme von Fahrrädern soll bei S- und U-Bahn grundsätzlich ganztägig, bei der Straßenbahn außerhalb der Hauptverkehrszeit ermöglicht werden. Pro Wagen sollen mindestens für zwei Fahrräder sichere Abstellmöglichkeiten zur Verfügung stehen.

Tablle 1
Tabelle 2

11. Mindestanforderungen für Haltestellen bzw. Bahnhöfe

11.1 Mindestausstattung von Straßenbahn- und Bushaltestellen

Die Verkehrsunternehmen bzw. Infrastrukturunternehmen haben folgende Mindestausstattung an Straßenbahn- und Bushaltestellen vorzuhalten:

  • Haltestellenschild mit Stationsnamen und Liniennummern,
  • leicht lesbarer Fahrplan mit deutlicher Hervorhebung der Verkehrstage,
  • Liniennetzplan mindestens für den Verkehrsbereich der betreffenden Linie(n),
  • Tarifinformationen,
  • einsehbarer, beleuchteter Witterungsschutz mit Sitzmöglichkeiten (sofern die örtlichen Gegebenheiten dies zulassen).

11.2 Mindestausstattung von S- und U-Bahnhöfen

Zusätzlich zu der unter 11.1 genannten Ausstattung ist an den S- und U-Bahnhöfen folgende Mindestausstattung vorzusehen:

  • Stationsnamensschilder,
  • Hinweisschilder zu den verschiedenen Ausgänge und ggf. zu den dort verkehrenden Linien (auch anderer Verkehrsunternehmen!),
  • Zielanzeiger außer Betrieb
    ... hier wird eine Leistung nicht im vereinbartem Umfang erbracht. Foto: Irmgard Schmidt
  • Fahrtrichtungsanzeiger,
  • Lautsprecheranlagen (über die auch bei Betriebsstörungen informiert werden kann),
  • Ausreichende Beleuchtung, auch der Zugänge,
  • Liniennetzplan, Tarifinformationen, Stationsumgebungsplan, Stadtplan,
  • mindestens zwei Fahrkartenautomaten, davon einer mit Banknotenannahme),
  • Uhr,
  • Notrufmöglichkeit.

12. Leistungsüberprüfung

Die beauftragten Verkehrsunternehmen haben über die Einhaltung der oben genannten Qualitätskriterien ein umfassendes Berichtswesen zu erstellen, das dem Aufgabenträger quartalsweise vorzulegen ist.

Darüber hinaus sind vom Aufgaben träger stichprobenhafte Leistungsüberprüfungen durch unabhängige Dritte zu veranlassen. Nicht entsprechend den Qualitätsanforderungen oder überhaupt nicht erbrachte Leistungen müssen zu finanziellen Sanktionen für das beauftragte Verkehrsunternehmen führen.

IGEB

aus SIGNAL 1/2000 (Februar/März 2000), Seite 10-12

 

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